| # taz.de -- Die steile These: Umverteilung? Kein Thema für Grüne | |
| > Grüne wissen, wie wichtig Worte sind. Interessant, worüber sie schweigen: | |
| > Wer wird am Ende für die Krise zahlen? | |
| Bild: Die Grünen kämpfen für viele Themen, aber wenn es um Umverteilung geht… | |
| Die Grünen wissen genau, wie wichtig das Sprechen in der Politik ist. | |
| „Sprache schafft die Welt“, schreibt ihr Vorsitzender Robert Habeck in | |
| seinem Buch „Wer wir sein könnten“. Nur was gesagt werde, könne gedacht | |
| werden. „Was wir aussprechen, wird Wirklichkeit.“ | |
| Dieser richtige Gedanke gilt auch umgekehrt: Was nicht ausgesprochen wird, | |
| findet nicht statt, formt die Welt eben nicht, wird nicht Wirklichkeit. | |
| Nicht zu sprechen heißt im Zweifel, nichts zu tun. | |
| Worüber die Grünen schweigen, gibt also sehr beredt darüber Auskunft, was | |
| ihnen wenig wichtig ist. Die Grünen sprechen in Zeiten des Coronavirus gern | |
| über [1][Eurobonds], über eine Pandemie-Wirtschaft, über die Beschaffung | |
| von Atemschutzmasken. Aber zu einer zentralen Frage schweigen sie: Wer | |
| bezahlt am Ende diese Krise? | |
| Offensichtlich wurde das Schweigen der Grünen, als die SPD-Vorsitzende | |
| Saskia Esken neulich eine krisenbedingte Vermögensabgabe vorschlug. Ihr | |
| Gedanke ist schlicht und einleuchtend: Besonders Wohlhabende sollen eine | |
| einmalige Zahlung leisten, um die finanziellen Folgen der | |
| Anti-Corona-Maßnahmen abzumildern. Esken argumentierte: „Wir werden eine | |
| faire Lastenverteilung brauchen.“ Die SPD-Chefin tat das, was man von der | |
| Vorsitzenden einer progressiven Partei erwarten darf. Sie dachte über den | |
| Tag hinaus, sorgte sich um die Staatsfinanzen und machte einen konkreten | |
| Vorschlag. | |
| ## „Umverteilungsfantasien“ und „Klassenkampfagenda“ | |
| Natürlich ließ der liberalkonservative Shitstorm nicht lange auf sich | |
| warten. „Eine Enteignungsdebatte kostet direkt Arbeitsplätze“, twitterte | |
| FDP-Chef Christian Lindner und tat so, als habe Esken vorgeschlagen, die | |
| komplette deutsche Industrie zu verstaatlichen. Wer jetzt die Steuerkeule | |
| auspacke, säe Zwietracht, empörte sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung. | |
| Auf Twitter hagelte es Beschimpfungen, Esken wurden | |
| „Umverteilungsfantasien“ und eine „Klassenkampfagenda“ vorgeworfen. | |
| Eigentlich hätten sich die Grünen solidarisch an die Seite Eskens stellen | |
| müssen. Sie hätten gute Argumente gehabt. Diese Krise kostet die | |
| SteuerzahlerInnen Hunderte Milliarden Euro. Wie viel es am Ende wird, weiß | |
| noch keiner. Warum sollten mehrfache Milliardäre, deren Firmen gerade vom | |
| Staat mit Konjunkturpaketen abgesichert werden, nicht später eine | |
| Vermögensabgabe zahlen? Die Frage der Lastenverteilung wird zentral werden, | |
| spätestens für die nächste Bundesregierung, in der die Grünen sitzen | |
| wollen. | |
| Sagen, was ist. Diesen Satz Rudolf Augsteins hätten die Grünen mit Blick | |
| auf die grotesk ungleiche Vermögensverteilung in Deutschland beherzigen | |
| können. Sie sind schließlich für faire Steuerpolitik, zumindest auf dem | |
| Papier. Sie treten in ihrem Programm für eine Vermögensteuer ein, also eine | |
| dauerhafte Abgabe für sehr reiche Menschen. | |
| Und sie warben im Wahlkampf 2013 ausdrücklich für eine Vermögensabgabe, um | |
| Maßnahmen zur Bankenrettung zu finanzieren, für die sich der Staat in den | |
| Jahren davor verschuldet hatte. Eine befristete Krisenfinanzierung ist also | |
| eine urgrüne Idee, Esken hat sie nur wiederholt. | |
| ## In dieser Frage ist kein Verlass auf die Grünen | |
| Und was taten sie? Jürgen Trittin fightete wacker an der Seite der | |
| Sozialdemokratin, immerhin. Aus der engeren Führung meldete sich nur | |
| Fraktionschef Anton Hofreiter zu Wort – mit einem Ablenkungsmanöver. Wenn | |
| Esken tatsächlich etwas für eine solidarische Lösung bewegen wolle, solle | |
| sie Finanzminister Olaf Scholz dazu bringen, den Weg für europäische | |
| Coronabonds frei zu machen. Frei übersetzt: „Vermögensabgabe?! Schaut mal | |
| dort hinten, ein weißer Elefant!“ | |
| Der Rest der Grünen schwieg, Robert Habeck und Annalena Baerbock | |
| eingeschlossen. Sie haben, um Habecks Buchtitel aufzunehmen, nicht gezeigt, | |
| wer sie sein können – sondern wer sie sind. | |
| WählerInnen, denen eine faire Reichtumsverteilung am Herzen liegt, sollten | |
| sich das merken. Die Grünen kämpfen engagiert für viele Themen, aber in | |
| dieser Frage ist auf sie kein Verlass. Sie sind wie der großmäulige Kumpel, | |
| der sich genau dann aus dem Staub macht, wenn die Schulhofmobber um die | |
| Ecke kommen. Es sei nicht der richtige Zeitpunkt für Steuerdebatten, sagen | |
| Grüne hinter vorgehaltener Hand. Wenn der Dachstuhl brenne, rede man ja | |
| auch nicht darüber, wer das Löschwasser bezahle. Mag sein, dass Eskens | |
| Timing nicht optimal war. | |
| Das Problem ist nur: Die Grünen-Spitze redet eigentlich nie konkret über | |
| Abgaben für Reiche. Als Juso-Chef Kevin Kühnert im Mai 2019 ein paar | |
| Gedanken zu Vergemeinschaftungen äußerte, bügelten ihn Grüne öffentlich ab. | |
| Als sich die SPD wenig später zur Vermögensteuer bekannte, wich Habeck | |
| lieber aus, statt den Schwenk zu begrüßen. Das Schweigen zu | |
| [2][Verteilungsfragen] ist eine strategische Entscheidung. | |
| Kaum etwas ist bei Konservativen, Liberalen und mächtigen | |
| Wirtschaftsverbänden so verhasst wie Vermögensteuern. Nicht nur, weil sie | |
| schwerreiche Unternehmerdynastien beträfen, sondern auch, weil sie das | |
| Vermögen der reichsten Deutschen transparent machen würden. Während | |
| Hartz-IV-BezieherInnen ihre Verhältnisse gegenüber Behörden offenlegen | |
| müssen, haben sich die Superreichen in eine verschattete Parallelwelt | |
| zurückgezogen. Über ihre Besitztümer weiß man so gut wie nichts. | |
| Ein Politiker, der oder die in Deutschland „Vermögensabgabe“ sagt, muss | |
| sich auf Konfrontation einstellen. Auf Kampf, Kampagnen und Diffamierungen. | |
| Das Werben für etwas gleichere Verhältnisse wird als Sozialismus diffamiert | |
| und mit dem bösen Gefühl des Neids in Verbindung gebracht. | |
| Die Grünen von heute aber wollen geliebt werden, mehrheitsfähig sein, alle | |
| bei der ökosozialen Wende mitnehmen, irgendwie. Auch die Klattens und | |
| Quandts der Republik. Umverteilung ist in der Denkwelt führender Grüner ein | |
| Unthema, eines, das noch im Programm steht, über das aber geschwiegen | |
| werden muss. | |
| ## Etwas mehr Gleichheit wäre im grünen Sinne | |
| Strategisch ist dieser Reflex durchaus nachvollziehbar, intellektuell | |
| redlich ist er nicht. Studien von Sozialforschern zeigen, dass die Menschen | |
| in Gesellschaften mit einer weniger schroffen Spaltung in oben und unten | |
| glücklicher sind. Sie werden älter, sind gesünder und weniger oft | |
| kriminell. Etwas mehr Gleichheit wäre also sehr im grünen Sinne. Die Grünen | |
| werben für Entwicklungspolitik und eine gerechte Globalisierung. Darf, wer | |
| weltweite Ungleichheit geißelt, die Spaltung im eigenen Land ignorieren? | |
| Schon bald werden sich alle Parteien mit den Kosten für die Coronakrise | |
| beschäftigen müssen. Wenn die Staatsverschuldung steigt, gibt es nicht | |
| viele Alternativen zu Steuererhöhungen. Sollen vor allem die | |
| Niedrigverdiener belastet werden, etwa durch eine höhere Mehrwertsteuer? | |
| Oder doch wenige sehr, sehr Wohlhabende? | |
| Natürlich könnte eine kommende Regierung ersatzweise den Sozialstaat | |
| zusammenstreichen, um Geld zu sparen. Oder gleich auf eine Inflation | |
| hoffen. Kurz: Man darf jetzt schon gespannt sein auf den finanzpolitischen | |
| Teil schwarz-grüner Koalitionsverhandlungen. | |
| Sprache, wir erinnern uns, schafft Wirklichkeit. Die Grünen sorgen mit | |
| ihrem Schweigen dafür, dass eine naheliegende Antwort ausfällt. Sie tragen | |
| dazu bei, dass eine politische Idee stirbt, nämlich die einer gerechteren | |
| Verteilung. | |
| 13 Apr 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Eurobonds-Debatte-in-Coronakrise/!5674598 | |
| [2] /Debatte-der-Gruenen-um-Steuerplaene/!5317624 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Schulte | |
| ## TAGS | |
| Reichensteuer | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Ungleichheit | |
| Bündnis 90/Die Grünen | |
| Robert Habeck | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Steuern | |
| Kleiner Parteitag | |
| Annalena Baerbock | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Fußball | |
| EU-Finanzpolitik | |
| EU-Finanzpolitik | |
| Annalena Baerbock | |
| Schulden | |
| Lesestück Interview | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Vermögensteuer-Politik der Grünen: Irgendwie dafür, aber nicht zu sehr | |
| Die Grünen ringen intern, welche Rolle das Thema Ungleichheit im Wahlkampf | |
| spielen soll. SPD und Linke sind da mutiger. | |
| Parteitag der Grünen: Comeback des Grundeinkommens | |
| Die Grünen beschließen auf einem digitalen Parteitag ihr neues | |
| Grundsatzprogramm. Bekennen sie sich zu einem bedingungslosen | |
| Grundeinkommen? | |
| Grüne und Investitionen: Wird Habeck Finanzminister? | |
| Bei den Grünen gibt es Überlegungen, in einer Koalition 2021 das | |
| Finanzministerium zu beanspruchen. Anders sei die eigene Agenda nicht | |
| durchzusetzen. | |
| Vermögensabgabe in der Pandemie: Adenauer hat's vorgemacht | |
| Die Linke-Fraktion will Superreiche in der Coronakrise zur Kasse bitten. | |
| Vorbild ist der Lastenausgleich nach dem Zweiten Weltkrieg. | |
| 300 Euro Soforthilfe aus Konjunkturpaket: Warum eigentlich nicht immer? | |
| Das Konjunkturpaket beinhaltet einen Bonus, der vor allem Familien mit | |
| niedrigem und mittlerem Einkommen nützt – und der Wirtschaft. | |
| Debatte um Coronakosten: Das Virus, der soziale Spaltpilz | |
| Die Grundrente wackelt und Altmaier will weniger Steuern für Firmen. Das | |
| droht soziale Ungleichheit zu verstärken. | |
| Grüner Länderrat ganz virtuell: Der Applaus fällt aus | |
| Erstmalig veranstalten die Grünen ihren kleinen Parteitag rein digital. Die | |
| Partei freut sich über das gelungene Experiment. Aber es hat Macken. | |
| Vor Grünen-Parteitag zu Corona: Novum in der Krise | |
| Die Grünen organisieren einen komplett digitalen Parteitag. Sie fordern | |
| Milliardeninvestitionen und schweigen lieber zur Vermögensteuer. | |
| Die Grünen und Corona: Merkels Mikrowelle | |
| Ernsthafte Klima- und neue EU-Politik hat noch gar nicht begonnen. Warum | |
| wird jetzt das Ende der „Grünen Ära“ beschworen, obwohl es sie nie gab? | |
| Die steile These: Lasst die Geisterspiele beginnen! | |
| Beim Fußball geht es um Emotionen, aber vor allem um Profit. Geisterspiele, | |
| ohne Zuschauer*innen sind da nur konsequent. | |
| 500 Milliarden Euro für Europa: Das Geld wird nicht reichen | |
| Wieso Italien und Spanien Hilfe brauchen und warum es dennoch keine | |
| Coronabonds gibt. Zehn Fragen und Antworten zur EU-Finanzpolitik. | |
| Coronapaket der EU-Finanzminister: „Eurobonds“ tauchen nicht auf | |
| Im Vergleich zu den deutschen Wirtschaftshilfen ist das Coronaprogramm der | |
| EU bescheiden. Aber: Es gibt eine Einigung – und auch einen Lichtblick. | |
| Grüne und das Corona-Virus: Die Krisenverlierer | |
| Merkels CDU legt in Umfragen zu, die Grünen rutschen ab. Kaum einer | |
| interessiert sich noch für Klimaschutz. Bricht Corona die grüne Welle? | |
| Faire Hilfen in der Pandemie: Geld ist nicht knapp | |
| In der Coronakrise wird oft ein „Lastenausgleich“ wie 1952 gefordert. Doch | |
| die Nachkriegszeit taugt nicht als Vorbild. Der Staat muss Schulden machen. | |
| Grünen- und Verdi-Chef im Interview: „Ökologie braucht Mehrheiten“ | |
| Erreichen die Grünen nur die Gutverdiener oder auch Arbeiter? Ein Gespräch | |
| mit Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter und Verdi-Chef Frank Werneke. |