| # taz.de -- Privilegien in Corona-Krise: Das Ende der Überlegenheitsarie | |
| > Eine arrogante, rassistische und eurozentristische Weltdeutung blendet | |
| > den Grund für die eigenen Privilegien im Umgang mit der Coronapandemie | |
| > aus. | |
| Bild: Robert Koch thront auf seinem Sockel vor der Charite, in Kamerun wird er … | |
| Warten auf Godot, während Millionen erkranken oder sterben. Existenzängste | |
| überall. Auch wenn sich schon in Deutschland manche den Shutdown deutlich | |
| besser leisten können als viele andere, die mit Kurzarbeit und staatlichen | |
| Krediten haushalten müssen. Für Milliarden von Menschen in vielen | |
| afrikanischen, asiatischen, süd- und mittelamerikanischen Ländern gibt es | |
| nicht einmal diese Option. Für viele Tagelöhner sind Shutdowns ein | |
| Countdown zum Untergang. | |
| Wer weder Rücklagen noch ein Gehalt hat, muss arbeiten, egal wie prekär, | |
| und hat gleichzeitig wenig Chancen, ins Profil der Beatmungsmedizin zu | |
| passen. Hier wird der Aufruf zur Herdenimmunisierung zum eugenischen | |
| Weckruf im Sinne des „Survival of the Fittest“. | |
| Ja, Covid-19-Viren unterscheiden nicht nach Alter, Herkunft, Pass, | |
| Geschlecht, der Position im Rassismus. Menschliche Antworten darauf | |
| allerdings passen sich der kapitalistischen Grammatik sozialer | |
| Ungerechtigkeit an. | |
| Im März verstarb die Schwarze Britin Kayla Williams in London. Trotz | |
| heftigster Symptome mit Verdacht auf eine Covid-19-Erkrankung [1][stufte | |
| das gerufene Notfallteam sie als nicht prioritär ein]. Ohne die dringend | |
| notwendige Behandlung im Krankenhaus verstarb die 36-jährige Mutter von 3 | |
| Kindern am darauffolgenden Tag. | |
| In Makoko, einem Stadtteil der nigerianischen Metropole Lagos, einem der | |
| Wirtschafts- und Finanzzentren Westafrikas, wird der Notarzt oft nicht | |
| einmal kommen können. Die meisten Menschen dort haben kaum mehr als einen | |
| Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung, von einer Krankenversicherung ganz | |
| zu schweigen. | |
| Gleiches gilt für die Geflüchteten im Lager Moria auf Lesbos. Bilder von | |
| gestapelten versklavten Menschen werden wach, bei deren Deportation in die | |
| Amerikas das Massensterben nicht nur einkalkuliert, sondern Teil des | |
| europäischen Alltagsgeschäftes war. [2][50 von Tausenden Kindern wird eine | |
| Chance auf Überleben geboten]. Für die anderen heißt das: erzwungen enges | |
| Zusammenrücken statt social distancing. | |
| ## Erfundene Krisen | |
| Vor diesem Hintergrund braucht man gute Nerven, um manche Sorgen | |
| hierzulande zu verstehen. In einer der vielen TV-Sondersendungen zur neuen | |
| Lage weint eine Abiturientin bitterlich darüber, dass sie auf ihren | |
| Abistreich verzichten müsse. Eine Minute dauert dieses Tränenspektakel, | |
| welches mit einem shot auf das überteuerte, nun nutzlose Abikleid im | |
| Schrank endet. Die afrodeutsche Rassismuskritikerin Noah Sow nennt so etwas | |
| PBV: „privilegienbedingte Verweichlichung“. | |
| Deutschland war lange Zeit so frei von Krisen, dass es welche erfand. | |
| [3][Den Sturm Anfang Februar etwa], der eher einer Brise glich. Ja, | |
| Deutschland ist so PBV, dass es eine Krise halluzinierte, als Geflüchtete | |
| nach Deutschland kamen – vertrieben von echten, global verursachten Krisen. | |
| Das aber wird ebenso beschwiegen wie die humanitäre Katastrophe selbst, die | |
| die eigentliche Krise ist. | |
| Die Coronakrise aber schlägt hierzulande aufs Gemüt – und zwar nicht nur, | |
| weil es so viele Schwerkranke und Tote gibt. Für viele ist es ein | |
| Erstkontakt mit der Erkenntnis, dass das von Tupoka Ogette beschriebene | |
| privilegiengewöhnte, weiße „Happyland“ eine Illusion und Covid-19 keine | |
| Krise aus einem Hochglanzmagazin ist. Das Entsetzen hat viel damit zu tun, | |
| dass die Menschen in Deutschland nicht einfach nur daran gewöhnt sind, dass | |
| es ihnen besser geht als Milliarden anderer Menschen. Sie sehen es als ihr | |
| Anrecht an. Eben das macht Diskriminierung aus. Die kann so omnipräsent | |
| werkeln, weil sie einem bestimmten Personenkreis etwas zu bieten vermag: | |
| Privilegien. | |
| Es ist sehr viel komfortabler, in der Annahme zu leben, dass die Welt so | |
| geschaffen sei, dass es mir besser gehen müsse als anderen und dass ich | |
| dazu berechtigt sei, Privilegien zu genießen – als mich deswegen schlecht | |
| fühlen zu müssen. Charakteristisch für Privilegien ist, dass sie aus | |
| globalen wie lokalen Macht- und Herrschaftskonstellationen heraus ohne | |
| aktives Zutun Einzelner zur Verfügung stehen – ja, dass sie nicht einmal | |
| leicht ausgeschlagen werden können und meist nicht einmal bemerkt werden. | |
| Eine der Druckmaschinen für Privilegien ist Weißsein. Im Verbund mit einem | |
| deutschen Pass steht weltweit kaum ein Privileg höher im Kurs. Jetzt aber | |
| ist etwas passiert, das dieses privilegiengesättigte Ruhekissen aufwühlt. | |
| Nicht etwa, dass sich Solidarität regen würde. Das klappt nicht einmal | |
| innerhalb Europas Grenzen, geschweige denn über [4][die sich gerade selbst | |
| verratende EU] hinaus. Nein, es ist die Illusion, immer auf der Sonnenseite | |
| des Lebens sitzen zu können, die gerade zerplatzt wie eine Seifenblase. | |
| Ein Beispiel dafür bot ausgerechnet jene Afrikanistin, die im vergangenen | |
| Jahr [5][gegen den Rassismus des Afrika-Beauftragten der Bundesregierung, | |
| Günther Nooke,] aufgestanden war: Anfang März, als chinesische | |
| Wissenschaftler*innen schon längst warnend von einer Pandemie sprachen, | |
| reiste Raija Kramer mit Studierenden nach Kamerun, um dort | |
| „Feldforschungen“ zu betreiben (also: um sich Wissen dort lebender Menschen | |
| auf den eigenen Gehaltszettel auszahlen zu lassen). [6][Dann wollte sie | |
| nach Hause und bekam keinen Rückflug mehr]. | |
| Auf der Straße machte sie die Erfahrung, dass Menschen Angst hatten, dass | |
| sie das Virus nach Kamerun getragen habe. Gar nicht so absurd der Gedanke. | |
| Viren reisen in Körpern, die reisen. Und westliche Körper sind – bedingt | |
| durch Nationalität, Weißsein und ungleich verteilten Reichtum – weitaus | |
| mobiler als andere, die weder ein Visum erhalten noch sich Flugpreise | |
| leisten können. | |
| All das ist auch ein Erbe des Kolonialismus. Zu dessen Profil gehörte es, | |
| dass Weiße Krankheiten in die Kolonien trugen, an denen viele starben. Mehr | |
| noch, Menschen wurden krankgemacht und missbraucht, um „Rassen“theorien zu | |
| belegen. Das gilt [7][etwa für Eugen Fischer], der im NS stolz darauf | |
| bestand, dass er es war, der Anfang des 20. Jahrhunderts im heutigen | |
| Namibia alle Grundlagen nationalsozialistischer Eugenik legte. [8][Robert | |
| Koch wiederum baute seine Erkenntnisse an Versuchen an Menschen in Kolonien | |
| auf], die in Deutschland als menschenfeindlich verboten waren. Ja, es gibt | |
| in Kamerun gute Gründe, auf Deutsche sauer zu sein. Das aber haben Deutsche | |
| noch nie verstanden. | |
| Statt das zu reflektieren, unterstellte Kramer Kameruner*innen unter | |
| öffentlichem Applaus Rassismus. Als Afrikanistin sollte sie wissen, dass | |
| Schwarze Weiße nicht rassistisch diskriminieren können, denn es ist das | |
| Wesen des Rassismus, die Überlegenheit von Weißen und deren Recht auf | |
| Privilegien, Diskriminierung und Gewalt zu postulieren. Zu diesem Zweck | |
| allein erfanden Europäer*innen im 16. Jahrhundert das „Prinzip | |
| „Menschenrasse“ und dessen Postulat: Weiße seien allen anderen überlegen, | |
| die einzigen vollwertigen Menschen. | |
| Kramer aber scherte sich weder um solche Details noch die Frage, was | |
| Covid-19 in Kamerun und anderen afrikanischen Ländern anstellen wird, weil | |
| das Gesundheitswesen nicht mit Milliardenspritzen der Herausforderung | |
| angepasst werden kann und Shutdowns wie auch social distancing eben ein | |
| Privileg sind. | |
| Die globale Rezession, welche sich schon jetzt weit über die aktuelle | |
| Pandemie hinaus als virulent auftut, kann durch kein Medikament kuriert | |
| werden. Prognosen mahnen, dass 35 bis 65 Millionen Menschen in tödliche | |
| Armutskonstellationen gestoßen werden; am schlimmsten wird es viele Länder | |
| in Afrika und Südasien treffen. Daran sind weder Viren schuld noch von | |
| Armut diskriminierte Menschen. Ursache sind allein menschengemachte | |
| Ordnungen sozialer Ungleichheit. Arbeitskräfte und Ressourcen aus den | |
| Kolonien beförderten die Industrielle Revolution, ohne an deren | |
| Errungenschaften beteiligt zu werden. Das wirkt sich bis heute auf | |
| kapitalistische Kartierungen der Welt aus. | |
| ## Die simple Erzählung des Rassismus | |
| Armut ist eine menschengemachte Pandemie, wobei der weiße Westen sich als | |
| Virus in die Körper jener frisst, deren Immunsystem sie zerstörten. | |
| Deswegen sind sie Covid-19 noch ohnmächtiger ausgesetzt als der Westen – | |
| und der tut wieder einmal so, als sei das eine natürliche Ordnung und ginge | |
| ihn nichts an. Afrika sei „das“ doch als Krisenkontinent gewöhnt und habe | |
| kein Anrecht auf Schutz. So wie es sich bei der sogenannten | |
| „Flüchtlingskrise“ im Kern um die Frage drehte, wem Deutschland, seine | |
| Zugehörigkeit, Ressourcen und Zukünfte gehören dürfen, schwingt bei der | |
| Coronakrise die Überzeugung mit, dass Heilung zunächst einmal den Westen | |
| ereilen werde. Sollte Godot ankommen, dann hier. Und sollte es dafür | |
| Versuche am lebenden Menschen bedürfen, so könnte das – [9][wie jüngst | |
| schon in Frankreich erwogen] – „nach Afrika“ ausgelagert werden. Es ist | |
| immer wieder die gleiche simple Erzählung des Rassismus. Die einen seien zu | |
| Recht im Vorteil, die anderen würden an ihrer eigenen Unzulänglichkeit | |
| scheitern. | |
| Das trifft derzeit insbesondere China. In einem Interview mit den | |
| „Tagesthemen“ Anfang April deklinierte Kristin Shi-Kupfer von der | |
| Mercator-Stiftung das kleine Einmaleins des antichinesischen Rassismus vor: | |
| China treffe eine Anfangsschuld, sagt sie wiederholt – und wirft China im | |
| gleichen Atemzug vor, „dem Ausland“ Schuld am Virus zu geben. „Das klappt | |
| nur nicht so ganz“, sagt sie mit einem arroganten Lächeln auf den Lippen. | |
| Fast schon dialektisch, wenn es nicht so ätzend wäre. | |
| Atemlos wettert sie weiter: China habe die Epidemie verschwiegen (doch | |
| warum hat niemand hierzulande auf Li Wenliang und andere chinesische Ärzte | |
| gehört?), China manipuliere Zahlen, versage politisch, agiere | |
| intransparent, reagiere Top-down (als würde das Antiinfektionsgesetz nicht | |
| auch anderswo über Grundrechte gestellt) und stelle jetzt wirtschaftliche | |
| Interessen über Menschenleben (als würde das nicht auch anderswo heiß | |
| debattiert). Und wie interpretiert die Sinologin, dass China Ärzte und | |
| Ausrüstungen in die Welt schicke? „Das ist ein Ablenkungsmanöver, weil | |
| China durchaus bewusst ist, dass es nicht nur national, sondern auch | |
| international eine Anfangsschuld hat“. „Amerika“ (sie meint wohl die USA | |
| und damit Trump, als wäre der kein politischer Versager) und Europa seien | |
| sich da einig. | |
| Solche Interviews sind die Brandsätze, die Menschen treffen: Es gehört auch | |
| zum neuen Gesicht des alten Rassismus, dass Chines*innen (und alle, die | |
| durch rassistische Brillen so aussehen) [10][im Supermarkt nicht bedient | |
| und aus öffentlichen Verkehrsmitteln geworfen werden]. | |
| ## Solidarische Menschlichkeit | |
| Doch die altbewährte Überlegenheitsarie geht nicht wirklich auf. | |
| Nachrichten aus Bergamo oder New York gehen um die Welt und belegen: Der | |
| Westen ist ohnmächtig inmitten seiner Macht, logistisch überfordert | |
| inmitten seiner Logistik und unsolidarisch inmitten seiner Privilegien. So | |
| wie der Zweite Weltkrieg der kolonisierten Welt die Verwundbarkeit Europas | |
| zeigte, wird diese jetzt nur allzu sichtbar – und ein globales Umdenken und | |
| Erstarken von Widerstand hervorrufen können. | |
| Viele verhalten sich gerade zu der Frage, wie Covid-19 das menschliche | |
| Miteinander neu justiert. Manche sehen die globale Krise als Weckruf und | |
| als Chance für eine neue von Empathie und Solidarität getragene | |
| Menschlichkeit. Angesichts der Selektivmedizin [11][in Bergamo zeigen sich | |
| viele entsetzt darüber, dass manche Leben „plötzlich“ mehr wert zu sein | |
| scheinen als andere]. Plötzlich? | |
| Es wird übersehen, dass das eben weder neu ist noch dass es dabei nur um | |
| die Ü-80-Menschen in Mitteleuropa geht. Vielmehr ist dies leider ein sehr | |
| altes Prinzip des Menschlichen, auch des westlichen Humanismus. Aber ja, | |
| Covid-19 fordert uns zur solidarischen Menschlichkeit heraus. Sich von dem | |
| Glauben zu lösen, dass der westliche Humanismus ein Inbegriff von | |
| überlegener Menschlichkeit sei und der Westen deswegen ein Anrecht auf | |
| Privilegien und rassistische Arroganz habe, wäre ein Anfang. | |
| 21 Apr 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.theguardian.com/world/2020/mar/25/london-woman-36-dies-of-suspe… | |
| [2] /Aufnahme-gefluechteter-Kinder/!5677699 | |
| [3] /Sturm-Sabine-erreicht-Deutschland/!5662546 | |
| [4] /Chinas-Corona-Hilfe-fuer-Italien/!5670656 | |
| [5] /Merkels-Afrikabeauftragter-Nooke/!5570147 | |
| [6] /Coronavirus-in-Kamerun/!5670496 | |
| [7] /Ausstellung-zu-Rassenforschung/!5049527 | |
| [8] /BLACK-HISTORY-MONTH/!5126738 | |
| [9] /Shitstorm-nach-Corona-Vorschlag/!5677455 | |
| [10] /Rassismus-in-und-wegen-der-Coronakrise/!5676008 | |
| [11] /Auf-einer-Intensivstation-in-Bergamo/!5676117 | |
| ## AUTOREN | |
| Susan Arndt | |
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