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# taz.de -- Der Einzelhandel ist wieder geöffnet: Wachgeküsst
> Seit Montag stehen die Türen wieder offen. Von einem Run der Kundschaft
> ist man im badischen Ettlingen aber weit entfernt.
Ein barockes Schloss, ein neugotisches Rathaus, dazwischen die
kopfsteingepflasterte Fußgängerzone. Bei dieser Kulisse liegt es nah, von
einem Dornröschenschlaf zu sprechen, aus dem die schmucke Einkaufsmeile von
[1][Ettlingen] erwachen soll. Doch ganz so idyllisch geht es hier im
Badischen doch nicht zu. Das sieht man an den Gesichtsmasken, die einige
Passanten tragen. Sie vermitteln die wenig märchenhafte Gewissheit, dass
man nicht einfach so weitermachen kann wie vor der Krise.
Es ist ein langsames Tasten zurück in die Normalität, so haben es die
Ministerpräsidenten der Länder mit der Kanzlerin entschieden. Jedes Land
hat seine in Details eigenen Regeln getroffen, unter denen die Geschäfte an
diesem Montag das erste Mal wieder öffnen dürfen. Ziel ist es, dass nicht
gleich wieder ein Run wie beim Sommerschlussverkauf losbricht.
Von Massenaufläufen ist an diesem Morgen in der Fußgängerzone von Ettlingen
nichts zu sehen. Nur vor dem Eingang von Schuh-Rissel ist eine kleine
Schlange entstanden. Ein Rentnerpaar und eine Mutter mit zwei Kindern
warten, dass sich die Glastür des Geschäfts öffnet, die Abstandsregeln
werden leidlich eingehalten.
Drinnen treffen derweil die Verkäuferinnen mit buntem Mundschutz letzte
Vorbereitungen. Das ganze Wochenende haben sie die neue Kollektion in die
Auslage geräumt. Jetzt muss alles gezeigt werden, was auf Lager ist. Am
Eingang stehen drei Flaschen Desinfektionsmittel, vor der Kasse gibt das
Flatterband die richtige Wegrichtung vor.
## Tag eins nach dem Lockdown in Ettlingen
Aus hygienischen Gründen müssen die Kunden selbst schauen, wie sie in die
Schuhe kommen, das Personal soll bei der Anprobe nicht helfen. Eigentlich
wollte Christian Rissel, der 35-jährige Inhaber, auch den Kunden einen
Mundschutz anbieten, wie es die Öffnungsverordnung des Landes empfiehlt.
2.000 Stück hatte er für den großen Tag bestellt, schon vor zwei Wochen.
Bisher ist aber nichts davon angekommen. Glücklicherweise ist die Bedeckung
von Mund und Nase für die Kunden in Baden-Württemberg nur eine Empfehlung.
Deshalb öffnet Rissel sein Geschäft auch ohne.
Tag eins nach dem Lockdown in Ettlingen. Hier am Fuß des Nordschwarzwalds
ist die Geschäftswelt in Zeiten des Internethandels zwar nicht in Ordnung,
aber zumindest weit entfernt vom
Pimky-Zara-Footlocker-Wiener-Feinbäcker-Einerlei anderer Fußgängerzonen.
Ein Vorteil, wo doch die kleinen Geschäfte öffnen dürfen, während die
Einkaufszentren im benachbarten Karlsruhe geschlossen bleiben müssen.
Ettlingen ist ein wohlhabender Ort, 40.000 Einwohner, ein bisschen
Industrie und Gewerbe. Die Stadt ist überschaubar, mit mittelalterlicher
Innenstadt und Barockschloss, in dem eigentlich schon bald
Theaterfestspiele stattfinden sollten. Wer sich’s leisten kann, verbringt
hier den Ruhestand. Ettlinger sind im Schnitt drei Jahre älter als der Rest
des Südwestens.
„Die attraktive Innenstadt ist für uns ein gewichtiges Pfund“, sagt Sabine
Süß, Chefin des City-Marketing. Doch was nützen Barockfassaden und
Fachwerk, wenn sie Handyläden und Ein-Euro-Shops beherbergen. Die Stadt hat
zusammen mit den Ladenbesitzern in den vergangenen Jahren gehörig die
Werbetrommel gerührt und sich so auch im benachbarten Karlsruhe und der
Region bis Pforzheim den Ruf einer gemütlichen Einkaufsstadt erworben. Bis
das Virus kam.
Christian Rissel zieht sich für das Gespräch im Freien seinen Mundschutz
vom Gesicht. Mit seiner runden Brille und dem Bart sieht er eher wie ein
Buchhändler aus. Er ist Vorsitzender der örtlichen Werbegemeinschaft der
Einzelhändler. Vor acht Jahren hat er das Geschäft in vierter Generation
von seinen Eltern übernommen. Er hat einen zweiten Laden aufgemacht und
dafür Kredite aufgenommen, 22 Mitarbeiter stehen bei ihm auf der
Gehaltsliste. Noch nie habe der Laden in seiner 137-jährigen Geschichte
mehrere Wochen keinen Umsatz gemacht, selbst in Kriegszeiten nicht, sagt
er. Soforthilfen, Kurzarbeit, neue Kredite, „wir werden das zu 90 Prozent
überstehen, auch ohne Entlassungen“, sagt Rissel. „Aber das ist mit
Sicherheit nicht bei jedem Geschäft hier in der Stadt so“, fügt er hinzu.
Werner Löffler steht zwischen seiner Kollektion an Outdoorjacken und ist
irritiert. Gerade kam ein Ablehnungsbescheid für die Soforthilfe vom Land.
Angeblich habe er eine falsche IBAN-Nummer angegeben, deshalb sei sein
Antrag abgelehnt worden. Es könne schon sein, dass er da einen Fehler
gemacht hat, schließlich habe er den Antrag morgens um fünf losgeschickt,
weil die Server des Wirtschaftsministeriums die ganze Nacht überlastet
waren. Löffler schickt seine Frau los, mit der er das Geschäft führt. Sie
soll die Unterlagen von zu Hause holen, während der gut gebräunte
60-Jährige im Sportbekleidungsgeschäft die Stellung hält.
Heute Morgen seien einige Stammkunden gekommen, die neue Wanderschuhe
gebraucht haben. Klar, der Shutdown ist die Zeit für Wanderungen und das
Wetter stimmt seit Ostern auch. „Für uns waren die vergangenen Wochen schon
existenziell“, sagt Löffler. Auch er hat zwei Geschäfte. Ein paar Straße
weiter verkauft er vor allem Trikots, Schuhe und Trainingsanzüge bekannter
Markenmultis. Dieses Geschäft hat er erst einmal nicht aufgesperrt, um
Lohnkosten zu sparen. „Mit den ganzen Hilfen müssten wir ganz gut über die
nächsten Monate kommen“, sagt Löffler. Viel hänge davon ab, ob das normale
Geschäft im Herbst wieder zurückkommt. Dann kommt die neue Kollektion. Man
dürfe sich nichts vormachen, sagt Löffler, die goldenen Zeiten des
Einzelhandels seien auch in einer Stadt wie Ettlingen vorbei. Zu viel vom
Umsatz ist in den vergangenen Jahren ins Internet und in die Outletcenter
vor den Toren der Städte gewandert: „Der Kundenkreis ist schon sehr lokal.“
Immerhin haben sie in Ettlingen nicht erst im [2][Shutdown] reagiert,
sondern mit dem selbstbewussten Label „Platzhirsche-Ettlingen“ eine
Onlineplattform geschaffen, auf der der Einzelhandel seine Produkte im Web
anbieten und vertreiben kann. „Da gab es manche Läden, die waren bis dahin
nicht einmal unter einer E-Mail-Adresse zu erreichen“, sagt Sabine Süß.
Es ist Mittag geworden, die Fußgängerzone hat sich gefüllt, man könnte fast
meinen, es sei ein ganz normaler Montag. Die letzten Wochen seien schon
recht trostlos gewesen hier, sagt die Verkäuferin in der Filialbäckerei,
die als eines der wenigen Geschäfte die ganze Zeit geöffnet hatte, wie auch
der Weltladen ein paar Ecken weiter nahe der Schlossmauer. Wegen seines
Lebensmittelsortiments durften die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer
dort auch während des Lockdowns weiter verkaufen. Wegen der
Nudelhamsterkäufe war ein eher steigender Umsatz zu verzeichnen.
## „Schön, dass Sie wieder da sind“
Vor dem Schmuckladen bilden sich Warteschlangen. Es geht vor allem um
Reparaturen. „Schön, dass Sie wieder da sind“, hört die Verkäuferin von
Uhren-Dotter an diesem Morgen nicht zum ersten Mal. Diesen Satz vernimmt
auch Monika Hirsch, die Chefin des Buchladens Abraxas, heute häufiger,
obwohl das Geschäft auch während der letzten Wochen immer weiterlief. Die
Kunden konnten online oder telefonisch bestellen, und die Ware dann abholen
oder sich nach Hause liefern lassen. Dadurch musste die Chefin niemanden in
Kurzarbeit schicken.
Aber Beratung am Telefon sei schon etwas anders, sagt Monika Hirsch. Und
ihre Kollegin Corinna Preiß sagt: „Beraten Sie mal zu einem Bilderbuch am
Telefon.“ Die Krisenzeit war Lesezeit, das merkte Abraxas am Umsatz, und
als Buchhändlerin des Vertrauens schaute Monika Hirsch den Kunden ein wenig
ins Gemüt. Klar Camus’ „Pest“ ging gut und „Liebe in den Zeiten der
Cholera“, sonst vor allem schöne Literatur. „Vielleicht finden die Leute
über die Krise auch wieder mehr zum Lesen, ich bin vorsichtig
optimistisch“, sagt Hirsch.
Nicht überall gibt es so viel Grund zum Optimismus. 25 Prozent des Umsatzes
werde die Coronakrise ihn dieses Jahr kosten, sagt Christian Rissel vom
Schuhladen. „Und sollten wir im Herbst noch einmal einen Lockdown erleben,
dann wird das hier kaum einer überleben“, sagt er. Für die ganz harten
Fälle hat die Stadt schon jetzt ein Spendenkonto eingerichtet. Immerhin
70.000 Euro sind bereits zusammengekommen. Das Geld soll
Soloselbstständigen und Künstlern, aber auch dem bedrohten Kleingewerbe
zugute kommen.
Doch die Auswirkungen der Krise sind im Großen wie im Kleinen noch lange
nicht absehbar. Die Ettlinger Innenstadt wird mittelfristig ihr Gesicht
verändern, glaubt Sabine Süß. Gerade jene Inhaber, die kurz vor der Rente
stehen, könnten sich dafür entscheiden, lieber den Laden zu schließen, als
die Kraftanstrengung eines Wiederaufbaus einzugehen. Das wären ausgerechnet
die alteingesessenen Geschäfte. Für sie war es schon vor der Krise
schwierig, Nachfolger zu finden. Wenn Ettlingen nach der Krise attraktiv
bleiben soll, könne man sich eins nicht leisten, sagt Süß: Leerstand.
20 Apr 2020
## LINKS
[1] https://www.ettlingen.de/startseite.html
[2] /Ladenoeffnungen-nach-dem-Shutdown/!5679184/
## AUTOREN
Benno Stieber
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