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# taz.de -- Sexarbeiterin über Corona-Kontaktsperre: Bedrohte Kultur der Berü…
> „Ich brauche Gewicht auf meinem Körper, ich habe das Gefühl, dass er
> sonst platzt“: Eine Sexarbeiterin beschreibt ihr Leben in berührungsarmen
> Zeiten.
Bild: Dirty Talk mit der Katze? Eine Sexarbeiterin kann nicht einfach ins Homeo…
Wir erleben gerade eine Zeit, in der Berührung und Körperkontakt so etwas
ist wie Goldstaub. Selten und kostbar.
Für mich war Berührung immer wichtig. Für mich sind Berührung, Nähe,
Intimität und Heilung so existenziell, dass ich dafür ein Jurastudium und
eine Karriere hinter einem Schreibtisch abgebrochen habe. Die meisten
Menschen lieben Sex, aber es reicht ihnen, das als Hobby zu betreiben,
zumeist sogar nur mit einem Menschen. Das ist völlig okay. Ich aber wollte
mehr Zeit mit Berührung, Nähe und allen dazugehörigen Emotionen verbringen,
mich damit befassen, mehr darüber wissen, es praktizieren und
professionalisieren. Da auch ich meinen Lebensunterhalt verdienen muss, ist
klar, dass diese Zeit bezahlt werden muss. Et voilà: So bin ich
Sexarbeiterin geworden.
Ich brauche Gewicht auf meinem Körper, ich habe das Gefühl, dass er sonst
platzt. Mein Körper wird nur wahr, wenn er berührt wird oder ich berühren
kann. Ich liebe Sex, ich liebe den Geruch von Körpern, von Schweiß und
Erregung. Ich mag es, jemandes Atem nah an meinem Ohr zu hören und zu
fühlen. Ich atme Menschen gern ins Ohr oder flüstere ihnen Dinge zu, die
sie warm bis heiß machen.
Nähe zu geben in einer berührungsarmen Welt, das war schon lange vor Corona
verdienstvoll. Dass Menschen dies wertschätzen, kann ich nicht nur daran
sehen, dass ich meinen Lebensunterhalt sehr gut bestreiten kann. Die
Dankesbriefe meiner Klient*innen sind zum Teil tief berührend. Viele
Kolleg*innen schildern, dass einer der wunderbarsten Aspekte unseres
Berufs der Dank ist von Menschen, die Kontakt, Lust und Sex erlebt haben,
die sie glücklich gemacht haben.
## Das Privileg der Berührung
Nun sind wir alle zu Hause, und es heißt, wir sollen zwei Meter Abstand
voneinander halten. Das Privileg der Berührung ist dem monogamen Paar
vorbehalten. Glücklich, wer nun einen Partner oder eine Partnerin hat.
Keine gute Zeit für alle, [1][für die Familie kein sicherer Ort ist], für
Singles und lose Subjekte (wie mich). Ich halte alle Regeln ein,
telefoniere mir die Ohren wund, gehe Joggen, meditiere und mache Yoga,
stelle meiner Mutter die Einkäufe vor die Tür und berühre, wenn, dann nur
meine Katze, mich selbst und ab und zu meinen Liebsten*.
All das ist für mich, wie wohl für alle anderen auch, eine Art Albtraum,
und täglich denke ich, dass wir daraus bald erwachen, aber dann kommt
jemand aus dem Radio und sagt mir, das sei erst der Anfang. Ich bin
paralysiert, und jeden Tag habe ich das Gefühl, meine Geistesgegenwart geht
mir ein Stück verloren.
Ich wälze mich ab und zu auf dem Teppich, um meinem Körper zu versichern,
dass er noch Grenzen hat. Mein eigenes Körpergewicht reicht nicht aus, um
ihm das sinnvoll zu vermitteln. Ich fasse mich selbst an und masturbiere
auch, das habe ich aber auch schon vorher nur mit mäßiger Leidenschaft
getan. Als Sex Educator kenne ich all die Theorien, dass die Voraussetzung
für guten Sex ist, dass man fabelhaften Solosex haben kann. Ich finde das
pädagogisch richtig, und behaupte es regelmäßig gegenüber allen
Klient*innen, um professionell zu sein. Ich gebe hiermit zum ersten Mal
öffentlich zu, dass es auf mich nie wirklich zutraf.
Ich möchte mich auf jemanden stürzen oder gegriffen werden. Ich liebe
fremde Finger statt meiner eigenen an meinem Körper, an und in meiner
Muschi. Und ich bevorzuge Hände, Schwänze und Zungen deutlich gegenüber
jedem fucking Sexspielzeug, egal aus welchem fancy Weltraummaterial es
gefertigt ist, wie utopisch viel es gekostet hat und wie stromlinienförmig
es sich an meinen G-Punkt anschmiegt.
Mein Körper versteht nicht den Entzug von Adrenalin, Serotonin und
Oxytocin. Er vermisst die Tiefenentspannung, die darin besteht, im engen
Kontakt mit jemand zu liegen, mit dem man gerade einen Ritt durch die
Ekstase gewagt hat. Mein Schokoladenkonsum entwickelt sich proportional zu
den veröffentlichten Infiziertenzahlen.
## Im Latexkleid an den Schreibtisch?
Im Radio höre ich Ratschäge [2][für das „Homeoffice“]. Ganz wichtig: die
üblichen Routinen des Arbeitsalltags einhalten. Was heißt das für mich?
Mich in Latexkleid und Stiefeln an den Schreibtisch setzen und Kundenmails
beantworten, die keine Termine buchen? Mich im Wohnzimmer selbst fesseln
und aufhängen? Facesitting mit Kuscheltieren machen? Dirty Talk mit meiner
Katze? Meine Arbeitsroutine ist gestört.
Es zeichnet sich bereits ab, dass diese Krise nicht in kürzerer Zeit vorbei
ist. Ich frage mich, wie sich, neben einem finanziellen Einbruch im freien
Fall, mein Berufsleben in Zukunft entwickeln wird. Die ganz Kreativen und
Lösungsorientierten unter uns haben sich bereits in die Technik von Zoom
und Co eingearbeitet und bieten Camsex, Online-Erziehungspiele und, ein
seltsamer Rückfall in die 90er Jahre, Telefonsex an. Andere drehen
Videoclips und steigen auf den Verkauf von Merchandise um (gebrauchte
Schlüpfer, Strümpfe, solche Dinge).
Ich bin weder ein besonders visueller Mensch beim Sex noch stehe ich auf
Erziehungsspiele generell. Ich bin freudig exhibitionistisch, aber ins Netz
muss ich nicht unbedingt nackt. Reden beim Sex ist super, aber über Sex
reden, ohne ihn tatsächlich zu haben, finde ich sehr öde. Ich fühle lieber,
als dass ich rede. Tönen und atmen und sogar singen und jauchzen ist kein
Problem, aber ob dafür jemand zahlt?
## Onlinekurse statt ergebnisoffener Nähe
Mir sagen alle: Du gibst doch Workshops! Mach doch einen Onlinekurs! Doch
falle ich bei dem Gedanken an Onlinekurse seit je prompt in einen
Tiefschlaf. Ich habe meine Arbeit nie so verstanden, dass ich dir in „7
Schritten den Weg für Y“ erklären kann. Ich habe unzählige Gruppen geleitet
und Menschen in Einzelsessions begleitet. Ich kenne keine Lösungen, ich
kenne nur Prozesse und Wegbereitung.
Was ich kann, ist Menschen zu halten, wenn sie berührt sind, wenn sie sich
öffnen, wenn sie verletzbar sind. Ich kann Improvisation, ich kann Ekstase
und ich kann Lust, wenn sie nass ist, offen und bereit, oder schüchtern im
Flur steht. Ich kann Körpern zuhören und nicht ihnen sagen, wie sie
optimaler werden in fünf Schritten. Ich kann Nähe, die ergebnisoffen ist.
Und ich kann Menschen zusammenbringen. Ich kann einen Raum schaffen, damit
sie experimentieren. Damit sie sich gegenseitig berühren. Ich erkläre
ungern die Welt. Ich lasse sie lieber entdecken. Mit Welt meine ich
tatsächlich die jenseits des eigenen Wohnzimmers und jenseits der Pfade von
Zweierbeziehung. Aber genau dahin zielen Onlinekurse. Wir werden privat.
Wir sagen Ole und Uschi, wie es geht.
Öffentlicher Sex und deine Errungenschaften – wie lange wird es dauern, bis
wir dich zurückerobert haben?
Es tut mir leid, ihr Lieben, ich habe heute keine konstruktiven Lösungen
für euch. Ich bin traurig und frustriert, denn es macht mir Sorgen, was
aus unserer Kultur der Berührung wird, es macht mir Sorgen, was aus unserer
sexuellen Kultur wird. Und nicht zuletzt, was aus mir und meinen
Kolleg*innen in der Sexarbeit wird.
## Eine finanzielle Notlage, die manche ausnutzen
Meine Rücklagen reichen für etwa zwei bis drei Monate. Einige müssen
weiterarbeiten, trotz der starken Gefährdung ihrer selbst und anderer.
Grund ist wirtschaftliche Not: Diese Personen würden durch alle
Hilfsprogramme für Selbstständige fallen und haben keinen Anspruch auf
Grundsicherung, vielleicht weil sie keinen gesicherten Aufenthaltsstatus
haben und nicht angemeldet sind.
Es gibt Kunden, die diese Notlage noch zusätzlich ausnutzen und die Preise
drücken, Gewalt gegen Sexarbeiter*innen nimmt zu. Die Coronakrise
bietet eine Aussicht auf [3][das diskutierte „Sexkaufverbot“]: Wird
Sexarbeit kriminalisert, trifft dies vor allem marginalisierte und prekär
arbeitende Kolleg*innen. Damit sie nicht weiterarbeiten müssen, hat der
Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen [4][einen
Notfallfonds eigerichtet] und fordert die Politik auf, Rettungsmaßnahmen
auch für Sexarbeitende einzurichten, die nicht angemeldet sind oder keine
Krankenversicherung haben.
Huren geben Berührung und Nähe. Ich möchte unsere sexuelle Kultur nicht
online, vielleicht bin ich die letzte hoffnungslos analoge, haptische
Generation. Ich bin Hure geworden, eben weil ich nicht „irgendwas mit
Medien“ machen wollte. Ich stehe dazu.
Haltet Abstand, ihr Lieben. Macht euch heiße Gedanken. Erzählt sie euch.
Masturbiert. Gegenseitig zuschauen ist auch geil übrigens. Orgasmen und ein
lustvolles Sein sind gut für das Immunsystem. Angst ist es nicht.
Bitte bleibt gesund!
4 Apr 2020
## LINKS
[1] /Haeusliche-Gewalt-in-der-Corona-Quarantaene/!5675012
[2] /Homeoffice-waehrend-Corona/!5669225
[3] /Diskussion-um-Strafen-fuer-Freier/!5644216
[4] https://berufsverband-sexarbeit.de/index.php/besdnotfallfonds/
## AUTOREN
Kristina Marlen
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