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# taz.de -- Arabische Proteste machen Corona-Pause: Die Straße wartet
> Die Massenproteste in Algerien, Irak und Libanon pausieren wegen Corona.
> Aber die Protestbewegungen wollen weitermachen, sobald es geht.
Bild: Leere Straße in Baghdad: Nach der Coronakrise soll es sich hier wieder f…
Kairo/Beirut/Tunis taz | Monatelang sind in der arabischen Welt
Demonstranten gegen Misswirtschaft und Korruption auf die Straße gegangen –
im [1][Sudan], dann in [2][Algerien], [3][Libanon] und Irak. Teils gelang
sogar der Umsturz.
Da ist für manch bedrängtes Regime die Coronapandemie jetzt fast ein
Rettungsanker. Die meisten Demonstranten sind nach Hause gegangen, in
vielen Ländern herrscht Corona-Ausgangssperre.
Auf dem Tahrirplatz in Bagdad, dem [4][Zentrum der Proteste im Irak], gaben
sich die Demonstranten Anfang März noch trotzig. „Unsere Regierung ist eine
größere Epidemie als das Coronavirus, deswegen demonstrieren wir weiter“,
hieß es. „Trotz Corona werden wir erst nach Hause gehen, wenn unsere
Forderungen erfüllt sind“, gab der junge Demonstrant Ahmad Hussein damals
die Stimmung wieder. Mit 700 Toten bei Auseinandersetzungen zwischen
Demonstranten und Sicherheitskräften seit Oktober schien das Coronavirus
zunächst das kleinere Übel.
Seitdem hat der Coronaschrecken aber auch im Irak zugenommen, auch weil
der benachbarte Iran einer der weltweit größten Epidemieherde ist. Am 17.
März verhängte Iraks Regierung eine ganztägige Ausgangsperre.
## Coronakrise schafft neue Aufgabenfelder für die Bewegung
„Aber es gibt noch einige Demonstranten in den Protestzelten auf dem
Tahrirplatz. Es sind nicht viele und sie halten sich meist in den Zelten
auf“, erzählt am Telefon Shorouk al-Abaji, Vorsitzende der „Nationalen
Zivilbewegung“, einer der Koordinationsgruppen der Protestbewegung.
„Sie versuchen auch den Ort und die Zugänge zu desinfizieren. Das Material
dazu wird gespendet. Aber das ist alles nicht einfach, da wegen der
Ausgangssperre kaum jemand Neues auf den Platz kommen kann. Auch die
Versorgung mit Nahrungsmitteln ist schwierig.“
Die Regierung versuche die Situation auszunutzen, meint Shorouk, die in
Wien Bauingenieurwesen studiert hat. Die Sicherheitskräfte hätten in den
letzten Tagen zweimal versucht, den Platz zu räumen, aber die Demonstranten
hätten sie abgewehrt. „Der Tahrirplatz bleibt in den Händen der
Demonstranten. Trotz der geringen Zahl der Protestierenden, die noch dort
sind, bleibt der Platz ein Symbol für das Durchhaltevermögen des
Aufstands“, sagt sie trotzig.
Mit der Coronaepidemie hätten die jungen Protestierenden sogar ein neues
Aufgabenfeld gefunden, schildert Shorouk. „Die Menschen auf dem Tahrir
organisieren Kampagnen in den sozialen Medien, um Bewusstsein zu schaffen,
wie man sich vor dem Coronavirus schützt. Sie arbeiten vor allem daran, den
Menschen in den Armenvierten beizubringen, wie sie saubermachen und alles
desinfizieren. Sie haben begonnen, Sammlungen für die Familien derer zu
organisieren, die wegen der Ausgangssperre ihre Arbeit verloren haben:
Straßenhändler, Taxifahrer und viele Tagelöhner in den Armenvierteln.“
## Libanon: „Unsere Probleme sind dieselben, unsere Forderungen auch“
Eine ähnliche Veränderung ist in Libanons Hauptstadt Beirut zu beobachten.
Seit 15. März befindet sich das Land im Corona-Lockdown. Die Grenzen sind
geschlossen, Schulen, Universitäten, Restaurants und Bars dicht,
Kulturveranstaltungen abgesagt. Auf die Straße gehen darf nur noch, wer
Lebensmittel, Medizin oder Benzin benötigt. Wer joggt oder spaziert,
bekommt einen Strafzettel vom Militär. Soldaten laufen die Straßen ab, um
Menschen nach Hause zu schicken. „Bitte bleiben Sie zu Hause. Es geht um
Ihre Gesundheit“, dröhnt es verzerrt aus dem Militärhubschrauber, der am
strahlend blauen Himmel über Beirut fliegt.
Vor fünf Monaten standen den Sicherheitskräften noch Tausende Menschen
gegenüber. Sie bildeten Menschenketten und sperrten die Straßen mit
Sitzblockaden, sie zwangen die Regierung zum Rücktritt. Doch nun fehlt der
Raum für öffentlichen Protest. „Natürlich haben die Revolutionäre ihre
Aktivitäten eingestellt, um die Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern“,
sagt Nivin Hashisho, eine linke Aktivistin in Saida. In der
südlibanesischen Stadt stehen noch immer Stühle, Tische und eine Bühne auf
dem nun unbelebten Protestplatz.
Der Fokus liegt nun auf der Notversorgung: „Jeden Tag kochen wir
Mittagessen und spenden es an arme Familien“, erzählt Hashisho. Im ganzen
Land ergreifen Freiwillige die Initiative, sammeln Spenden für Bedürftige,
messen Fieber an Stadteingängen oder verteilen Desinfektionsmittel.
Doch Hashisho bleibt kämpferisch: „Der Rückzug von den Straßen heißt nich…
dass unsere Probleme gelöst sind. Unsere Probleme sind noch immer dieselben
und unsere Forderungen auch.“ Das zeigt sich vor allem an den wenigen
Menschen, die noch immer lautstark protestieren: Taxifahrer:innen, denen
Einnahmen fehlen; Gefängnisinsassen, die mit Hungerstreiks auf die
schlechten Haftbedingungen aufmerksam machen. In Tripoli gingen Menschen
auf die Straße, um gegen die Ausgangssperre zu protestieren. Eine Frau rief
den Militärs zu: „Wir hungern, wir wollen essen!“
## Algerien: Verzwickte Lage für Bewegung und Regierung
Die Proteste machen Pause, die Gründe für die Proteste bleiben – so stellt
sich die Lage auch in Algerien dar, wo die Protestbewegung gegen die
etablierte Staatsführung bereits mehr als ein Jahr alt ist und das Land in
heftige Turbulenzen gestürzt hat. Erst letzte Woche hat die Protestbewegung
„Hirak“ ihre allwöchentlichen friedlichen Massendemonstrationen eingestellt
und damit ihr wirkungsvollstes Druckmittel gegen die herrschende Elite auf
Eis gelegt. Erstmals seit 57 Wochen herrscht jetzt gähnende Leere auf
Algeriens Straßen.
Doch am Dienstag wurde Algeriens Linkspolitiker Karim Tabbou in einem
unangekündigten Berufungsprozess zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.
Eigentlich hätte er am Donnerstag nach dem Absitzen einer sechsmonatigen
Haftstrafe entlassen werden sollen. Seine Anwälte wurden über das
Berufungsverfahren nicht einmal informiert.
Die Protestbewegung wertet das Urteil als Provokation. Nun mehren sich
Aufrufe, die Proteste am Freitag doch wieder aufzunehmen, während andere
genau davor warnen: Man drohe geradewegs in eine Falle zu laufen,
schließlich lauere die Staatsführung nur darauf, der Bewegung vorwerfen zu
können, durch die Proteste die Ausbreitung des Coronavirus zu befördern.
Protestbewegung und Regierung in Algerien stecken dabei gleichermaßen in
einer verzwickten Lage. Ende Februar schon wurde Algeriens erster
Corona-Infektionsfall bestätigt, doch die Hirak-Bewegung mobilisierte
munter weiter und reagierte mit Sarkasmus: „Weder Coronavirus noch Cholera
werden uns stoppen“ oder „Corona macht uns keine Angst, wir sind im Elend
aufgewachsen“, hallte es noch vor zwei Wochen durch die Straßen Algiers.
Kurz darauf aber stiegen die Infektionsfälle massiv an.
## Sollte die Pandemie hart zuschlagen, werden die Proteste umso größer
Inzwischen gilt auch in Algerien ein landesweites Versammlungsverbot.
Grenzen, Märkte und Moscheen sind geschlossen. Die Akivist*innenszene
mobilisiert derweil weiter – im Internet. Sie ruft dazu auf, den
Krankenhäusern mit Geld- und Sachspenden unter die Arme zu greifen.
Denn die Behauptung der Regierung, die Versorgung der Krankenhäuser sei
sichergestellt, könnte nach hinten losgehen. Bereits jetzt mangelt es den
Kliniken an Schutzmasken, Desinfektionsmitteln und Beatmungsgeräten. Selbst
Patienten mit Covid-19-Symptomen werden nach Hause geschickt.
Sollte die Pandemie Algerien tatsächlich hart treffen und das
gesundheitspolitische Versagen der Regierung in einem Desaster enden,
dürften die Proteste in einigen Wochen umso heftiger wieder aufflammen.
Im Libanon verschärft der Corona-Lockdown derweil die wirtschaftliche
Notlage. Tausende Menschen haben ihre Arbeit verloren, die lokale Währung
verfällt. Nun schließen Banken ihre Filialen. Geschäfte werden
pleitegehen. „Nachdem die Coronakrise vorüber ist, werden wir sofort
wieder auf die Straße gehen“, ist sich Aktivistin Hashisho sicher. „Uns
bleibt keine andere Wahl.“
Und auch im Irak ist sich Aktivistin Shorouk sicher: „Die Menschen werden
wieder massiv auf den Straßen demonstrieren, sobald diese Epidemie vorüber
ist.“ Diejenigen in Bagdad, die weiter auf dem Tahrirplatz ausharren,
schicken unterdessen auf den sozialen Medien eine klare Videobotschaft an
ihre Anhänger: „Wir bleiben für euch auf dem Tahrirplatz – bleibt ihr für
uns zu Hause.“
27 Mar 2020
## LINKS
[1] /Ein-Jahr-nach-Beginn-der-Massenproteste/!5648565
[2] /Ein-Jahr-Aufstand-in-Algerien/!5661413
[3] /Regierungsbildung-im-Libanon/!5663333
[4] /Protestbewegung-im-Irak/!5656703
## AUTOREN
Karim el-Gawhary
Julia Neumann
Sofian Philip Naceur
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