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# taz.de -- Ein Jahr Aufstand in Algerien: Zähe Opposition, zähes Regime
> Die Protestbewegung in Algerien lässt nicht locker und setzt die
> Staatsführung weiter unter Druck. Doch auch das Regime ist
> widerstandsfähig.
Bild: Mit Faust und Flagge für den Wandel: Demonstrant*innen in Algier (Dezemb…
Tunis taz | Es waren denkwürdige Szenen, die sich vor genau einem Jahr in
der Stadt Khenchela abspielten – Szenen, die einen Vorgeschmack darauf
gaben, was sich in den folgenden Wochen in Algerien ereignen sollte.
Hunderte Menschen zogen an jenem 19. Februar vor das Kommunalparlament der
ostalgerischen Stadt und forderten lauthals, ein überdimensionales Banner
mit dem Konterfei des damals amtierenden Staatspräsidenten Abdelaziz
Bouteflika von der Fassade abzuhängen. „Entfernt das Foto, lasst die
(algerische) Flagge hängen“, skandierte die Menge so lange, bis das Banner
tatsächlich fiel.
Bereits einige Tage zuvor war es in der Berberregion Kabylei im Osten des
Landes zu ersten Demonstrationen gegen Bouteflika gekommen, der bei der
ursprünglich für April 2019 geplanten Wahl für ein fünftes Mandat antreten
wollte. Doch so weit kam es nicht: Schnell griffen die Proteste auf das
gesamte Land über und setzten eine Dynamik in Gang, die Algerien noch heute
in Atem hält.
Nach beeindruckenden 52 Wochen ununterbrochener Massenmobilisierung gehen
die Proteste unvermindert weiter. Seit vergangenem Wochenende erhalten sie
erneut massiven Zulauf. Am Sonntag waren allein in der Kleinstadt Kherrata
nahe der Oppositionshochburg Bejaia in der Kabylei Zehntausende Menschen
auf die Straße gegangen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. „Ein
ziviler Staat, kein militärischer“, hallte es stundenlang durch die Stadt.
Während man auf den allwöchentlichen Demonstrationen vergeblich nach
Parteisymbolik Ausschau hält, ist die algerische Nationalflagge, die auch
an der Fassade in Khenchela hängengeblieben war, allgegenwärtig. Wohl
wissend, dass sich die heterogene Protestbewegung – im Land „Hirak“
(Bewegung) genannt – aus verschiedensten gesellschaftspolitischen Lagern
speist, symbolisiert die Flagge, dass man trotz ideologischer Differenzen
ein gemeinsames Ziel hat: die als äußerst korrupt geltende Elite zu echten
Reformen zu zwingen. Zwar ist die Flagge auch Ausdruck einer
nationalistischen Gesinnung, gleichzeitig aber schützt sie die
Hirak-Bewegung vor Spaltungsversuchen der Staatsführung.
Vieles hat sich seit Ausbruch der bis heute konsequent friedlichen
Massenproteste getan, doch der eingeforderte tiefgreifende Wandel ist
ausgeblieben. Im vergangenen April hatte das aus einem intransparenten
Geflecht aus Militärs, Parteien, der Staatsbürokratie und privaten
Wirtschaftseliten bestehende Regime erste Konsequenzen gezogen. Es zwang
Bouteflika zum Rücktritt und blies den Wahlgang ab.
Doch Algeriens Eliten erwiesen sich als widerstandsfähig und erkauften sich
mit Konzessionen und Ablenkungsmanövern Zeit. Dutzenden hochrangigen
Regimevertreter*innen wird seitdem der Prozess gemacht. Erst vergangene
Woche bestätigte ein Militärgericht die 15-jährigen [1][Haftstrafen für
Saïd Bouteflika], den Bruder des ehemaligen Präsidenten, sowie für zwei
Ex-Geheimdienstchefs wegen Verschwörung. Doch mächtige Teile der alten
Garde sitzen weiter an den Schalthebeln der Macht. Vor allem das Militär
hat seinen Einfluss stark ausgeweitet und gilt heute als treibende Kraft
hinter den Versuchen, die Hirak-Bewegung auszubremsen und echte Reformen zu
verhindern.
Die Staatsführung ist mittlerweile personell neu aufgestellt und setzt seit
Monaten auf eine Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche. Einerseits ließ
Präsident [2][Abdelmajid Tebboune, der im Dezember in einem von den
Aktivisten vehement abgelehnten Urnengang zum neuen Staatschef gewählt
wurde], politische Gefangene frei und versprach eine Verfassungsreform.
Auch hat er angekündigt, die Kaufkraft der Bevölkerung zu verbessern. Der
Präsident versucht zudem, seine begrenzte Legitimität im Land durch
außenpolitische Initiativen zu stärken und mischt sich vermehrt als
Mediator in die [3][Libyen-Krise] ein. Andererseits geht der
Sicherheitsapparat immer repressiver gegen Demonstrant*innen und
Oppositionelle vor. Fast 1.400 Hirak-Aktivist*innen müssen sich vor Gericht
verantworten, mehrere hundert von ihnen sitzen hinter Gittern.
Noch lässt sich Hirak von der Repression nicht einschüchtern. Doch die
Bewegung ist weiterhin führungslos und muss über kurz oder lang wohl eine
konkrete Alternative zum Status quo anbieten, droht das Regime ansonsten
doch endgültig die Oberhand zu gewinnen. Am Sonntag lancierten
Oppositionelle eine neue Initiative, um sämtliche Oppositionsströmungen im
Rahmen einer Konferenz an einen Tisch zu bekommen. „Das zweite Jahr des
Hirak muss das Jahr der Organisation sein“, erklärte der Menschenrechtler
Saïd Salhi am Sonntag in der Hauptstadt Algier. Ziel der für Donnerstag
geplanten Konferenz ist es, die Opposition zu vereinen und die Eliten mit
konkreten Forderungen aus der Reserve zu locken. Ob das funktioniert?
Ähnliche Vorstöße sind ergebnislos im Sande verlaufen.
19 Feb 2020
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## AUTOREN
Sofian Philip Naceur
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