# taz.de -- Migrant*innen in Tunesien: Hungerstreik im Abschiebeknast | |
> Tunesien hält Flüchtlinge in Gefängnissen fest und will sie trotz Corona | |
> nicht entlassen. Menschenrechtler und nun auch die Insassen protestieren. | |
Bild: Tunis nach dem Lockdown am 24. März | |
TUNIS taz | Seit Jahren steht Tunesien für seine Haft- und Abschiebepraxis | |
von Migrant*innen in der Kritik. Nun haben Häftlinge ihr Schicksal | |
angesichts der [1][Corona-Pandemie] selbst in die Hand genommen. Seit | |
Anfang der Woche sind 33 Insassen der berüchtigten Haftanstalt Wardia in | |
der Hauptstadt Tunis in einem unbefristeten Hungerstreik. | |
Die Insassen protestieren gegen unzureichende medizinische Versorgung und | |
fordern aufgrund der Pandemie ihre sofortige Freilassung. Sie befürchten, | |
dass das Corona-Virus früher oder später in das ausschließlich für | |
Migrant*innen genutzte Zentrum eingeschleppt wird und sich angesichts der | |
beengten Räumlichkeiten schnell ausbreitet. | |
Das Personal gehe trotz der Pandemie munter ein und aus, sagte ein derzeit | |
in Wardia internierter Mann gegenüber der taz am Telefon. Gleichzeitig | |
würden regelmäßig neue Häftlinge in die Anstalt verlegt. Auch seien keine | |
den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entsprechenden | |
präventiven oder sanitären Maßnahmen ergriffen worden, um das | |
Infektionsrisiko der Häftlinge zu reduzieren. | |
Videoaufnahmen aus der Einrichtung, die der taz vorliegen, zeigen, dass | |
offenbar kaum Schutzmasken verteilt wurden. Darüber hinaus ist soziale | |
Distanz angesichts des Platzmangels praktisch unmöglich. | |
Schon im Normalbetrieb sind die Lebensbedingungen in Wardia schwierig und | |
entsprechen nicht den internationalen Standards. Derzeit sind rund 50 | |
Menschen aus Algerien, Marokko, Senegal, Kamerun und anderen afrikanischen | |
Staaten in der offiziell als „Empfangs- und Orientierungszentrum“ | |
bezeichneten Anstalt interniert. | |
## Menschenrechtler: Abschiebegefängnisse räumen! | |
Menschenrechtsgruppen haben die tunesische Regierung in der Vergangenheit | |
immer wieder aufgefordert, die ausschließlich für Ausländer*innen genutzten | |
informellen Haftanstalten im Land zu formalisieren, die sich rechtlich in | |
einer Grauzone bewegen. Das Land müsse die gegen internationales Recht | |
verstoßenden Abschiebungen von Menschen in die Nachbarländer [2][Libyen] | |
und [3][Algerien] unverzüglich einstellen. | |
Angesichts des Corona-Virus richteten sich Ende März mehrere | |
UN-Organisationen mit einem [4][Appell] an die Weltgemeinschaft. Darin | |
heißt es, Flüchtlinge und Migrant*innen seien einem erhöhten Risiko | |
ausgesetzt. Die in formellen und informellen Haftanstalten und unter | |
„beengten und gesundheitsgefährdenden Bedingungen“ internierten Flüchtlin… | |
und Migrant*innen sollten daher unverzüglich freigelassen werden, heißt es | |
in der unter anderem von der WHO und dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR | |
unterzeichnete Erklärung. | |
Tunesiens Staatspräsident Kais Saïed hatte schon im März rund 1.400 | |
Häftlinge aus regulären Vollzugsanstalten im Land entlassen, um angesichts | |
der Corona-Pandemie die Ansteckungsgefahr in den überbelegten Gefängnissen | |
zu reduzieren. Inzwischen wird im Land jedoch auch lautstark gefordert, die | |
Haftanstalten mit Migrant*innen zu räumen. | |
Es sei nicht notwendig, Menschen angesichts der Coronakrise in | |
Administrativhaft zu halten, wenn gegen diese keine strafrechtlichen | |
Prozeduren laufen, so Romdhane Ben Amor, Pressesprecher der tunesischen | |
Menschenrechtsorganisation Tunesisches Forum für wirtschaftliche und | |
soziale Rechte (FTDES) gegenüber der taz. Er fordert die unverzügliche | |
Freilassung aller Insassen in Tunesiens Abschiebegefängnissen. | |
## Zivilgesellschaft begrüßt Maßnahmenpaket | |
In einer am Freitag veröffentlichten [5][Erklärung] äußern sich mehrere | |
Dutzend Menschenrechtsgruppen und Vereine betont wohlwollend zu einem | |
Maßnahmenpaket zugunsten von im Land lebenden Ausländer*innen, das die | |
Regierung diese Woche erlassen hat. Gleichzeitig fordern aber auch sie die | |
Freilassung der in Wardia und anderen informellen Haftanstalten | |
internierten Menschen. Diese seien angesichts der Corona-Pandemie „enormen | |
Gesundheitsrisiken“ ausgesetzt. | |
Tunesien hatte bereits unter der Regentschaft des 2011 gestürzten Diktators | |
Zine el-Abidine Ben Ali auf Druck der EU seine Haft- und Abschiebepraxis | |
von Migrant*innen massiv verschärft. Vor 2011 unterhielt das Land | |
mindestens 13 semi-legale Internierungseinrichtungen für Migrant*innen und | |
schob Menschen immer wieder unter Verletzung internationalen Rechts in die | |
Nachbarländer Algerien und Libyen ab. | |
Die Migrant*innen werden meist in Grenzregionen ausgesetzt und gezwungen, | |
zu Fuß und ohne Wasser oder Proviant die Grenzen zu überqueren. Zuletzt | |
waren Anfang März fünf in Wardia inhaftierte Menschen aus Mali, Guinea und | |
der Elfenbeinküste nach Algerien abgeschoben worden. Algerische | |
Sicherheitskräfte nahmen die Gruppe umgehend fest und schickten sie am | |
Folgetag nach Tunesien zurück. | |
10 Apr 2020 | |
## LINKS | |
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[3] /Arabische-Proteste-machen-Corona-Pause/!5674391 | |
[4] https://www.who.int/fr/news-room/detail/31-03-2020-ohchr-iom-unhcr-and-who-… | |
[5] https://ftdes.net/pour-des-mesures-durgence-de-protection-des-migrants-es-e… | |
## AUTOREN | |
Sofian Philip Naceur | |
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