# taz.de -- Haptikforscher über menschliche Nähe: „Wir Säugetiere sind Kon… | |
> Berührungen sind für den Menschen essentiell, sagt Martin Grunwald. Er | |
> erklärt, was man jetzt tun kann – und warum wir uns so oft ins Gesicht | |
> fassen. | |
Bild: Sich selber streicheln ersetzt nicht den Fremdkontakt, kann aber trotzdem… | |
taz am wochenende: Herr Grunwald, wann hatten Sie zuletzt direkten | |
Körperkontakt? | |
Martin Grunwald: Heute, bei einer sehr schönen Morgenumarmung mit meiner | |
Frau. Ein Ritual, das ich sehr genieße. | |
Das Glück haben nicht alle. Corona zwingt uns, Abstand zu Menschen zu | |
halten. Wir sollen auf Körperkontakt verzichten, uns nicht mehr umarmen. | |
Welche Folgen hat das aus Ihrer Sicht? | |
Zunächst mal ist es kognitiv total anstrengend, ständig die Routinen | |
unserer Körperkommunikation zu unterdrücken, diese unbewussten | |
zwischenmenschlichen Handlungen zu kontrollieren. Das löst Stress aus. Man | |
sieht ja auch schon, dass [1][die Menschen nach Alternativen suchen], die | |
Begrüßung mit dem Ellebogen, die Ghettofaust. Es gibt das Bedürfnis, sich | |
nahe zu sein, mit anderen Menschen physischen Kontakt zu haben. Das alles | |
im übrigen ohne irgendwelche sexuellen Intentionen. | |
Abgesehen vom Stress: Was macht fehlender Körperkontakt mit uns? | |
Das ist schon ein dramatischer Zustand. Jedes Säugetier braucht ein | |
gewisses Maß an Berührungen. Wenn die lange ausbleiben, können Körper und | |
Seele krank werden. Das wird sicherlich bald Psychologen und Psychiater | |
beschäftigen. Wobei Erwachsene natürlich die Möglichkeit haben, ungesunde | |
Ausgleichsstrategien umzusetzen. | |
Welche? | |
Alkohol und Drogen etwa. Kinder sind eher die Zielgruppe, die mir Sorgen | |
macht, für sie kann ein Mangel an Körperkontakt bedrohlich werden. Wenn | |
Eltern jetzt den körperlichen Kontakt zu den Kindern einschränken, ist das | |
bedenklich. | |
Sie sagen, wir können ohne Geschmacksinn leben, ohne Gehör, ohne | |
Augenlicht, aber wir werden krank, wenn uns der Körperkontakt genommen | |
wird. Warum? | |
Weil wir Säugetiere sind und unsere gesamte Evolution sich in sozialen | |
Gemeinschaften vollzogen hat. Unser Organismus ist ausgelegt darauf, mit | |
anderen Menschen auch körperlich zu interagieren. Schon in der frühen | |
Kindheit finden ohne Verformungen der Körperhaut, also ohne Berührungen, | |
keine biochemischen Signale statt, die das neuronale und körperliche | |
Wachstum in Gang setzen. Gesundes Wachstum von Säugetieren ist immer an | |
Körperkontakt gebunden. | |
Dazu gab es in der Vergangenheit teils grausame Experimente … | |
Legendär und wegweisend sind dazu die Versuche von Henry Harlow an | |
Affenbabys Anfang der 1960er Jahre. Sie haben eindrucksvoll gezeigt, dass | |
gerade junge Säugetiere elementar auf Berührungsreize angewiesen sind. In | |
aktuellen Studien mit Menschen, die 1989 als völlig vernachlässigte | |
rumänische Waisenkinder entdeckt wurden, sehen wir, dass die biologischen | |
und psychologischen Folgen fehlender Körperkommunikation später nicht mehr | |
nachgeholt werden können. Der Mensch kann eben auf Knabberzeug und Tablets | |
verzichten – auf adäquate Berührungsreize nicht. | |
Und warum brauchen wir auch als Erwachsene noch Körperkontakt zu anderen? | |
Je besser wir jemanden kennen, je näher wir jemandem emotional sind, desto | |
näher sind wir ihm auch körperlich. Und umso schneller wird in unserem | |
Körper die positive Biochemie der Berührungen angestoßen. Schon bei einer | |
Umarmung werden Botenstoffe ausgestoßen, etwa Oxytocin, das Stress abbaut | |
und beruhigend wirkt. Das wird nur über Körperkontakt aktiviert. Wir | |
Säugetiere sind einfach Kontaktwesen. | |
Was geschieht im Gehirn, wenn wir uns berühren, uns umarmen, streicheln, | |
die Hand halten? | |
Zunächst wird die Haut physisch verformt. Bei adäquaten Berührungen werden | |
dann bis zu ein paar Millionen tastsensibler Sensoren erregt. Und die | |
Rezeptoren senden über Nervenfasern elektrische Signale ins Gehirn. Dort | |
ändert sich der Aktivierungszustand und es werden Stoffe produziert, die | |
über die Blutbahn den gesamten Körper erreichen. Sie empfinden weniger | |
Angst, entspannen sich, die Atmung wird flacher, der Puls geht runter. Und | |
[2][das Immunsystem profitiert ebenfalls von Berührungen]. | |
Das könnten wir ja ganz gut gebrauchen gerade. | |
Ja, es ist tragisch. Unsere körpereigene Apotheke öffnet sich auch durch | |
Berührungen. | |
Und auf diese sollen wir jetzt eine Zeit lang verzichten. | |
Ich kann es leider auch nicht ändern. | |
Nach welcher Zeit wirkt sich die körperliche Isolation aus? | |
Das können wir nicht sagen, es gibt da zu wenig Studien. Aber wir haben | |
große Hoffnungen, dass mit Corona jetzt die Bedeutung des Tastsinns für den | |
Menschen genauer betrachtet wird. | |
Sie haben zuletzt auch die Selbstberührungen im Gesicht erforscht … | |
... das soll man ja jetzt vernünftiger Weise auch nicht mehr machen. | |
Wir fassen uns bis zu 800 Mal am Tag ins Gesicht. Wieso eigentlich? | |
Der menschliche Organismus funktioniert am besten im Zustand der | |
Homöostase, einem Zustand des Gleichgewichts. Das gilt auch für unseren | |
emotionalen Status. Weil aber von außen immer störende Informationen auf | |
uns einströmen, gerät unser emotionaler Status permanent in ein | |
kurzzeitiges Ungleichgewicht. Durch eine kurze Berührung im Gesicht werden | |
dann Impulse ans Gehirn gesendet und wir erreichen wieder den Zustand der | |
Homöostase. Grob vereinfacht sagt das Hirn, wenn uns etwas Angst macht oder | |
irritiert oder so: Ich brauche einen Berührungsreiz, damit ich wieder in | |
die Mitte komme. Wir bauen durch Selbstberührung also Stress ab und | |
schützen auch unser Arbeitsgedächtnis vor Informationsverlust. | |
Haben Sie ein konkretes Beispiel? | |
Sie stehen im Auto an der Ampel, es wird grün, aber Sie träumen ein wenig. | |
Und der hinter Ihnen hupt sofort. Der Angehupte wird sich dann zu hundert | |
Prozent ins Gesicht fassen, um die unerfreuliche Situation zu verarbeiten. | |
Das funktioniert aber auch bei starker Freude. Wenn Sie bei Herrn Jauch | |
eine Millionen Euro gewinnen, dann bleiben Sie auch nicht cool, sondern | |
fassen sich ins Gesicht. Wahrscheinlich sogar mit beiden Händen. Unser | |
Organismus kann nicht lange mit starken Emotionen umgehen, alles, was | |
extrem ist, ertragen wir nur kurzzeitig. | |
Können wir uns das nicht abgewöhnen und uns zum Beispiel einfach in den Arm | |
kneifen? | |
Keiner weiß, wie dieser hochgradig unbewusste Mechanismus durchbrochen | |
werden kann. In einer Studie haben wir zudem noch festgestellt, dass der | |
größte Teil der Berührung im Gesicht auf Nase und Mund geht … | |
… die jetzt so gefährlichen Areale. | |
Ja, heute sehen wir die Daten unter ganz anderen Gesichtspunkten. Da muss | |
man jetzt den Trick finden, wie man mit dieser Art unbewusster | |
Alltagshandlungen in solch epidemischen Zeiten umgehen kann. | |
Warum können wir uns eigentlich nicht selbst kitzeln? | |
Weil es bei jeder Handlung, die auf den eigenen Körper gerichtet wird, eine | |
Handlungskopie im Gehirn gibt, unser Gehirn also weiß, dass wir es selbst | |
sind. Dann werden bestimmte Informationsbahnen gehemmt. | |
Also ist die Alternative zum fehlenden Körperkontakt mit anderen auch | |
nicht, dass wir uns jetzt selbst streicheln oder massieren? | |
Nein, leider nicht. Wenn das funktionieren würde, dann bräuchten wir auch | |
keine sozialen Gruppen, dann könnten wir alle schön für uns alleine leben. | |
Können Katzen und Hunden Körperkontakt zu anderen Menschen ausgleichen? | |
Ja, bis zu einem gewissen Maß schon. Es sind ja auch Säugetiere, die uns | |
nahe sind. | |
Also jetzt ab ins Tierheim? | |
Naja. Man muss das schon mit Bedacht entscheiden, ob man auch in | |
Nach-Corona-Zeiten die Ressourcen für ein Haustier hat. Aber klar, wenn Sie | |
sich das schon länger überlegt haben, dann ist jetzt ein guter Zeitpunkt. | |
Und Pflanzen? Hilft Gartenarbeit bei mangelndem Körperkontakt? | |
Bewegung, handwerkliches, körperliches Tun ist in jeder Lebenszeit gut, | |
gesund und richtig. Jetzt natürlich erst recht. Es ersetzt aber nicht den | |
notwendigen Körperkontakt, das ist eine ganz eigenständige Dimension. | |
Wie ist es mit Kochen? | |
Auf jeden Fall! Man sollte jetzt, wo unser Tastsinn vielleicht weniger | |
Reize bekommt, alles tun, was möglichst viele andere Sinne anspricht. Beim | |
Kochen sollte man sich Zeit nehmen, es riecht gut, es schmeckt, es lenkt | |
uns ab. | |
Hilft es auch, wenn wir uns das getragene T-Shirt eines Lieben schicken | |
lassen und täglich daran schnuppern? | |
Alles, was uns guttut, was die Sinne erfreut, den Körper erfreut und sonst | |
nicht gefährlich ist, sollten Sie jetzt machen und auf eine baldige, | |
ungestörte Zukunft hoffen. Ich freue mich jeden Abend auf die warme Dusche. | |
Warum das? | |
Ich bin da wie ein Kind, das Licht ist an, das warme Wasser auf der Haut, | |
das mache ich mir richtig bewusst. Jede Kleinigkeit, die gut ist für meinen | |
Körper, sauge ich jetzt doppelt so aufmerksam ein, das trägt zum seelischen | |
Gleichgewicht bei. | |
4 Apr 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Die-Wahrheit/!5666084 | |
[2] /Verhaltensbiologin-ueber-das-Kuessen/!5514203 | |
## AUTOREN | |
Paul Wrusch | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Haut | |
Tastsinn | |
Belgien | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Küssen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Coronamaßnahmen in Belgien: Sie knuffelt mich (nicht)? | |
Belgien ist stärker von Corona betroffen als Deutschland. Bei seinen | |
Maßnahmen achtet das Land darauf, dass weiter gekuschelt wird. | |
Langzeitfolgen sozialer Isolierung: „Angst, Verzweiflung, Aggressionen“ | |
Die psychosozialen Folgen der Corona-Kontaktsperre sind nicht abzusehen. | |
Viele der Betroffenen haben das Gefühl, die Türen seien überall für sie zu. | |
Komplexe Beziehungen in Corona-Zeiten: Verbotene Liebe | |
Direkten Kontakt erlaubt der Staat wenig: Kernfamilie, Lebenspartner. Was | |
aber, wenn die Situation komplizierter ist? | |
Sexarbeiterin über Corona-Kontaktsperre: Bedrohte Kultur der Berührung | |
„Ich brauche Gewicht auf meinem Körper, ich habe das Gefühl, dass er sonst | |
platzt“: Eine Sexarbeiterin beschreibt ihr Leben in berührungsarmen Zeiten. | |
Die Wahrheit: Wangenküsschenpest | |
Sex ohne Berührung geht noch nicht. Aber von Handshake bis Küsschen ist | |
Corona sei Dank endlich alles Zwischenmenschliche außer Kraft gesetzt. | |
Verhaltensbiologin über das Küssen: „Küssen wirkt wie Impfen“ | |
Menschen stecken einander gegenseitig die Zunge in den Hals und tauschen | |
Speichel aus. Die Verhaltensbiologin Elisabeth Oberzaucher erklärt, was das | |
eigentlich soll. |