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# taz.de -- Prozess gegen mutmaßliche Folterer: 24 beispielhafte Fälle
> In Koblenz beginnt das erste Verfahren gegen zwei mutmaßliche Folterer
> des Assad-Regimes. Die Anklage stützt sich auf Aussagen von Opferzeugen.
Bild: Die Nebenkläger sprechen nach dem ersten Prozesstag im Koblenzer Gericht…
KOBLENZ taz | Jasper Klinge steht vor einem riesigen Fenster, dahinter
Bäume in frischem Grün und ein Himmel, an dem kein Wölkchen zu sehen ist.
Die Frühlingssonne, das merkt man bereits in diesen Vormittagsstunden, wird
einen warmen Tag bringen. Doch als Klinge zu sprechen beginnt, macht sich
drinnen im Saal, wo Klinge vor dem Fenster steht, das Frösteln breit.
Klinge ist Oberstaatsanwalt bei der Bundesanwaltschaft und setzt nun an, um
eine Anklage zu verlesen, die es so noch nicht gab. [1][In Deutschland
nicht und auch nicht weltweit.]
„Ich klage an“, sagt Klinge jetzt und dann spricht er von Verbrechen gegen
die Menschlichkeit, von 58-fachem Mord und Folter in mindestens 4.000
Fällen, von Vergewaltigung und sexueller Nötigung. Erstmals müssen sich
mutmaßliche Folterknechte des Regimes von Syriens Machthaber Baschar
al-Assad vor Gericht verantworten. Hier in Saal 128, Koblenzer
Oberlandesgericht, Staatsschutzsenat.
Auf der anderen Seite des Saals sitzen die beiden Angeklagten. Anwar R.,
57, Brille, grauer Schnäuzer. Der Hauptangeklagte, hält sich aufrecht, auch
als die Kamerateams vor Beginn der Verhandlung filmen dürfen, versteckt er
sich nicht. Eyad A., der 43-jährige Mitangeklagte, hat sich da ganz in
seine Kapuze verhüllt, weil er zudem – als einziger der Prozessbeteiligten
– eine Maske trägt, sieht man von ihm nicht viel, auch als er die
Kopfbedeckung abnehmen muss. Eyad A. steht wegen Beihilfe zu Verbrechen
gegen die Menschlichkeit hier vor Gericht, aber im Vergleich zu Anwar R.
ist er ein kleiner Fisch.
Beide Angeklagte haben, so führt es Bundesanwalt Klinge aus, dem syrischen
Allgemeinen Geheimdienst angehört und waren Teil der berüchtigten Abteilung
251, die für die Sicherheit in Damaskus und der Umgebung zuständig war. Als
es in Syrien 2011 vermehrt zu Kritik am Assad-Regime kam, seien die
syrischen Geheimdienste und das Militär zunehmend brutaler gegen
tatsächliche oder vermeintliche Oppositionelle vorgegangen. Eine Vielzahl
von diesen landete in den Gefängnissen, die von den Geheimdiensten und der
Militärpolizei im ganzen Land betrieben wurden. „In den Hafteinrichtungen
wurden die Insassen durchgängig auf massive Art und Weise gefoltert“, sagt
der Bundesanwalt. Anwar R. hat, so liest Klinge weiter aus der Anklage vor,
in der Abteilung 251 die Ermittlungsabteilung samt einem angeschlossenen
Gefängnis geleitet, das „al-Khatib“ genannt wird und im Zentrum von
Damaskus liegt.
Was Klinge und sein Kollege nun verlesen, ist schwer auszuhalten. 24
einzelne Fälle von Folteropfern führen sie auf, durchnummeriert, einer nach
dem anderen. Laut Anklage sind alle von ihnen geschlagen worden, mit
Schläuchen, Kabeln, Stöcken, Gürteln, manche sogar mit Metallrohren, häufig
auf die Fußsohlen, die besonders empfindlich sind, oder in die Genitalien.
Viele erhielten Elektroschocks. Manche wurden in Autoreifen gezwängt und
dann verprügelt, andere auf einen Stuhl geschnallt, dessen Lehne so weit
nach hinten gebogen wurde, dass der Rücken überstreckte. Gefangene wurden
mit den Händen an der Decke aufgehängt, sodass nur die Zehenspitzen den
Boden berühren. Einer Frau wurde dann an die Brüste und zwischen die Beine
gefasst, einem Mann ein Stock in den After eingeführt. Und alle hörten sie
die Schreie der anderen Gefolterten.
Auch sonst herrschten in al-Khatib unmenschliche und erniedrigende
Bedingungen, führt die Anklage weiter aus: ungenießbares Essen, verweigerte
Körperpflege, keine medizinische Versorgung, nur ein Toilettengang täglich.
Die Zellen sollen so überfüllt gewesen sein, dass kein Platz zum Hinsetzen
oder gar Hinlegen war, die Gefangenen mussten zum Teil im Stehen schlafen.
Anwar R. habe die Befehlsgewalt über die Vernehmungsbeamten gehabt und sei
der militärische Vorgesetzte des Gefängnispersonals gewesen, so heißt es in
der Anklage weiter. In dem Zeitraum zwischen dem 29. April 2011 und 7.
September 2012 seien mindestens 4.000 Häftlinge während der gesamten Dauer
der Inhaftierung gefoltert worden, mindestens 58 Menschen sind, so sagt es
jetzt Klinge, in dieser Zeit an den Folgen der Misshandlungen gestorben.
Anwar R. habe die Beamten eingeteilt und ihren Einsatz überwacht. Er habe
während des gesamten Tatzeitraums über das Ausmaß der Folterungen Bescheid
gewusst auch darüber, dass Häftlinge aufgrund der massiven Gewalt starben.
Sechs Männer sitzen mit ihren Rechtsanwälten in Saal 128 zwischen Anklägern
und Angeklagten, sechs Männer, die diese Qualen in al-Khatib überlebt
haben. Sie haben bei der Bundesanwaltschaft ausgesagt und treten als
Nebenkläger im Prozess auf. Jetzt sitzen sie hier nur wenige Meter von
ihrem mutmaßlich ehemaligen Peiniger entfernt und hören nicht nur von ihrem
eigenen Schicksal, sondern auch von denen vieler anderer. „Es ist
schrecklich, all das zu hören“, sagt Ferras Fayyad, einer von ihnen,
später, als der erste Prozesstag beendet ist. Aber der Prozess sei sehr
wichtig, nicht nur für ihn, [2][sondern für alle Opfer]. „Wir wollen, dass
die Wahrheit hier aufgedeckt wird über die systematische Folter in Syrien,
die auch heute, in diesem Moment, weiter geht“, sagt auch Hussein Ghree,
ein anderer Nebenkläger.
„Wir haben 24 Geschichten über 24 Personen gehört, die schlimmsten
Misshandlungen unter unmenschlichsten Bedingungen“, betont auch
Rechtsanwalt Patrick Kroker, der gemeinsam mit einem Kollegen Ghree und
weitere Nebenkläger vertritt. „Das war sogar für uns schwer erträglich.“…
so wichtiger aber sei es, „dass die beiden Angeklagten sich diese Vorwürfe
im Detail anhören müssen – Geschichte für Geschichte von 24 Menschen, die
für viele, viele mehr stehen“. Kroker ist Syrienexperte des European Center
for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin, das seit Jahren mit
syrischen Anwälten, Zeugen und Überlebenden zusammenarbeitet. Das Center
hat seit 2016 mehrere Strafanzeigen wegen systematischer Folter in Syrien
gestellt – nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen
Ländern.
Bislang blieben Kriegsverbrechen des syrischen Regime unbestraft. Wegen des
russischen Vetos im Weltsicherheitsrat können sie weder vor den
internationalen Strafgerichtshof in Den Haag noch vor ein Sondertribunal
gebracht werden. So bleibt derzeit nur die Verfolgung nach dem
Völkerstrafrecht auf nationaler Ebene.
In Deutschland ist dies möglich, weil hier seit 2002 das sogenannte
Weltrechtsprinzip im deutschen Völkerrechtsstrafgesetz verankert ist.
Seitdem kann die Justiz Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch dann
verfolgen, wenn weder Täter noch Opfer Deutsche sind. Die Verfahren gegen
Anwar R. und seinen Mitangeklagten sind nicht die einzigen. Seit 2014 sind
rund 20 Ermittlungsverfahren gegen ehemalige syrische Regimefunktionäre
eingeleitet worden. Der prominenteste Fall ist Jamil Hassan, der ehemalige
Leiter des syrischen Luftwaffengeheimdienstes, gegen den der
Bundesgerichtshof 2018 einen internationalen Haftbefehl erlassen hat.
Anwar R. will kurz vor Weihnachten 2012 einen erstaunlichen Willenswandel
vollzogen haben. Er setzte sich damals mit seiner Familie nach Jordanien ab
und beriet dann den syrischen Widerstand. Im Sommer 2014 zog er nach
Deutschland, beantragte Asyl und ließ sich im Norden Berlins nieder. Doch
er fühlte sich verfolgt und ging zur Polizei. Den Beamten erzählte er, dass
er sich vom syrischen und russischen Geheimdienst bedroht fühle und auch,
dass er Teil des syrischen Systems gewesen sei. Der Generalbundesanwalt
leitete Ermittlungen ein. Seit Februar vergangenen Jahres sitzt Anwar R. in
Untersuchungshaft.
Zu seiner Schuld hat er sich bislang nicht bekannt. Sein Anwalt hat am
Donnerstag angekündigt, dass R. eine schriftliche Erklärung abgeben will,
nicht nur zu seiner Person, sondern auch zu den Vorwürfen. Möglicherweise
schon in der kommenden Woche. Der Prozess wird am Freitag fortgesetzt.
23 Apr 2020
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## AUTOREN
Sabine am Orde
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