# taz.de -- Vor Grünen-Parteitag zu Corona: Novum in der Krise | |
> Die Grünen organisieren einen komplett digitalen Parteitag. Sie fordern | |
> Milliardeninvestitionen und schweigen lieber zur Vermögensteuer. | |
Bild: Das Grünen-Chefduo Baerbock und Habeck will die „neue Mitte“ sein (a… | |
BERLIN taz | Die Premiere, die die Grünen gerade vorbereiten, könnte | |
interessante Erkenntnisse menschlicher Natur produzieren: Wie sieht es in | |
Winfried Kretschmanns Wohnzimmer aus? Lässt es sich digital genauso gut | |
diskutieren wie im realen Leben? Wie applaudiert man in einer Videoschalte, | |
gehen Standing Ovations eigentlich auch zu Hause in der Küche? Nun, am | |
Samstagabend wird man schlauer sein. | |
Die Grünen organisieren einen Länderrat, einen kleinen Parteitag also, den | |
sie aus gegebenem Anlass komplett ins Digitale verlegen. Sie verfolgen | |
damit vor allem zwei Ziele: Zum einen möchten sie ihren Kurs in der | |
Coronakrise abstimmen, die Parteichef Robert Habeck als „Beschleuniger“ | |
sieht. Krisen verstärkten Tendenzen, die es schon vorher in der | |
Gesellschaft gegeben habe, sagte er am Dienstag, als er den Leitantrag mit | |
der Co-Vorsitzenden Annalena Baerbock vorstellte. „Die Debattenhärte wird | |
zunehmen.“ Angesichts dessen, sagte Habeck, brauche es „ein neues Zentrum, | |
eine neue Mitte“. | |
Diese Mitte wollen die Grünen sein. Für sie geht es [1][angesichts | |
sinkender Umfragewerte] auch darum, sich in den Medien stärker Gehör zu | |
verschaffen, nachdem der Fokus in den vergangenen Wochen vor allem auf dem | |
Regierungshandeln lag. | |
Das Prozedere ist bemerkenswert, „auf Bundesebene ein Novum“, wie | |
Bundesgeschäftsführer Michael Kellner betonte. Knapp über hundert | |
Delegierte, dazu Gäste und JournalistInnen, werden am 2. Mai digital | |
zusammengeschaltet, das Ganze wird in einem Livestream übertragen. Für | |
Medienvertreter gibt es einen digitalen Presseraum, Redeplätze werden | |
online gelost. | |
## Reden von der Couch aus | |
„Für uns ist das ein Experiment, auf das ich mich freue“, sagte Kellner. Er | |
erwarte eine konzentrierte, ruhige Atmosphäre, aber auch Herausforderungen | |
für die RednerInnen. „Sie sitzen zu Hause auf der Couch und sprechen in ihr | |
Smartphone, ohne direktes Feedback vom Publikum zu bekommen“, sagte | |
Kellner. „Der Applaus, die Stimmung im Saal, das wird fehlen.“ | |
Wie üblich bei Parteitagen haben die Grünen teils prominente Gäste | |
eingeladen. So wird zum Beispiel der ehemalige EU-Kommissionspräsident | |
Jean-Claude Juncker über die Lage der EU und Solidarität in der Krise | |
sprechen. Der Soziologe und Bestsellerautor Aladin El-Mafaalani ist dabei, | |
ebenso Patrick Graichen von dem Thinktank Agora Energiewende. Große | |
Streitigkeiten, das zeichnet sich jetzt schon ab, sind nicht zu erwarten. | |
Die Grünen sind sich bei der Krisenbewältigung weitgehend einig. | |
Baerbock und Habeck setzen auf eine doppelte Erzählung. Sie wollen | |
besonders hart Betroffene schützen und die ökosoziale Erneuerung | |
vorantreiben. Es gehe um ein „neues gesellschaftlichen | |
Sicherheitsversprechen“, sagte Habeck. Baerbock betonte: „Wir sind auf | |
massiv dünnem Eis.“ Die Grünen sprächen sich nur für schrittweise | |
Lockerungen der restriktiven Kontaktbeschränkungen aus, jede Maßnahme müsse | |
mit Forschung begleitet werden. | |
Die Ideen der Grünen sind ein bunter Mix aus neuen und alten Ideen: So | |
wollen sie zum Beispiel Kauf-vor-Ort-Gutscheine in Höhe von 250 Euro an | |
alle BürgerInnen verteilen, um den lokalen Einzelhandel und kleine | |
Gastronomiebetriebe zu stärken. Sie möchten das Kurzarbeitergeld erhöhen | |
und einen Fonds für geschlossene Kultureinrichtungen einrichten. | |
## Dreistellige Milliardenbeträge | |
Baerbock liegt besonders das Schicksal von Eltern und Kindern am Herzen. | |
Die Grünen fordern ein Corona-Elterngeld für Menschen, die wegen der | |
Betreuung ihrer kleinen Kinder zu Hause nicht arbeiten können. Und sie | |
wollen die Regelsätze für Hartz-IV-BezieherInnen krisenbedingt erhöhen. | |
Eine solche Forderung gehörte schon vor Corona zum Repertoire der Partei. | |
Die Pläne der Grünen würden den Staat dreistellige Milliardenbeträge | |
kosten. Allein für dieses Jahr planen sie ein Konjunktur-Sofortprogramm von | |
rund 100 Milliarden Euro. Langfristige Hilfen wollen sie an ökologische | |
Vorgaben knüpfen, zum Beispiel eine Minderung des Ausstoßes von | |
Treibhausgasen. All dies wollen die Grünen vor allem über neue Schulden | |
finanzieren. Die Schuldenbremse müsse reformiert werden, um mehr | |
Investitionen zu ermöglichen, heißt es in dem Leitantrag. | |
Schon vor der Coronakrise hatten sich die Grünen auf eine Lockerung der | |
Schuldenbremse verständigt. Sie wollten dem Staat künftig statt eines | |
Defizits von 0,35 ein Minus von 1 Prozent erlauben. Aber nur solange | |
Deutschland gemäß den Maastricht-Regeln die Schuldenquote unter 60 Prozent | |
hält und die Schulden für Investitionen eingesetzt werden. Habeck machte | |
deutlich, dass er diesen Grünen-Beschluss für veraltet hält: „Die alte | |
Beschlusslage wird sicherlich […] überarbeitet werden müssen.“ | |
Dies dürfte angesichts der deutschen Fixierung auf Schuldenabbau für | |
Diskussionen sorgen – auch in einer möglichen schwarz-grünen Koalition nach | |
der nächsten Bundestagswahl. [2][Bei einem anderen wichtigen Thema bleiben | |
die Grünen allerdings lieber in Deckung.] Obwohl sie in ihrem Programm | |
explizit für eine Vermögensteuer eintreten, schlägt der Leitantrag dem | |
Parteitag nur eine vage Formulierung zur Lastenverteilung vor. | |
## Zu konfrontativ für die „neue Mitte“ | |
Es brauche zur Tilgung der Schulden einen solidarischen Ausgleich, heißt es | |
dort. „Wer starke Schultern hat, kann mehr tragen.“ Mal abgesehen davon, | |
dass man von Baerbock und Habeck schon originellere Metaphern gehört hat: | |
Diffuser geht es kaum. Unklar bleibt nicht nur, wer diese starken Schultern | |
besitzt, sondern auch, mit welchem Konzept und wie hoch sie belastet werden | |
sollen. | |
Habeck und Baerbock wollen eine steuerpolitische Auseinandersetzung | |
unbedingt vermeiden. Bei den Grünen gehen die Meinungen über die | |
Sinnhaftigkeit einer Vermögenssteuer auseinander. Und bei CDU, CSU und | |
mächtigen Wirtschaftsverbänden wird sie geradezu gehasst. Eine solche | |
Steuer laut zu fordern, wäre dann doch zu konfrontativ für die grüne | |
Strategie der neuen Mitte. | |
28 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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