| # taz.de -- Justizreform in Polen: Herber Rückschlag | |
| > EU-Gericht stoppt mit einer einstweiligen Anordnung die Arbeit der | |
| > Disziplinarkammer für Richter. Polens Premier will das jetzt prüfen | |
| > lassen. | |
| Bild: Protest gegen die polnische Justizreform 2018 in Warschau | |
| Freiburg/Warschau taz | Der [1][Europäische Gerichtshof (EuGH)] zeigt seine | |
| Zähne. In einer Eilentscheidung ordnete der EU-Gerichtshof an, dass die | |
| umstrittene polnische Disziplinarkammer für Richter bis auf Weiteres ihre | |
| Arbeit einstellen muss. Das endgültige Urteil in dieser Sache wird aber | |
| wohl erst in rund einem Jahr verkündet. | |
| Die Reaktionen aus Warschau ließen nicht lange auf sich warten. | |
| Regierungschef Mateusz Morawiecki will Zeit gewinnen und das polnische | |
| Verfassungsgericht anrufen: „Wir werden auf alle Fälle eine Anfrage in | |
| dieser Sache an den Verfassungsgerichtshof richten, der die höchste | |
| Berufungsinstanz ist“, sagte er der Agentur PAP zufolge. | |
| Es gehe um die Frage, „inwieweit eine Institution wie der EuGH einstweilige | |
| Verfügungen wie diejenige, die wir heute erhalten haben, erlassen darf“, | |
| sagte der PiS-Politiker. Auch in der Vergangenheit hatten Polens | |
| Nationalpopulisten immer wieder bis zum letzten Tag einer Frist gewartet | |
| und dann behauptet, mehr Zeit für ihre Antwort zu brauchen. In diesem Fall | |
| geht es um die Neuwahl des Präsidenten des Obersten Gerichts nach dem 30. | |
| April, wenn die Amtszeit von Malgorzata Gersdorf ausläuft. | |
| Der EuGH „verletzt die Souveränität Polens“, schnaubte hingegen Polens | |
| Vize-Justizminister Sebastian Kaleta in das Mikrophon eines privaten | |
| Radiosenders. Die einstweilige Anordnung stehe „außerhalb der Kompetenzen, | |
| die der EU zugestanden wurden“. Die EU dürfe die Verfassungsorgane der | |
| Mitgliedsstaaten nicht bewerten. | |
| ## Mehrere Möglichkeiten durchspielen | |
| Anna Dalkowska, auch sie Vize-Justizministerin, wies auf einen Punkt hin, | |
| der für die PiS besonders wichtig ist: „Der EuGH hat weder die Kompetenzen | |
| der Disziplinarkammer aufgehoben, wenn es um andere juristische Berufe als | |
| Richter geht, noch den Status der Richter in der Kammer angezweifelt. Das | |
| bedeutet, dass diese Richter an der Wahl des neuen Präsidenten des Obersten | |
| Gerichts teilnehmen können.“ Das Justizministerium werde in den nächsten | |
| Tagen mehrere Antwortmöglichkeiten durchspielen und sich dann für eine | |
| entscheiden. | |
| Die PiS regiert seit 2015 und versucht, die Justiz unter ihre Kontrolle zu | |
| bringen. So wurde 2017 beim Obersten Gericht eine Disziplinarkammer | |
| gebildet, die jeden polnischen Richter entlassen könnte. Auch der Inhalt | |
| von Gerichtsentscheidungen kann als Disziplinarvergehen gewertet werden. | |
| Die EU-Kommission hat Polen deshalb im Oktober 2019 beim EuGH verklagt. | |
| Hauptvorwurf ist, dass die Richter der Disziplinarkammer nicht unabhängig | |
| sind. Sie seien vom polnischen Justizverwaltungsrat ausgewählt worden, der | |
| seit den PiS-Justizreformen regierungsnah ist. | |
| Die Schaffung der Disziplinarkammer bedrohe die Unabhängigkeit der gesamten | |
| polnischen Justiz bis hin zum Obersten Gerichtshof, weil diese wegen | |
| unbequemer Urteile mit persönlichen Sanktionen rechnen müsse. | |
| ## Keine vollendeten Tatsachen | |
| Einige Wochen später beantragte die EU-Kommission zusätzlich noch eine | |
| einstweilige Anordnung. Die Arbeit der Disziplinarkommission sollte schon | |
| vor dem endgültigen Urteil gestoppt werden, damit keine vollendeten | |
| Tatsachen geschaffen werden. Über diesen Antrag hatte der EuGH Anfang März | |
| in Luxemburg verhandelt. Dabei wurde die Kommission nur von fünf | |
| Mitgliedsstaaten ausdrücklich unterstützt: Belgien, Niederlande, Dänemark, | |
| Finnland und Schweden. Die anderen zwanzig EU-Staaten blieben neutral. | |
| An diesem Mittwoch erließ die Große Kammer des EuGH die beantragte | |
| Eil-Anordnung. Die Vorwürfe der Kommission seien „dem ersten Anschein nach“ | |
| gerechtfertigt, so der EuGH. Die Sache sei auch dringend, denn es drohe | |
| „großer Schaden“ für die Rechtsstaatlichkeit in Polen. | |
| Die Anordnung greife zudem nicht übermäßig in die Justizorganisation Polens | |
| ein, da nicht die Auflösung der Disziplinarkammer gefordert wird, sondern | |
| nur ein Ruhen ihrer Arbeit bis zum Endurteil des EuGH. | |
| Der EuGH hatte sich im November 2019 schon einmal mit der Disziplinarkammer | |
| beschäftigt. Damals hatte das Oberste Gericht Polens angefragt, ob die | |
| Disziplinarkammer und der Justizverwaltungsrat unabhängig seien. Der EuGH | |
| stellte dann aber nur allgemeine Maßstäbe auf und überließ deren Anwendung | |
| dem Obersten Gericht Polens. | |
| ## Rund 550 Richter betroffen | |
| Das Oberste Gericht Polens stellte daraufhin Anfang Dezember selbst fest, | |
| dass die Disziplinarkammer nach EU-Maßstäben nicht unabhängig ist. Im | |
| Januar 2020 erklärten die noch unabhängigen Kammern des Obersten Gerichts, | |
| dass sämtliche Richter, die der Justizverwaltungsrat seit Anfang 2018 | |
| Polens Präsidenten zur Ernennung vorgeschlagen hat, keine unabhängigen | |
| Richter seien und nicht urteilen dürften. Dies betraf rund 550 Richter. | |
| Die polnische Regierung konterte mit einem Gesetz, das unabhängige Richter | |
| als [2][„Maulkorb“-Gesetz] bezeichnen. Es verbietet polnischen Richtern die | |
| Rechtmäßigkeit der Berufung anderer Richter in Frage zu stellen. Bei | |
| Verstößen drohen Sanktionen bis zur Entfernung aus dem Amt. Die | |
| EU-Kommission hatte sich zwar besorgt über das Maulkorb-Gesetz geäußert, in | |
| dieser Sache aber noch kein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen | |
| angestrengt. | |
| 8 Apr 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Christian Rath | |
| Gabriele Lesser | |
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