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# taz.de -- Großbritannien nach dem Brexit: Der mobbende Mistkerl
> Wie geht es weiter in Großbritannien nach dem Brexit? Unser Autor
> zeichnet das Stimmungsbild einer entzweiten Nation und ihrer politischen
> Elite.
Bild: Der britische Premier Boris Johnson neigt zu schamloser Selbstdarstellung
Der wenig vertrauenswürdige Upperclass-Schurke gehört seit Shakespeares
Zeiten zum Typen-Repertoire britischer Literatur. Auch Großbritanniens
amtierender Premierminister Boris Johnson spielt diese Rolle in der
Öffentlichkeit perfekt. Der große Blonde mit dem wirren Haar könnte glatt
als aktuelle Version von Harry Flashman durchgehen, so heißt der mobbende
Schüler-Tyrann in dem viktorianischen Jugendbuchklassiker „Tom Browns
Schuljahre“.
Flashman hat auch den schottischen Schriftsteller George Macdonald Fraser
zur historischen Romanserie „The Flashman Papers“ inspiriert. Bei Fraser
durchlebt dieser Flashman haarsträubende Abenteuer in Indien und in
Afghanistan, als sie zum britischen Empire gehörten. Fraser war überzeugt,
dass das Empire Typen wie Flashman brauchte, obwohl sie sich als Beamte des
Empire in den Kolonien zweifelhafter Methoden bedienten. Fraser
charakterisierte Flashman als „Zinker, Lügner, Betrüger, Dieb und, oh ja,
Speichellecker“. Johnson, wie er auf der politischen Bühne leibt und lebt.
In England ist es verpönt, mit eigenen Erfolgen zu prahlen, außer man tut
es ironisch. Wer also bei der Nabelschau betont, „Verzeihen Sie meine
schamlose Selbstdarstellung“, dem lassen die Briten alles durchgehen. Er
muss dabei nur Sinn für Humor an den Tag legen. Johnson ist der
schamloseste aller schamlosen Selbstdarsteller. Dabei begann seine
Tätigkeit als EU-Korrespondent in Brüssel ja erst, als er von der Redaktion
der Times in London wegen erfundener Zitate gefeuert worden war.
## Lügengeschichten über „lustige Ausländer“
Für andere Journalisten wäre damit die Karriere beendet.
Eliteschulabsolvent Johnson machte sich in Großbritannien einen Namen mit
Lügengeschichten über „lustige Ausländer“ und Spott über unsinnige
EU-Beschränkungen gegen britische Kartoffelchips-Würzmischungen. Sobald die
EU sich gegenüber Großbritannien über Johnson beschwerte, bewies das für
ihn nur: Brüssel versteht einfach keinen Spaß.
Anders als die literarische Figur Flashman wirkt Johnson körperlich
ungeschlacht, er gleicht darin wiederum Billy Bunter, einer weiteren
britischen Jugendbuchschöpfung. Beide gehen skrupellos vor, um an das
Gewünschte zu kommen, und entschuldigen ihr erratisches Verhalten mit jeder
noch so billigen Ausrede. „Boris bleibt Boris“, kommentierte Theresa May,
gerade als ihr der parteiinterne Widersacher während eines Staatsbesuchs in
Asien in den Rücken gefallen war.
Es war [1][George Orwell], der Billy Bunters Welt einst mit dem Satz
„Nichts ändert sich jemals und Ausländer sind lustig“ zusammenfasste. In
groben Zügen ist das auch Boris Johnsons Credo. Er möchte, dass in England
alles bleibt, wie es ist, und erinnert an die Fünfziger, damals, als sich
England schon einmal von Europa abgewandt hatte. Auch da saßen übrigens
Absolventen der Eliteschule Eton an den Schalthebeln der Macht. Erst der
konservative Premier Ted Heath, Sohn eines Schreiners, rückte während
seiner Amtszeit (1970–74) Großbritannien wieder näher an Europa und
dezimalisierte die britische Währung.
## Einfluss auf Johnsons Schreibstil
Billy-Bunter-Geschichten haben übrigens zentralen Einfluss auf Johnsons
Schreibstil, hat der Journalist Ian Jack herausgefunden. Orwell hatte sie
als „besonders künstliche und repetitive Literaturform“ bezeichnet, „die
sich grundlegend von allen britischen Genres unterscheidet“.
Genau wie der gefährliche Klassenclown Flashman vermeidet Johnson jede Form
von Verlässlichkeit. Er gab sich in den Wochen vor der Unterhauswahl am 12.
Dezember kaum mit den Niederungen des Wahlkampfs ab, weil er wusste, dass
die Presse für ihn schreibt und dass sich die in die sozialen Medien
investierten Millionenbeträge in Wählergunst ummünzen würden.
Die viel gerühmte britische Fairness, angesichts von Johnsons schamloser
Selbstdarstellung steht sie auf verlorenem Posten. Meine Freunde in
Deutschland waren sprachlos, als sie von der unkritischen Berichterstattung
britischer Medien erfuhren. Wenn Johnson schwache Momente im Wahlkampf
hatte, kamen ihm Journalisten zu Hilfe. Bei einem seiner wenigen
TV-Auftritte brach das Publikum im Studio in Gelächter aus, als er von
Glaubwürdigkeit redete. Die Szene wurde in der Wiederholung kurzerhand
rausgeschnitten.
## Den Brexit über die Bühne bringen
Zentrale Themen, die die Engländer bewegen, wie steigende Obdachlosigkeit,
der Klimawandel und seine Auswirkungen auf die Insel, gingen im Wahlkampf
in Johnsons Mantra vom „Get Brexit Done“ (Ich bringe den Brexit über die
Bühne) unter.
Andrew Neil, Herausgeber des konservativen Magazins Spectator, moderierte
eine Primetime-Fragerunde aller Parteivorsitzenden im Programm der BBC.
Einzig Johnson blieb der Sendung fern. In den Tagen danach beharrte die BBC
darauf, dass Johnson keine weiteren Gelegenheit bekommen würde, würde er
sich nicht den Fragen von Neil stellen.
Aber nach einer Messerattacke auf Passanten mit terroristischem Hintergrund
am 30. November in London, wenige Tage vor der Wahl, verlangte Johnson,
dass er sich via BBC an die Nation wenden müsse und der Sender gab
schließlich nach. Trotz dieses Zugeständnisses drohte Johnson damit, der
BBC die Sendelizenz zu entziehen. Außerdem will er ein Wörtchen bei der
Ernennung des nächsten BBC-Intendanten mitreden.
## Die britische Verfassung aushebeln
All das sind klare Anzeichen dafür, wie selbstsüchtig Johnson seine Aufgabe
als Regierungschef interpretiert. Bittere Wahrheit ist, dass er darin
Europa eben doch verbunden bleibt, nur leider dem Europa eines Viktor Orbán
und eines Jarosław Kaczyński. Er sucht in der britischen Verfassung nach
Schlupflöchern, um seine Machtfülle zu vergrößern, und geht dabei
kompromisslos vor: Fairness ist Schwäche, wie Flashman sagen würde. In
seiner kurzen Amtszeit vor der Wahl am 12. Dezember stellte Johnson schon
unter Beweis, wie leicht sich die britische Verfassung aushebeln lässt.
Nur der Speaker des Unterhauses, John Bercow, und der Supreme Court wiesen
ihn in die Schranken. Nun ist Bercow Geschichte und die Macht des Supreme
Court soll beschnitten werden. Johnson und sein Wachhund Dominic Cummings,
eigentlicher Architekt des Brexits, wollen dem Land ihren Willen
aufzwingen, so lange es noch unter Schock steht.
Durch die komfortable absolute Mehrheit mit 80 Sitzen im Unterhaus können
die Tories nach Gusto schalten und walten. Johnson ist eben keine
Witzfigur, [2][er ist „ein Mistkerl“, das hat Eddie Mair, der einzige
BBC-Journalist von Format], der den Politiker herausfordern konnte, ihm mal
ins Gesicht gesagt. Leider arbeitet er nicht mehr für den Sender.
## Konservative und Rechtsaußen hinter Johnson
Johnson genießt in Großbritannien eher mäßige Popularität. Und wirklich
niemand im Land will einen harten Brexit, der nun immer wahrscheinlicher
wird. Der Volkswillen wird Johnson aber nicht stoppen. Konservative und
Kräfte rechts davon stehen weiter hinter ihm, das reicht von gemäßigten
Tories, die ursprünglich gegen den Brexit votierten, bis weit nach
rechtsaußen, wo es BritInnen gibt, die der AfD in nichts nachstehen.
Vereint sind nun alle im Mantra des „Brexit über die Bühne bringen“.
Seine größten Kritiker im Unterhaus hat Johnson kaltgestellt, auch die
Medien haben ihm nichts entgegenzusetzen. Als die Tories einen
Verfassungszusatz zu Fall brachten, der es geflüchteten Minderjährigen
ermöglicht hätte, ihren Familien nach Großbritannien nachzuziehen, wurde
Johnson von Journalisten gefragt, welche Shampoomarke er benutzt.
Die stärkste Oppositionspartei, Labour, ist in einem bedauernswerten
Zustand. Nach der verheerenden Wahlniederlage leckt die Partei ihre Wunden
und versucht, möglichst geräuschlos die Nachfolge für Jeremy Corbyn zu
regeln. Eigentlich wäre der allseits respektierte Rechtsanwalt Keir Starmer
für den Posten als neuer Oppositionsführer im Unterhaus der geeignetste
Kandidat. Aber es sind keine gewöhnlichen Zeiten.
## Bösartige britische Presse
Hat es überhaupt im jetzigen Zustand der Partei Sinn, Starmer, einen
Abgeordneten aus dem Süden, zudem Brexit-Gegner, zum Parteiführer zu
bestimmen? Falls nicht, wäre Lisa Nandy aus der nordenglischen Provinz und
pro Brexit die bessere Wahl? Oder soll Labour etwa Corbyns Wunschkandidatin
Rebecca Long Bailey in Betracht ziehen? Sicher ist nur, dass sich auf
Corbyns Nachfolger*in die bösartige britische Presse stürzen wird, die
Johnson in Ruhe lässt.
Ich glaube nicht, dass Labour viel mehr tun kann als abzuwarten, wie sich
der baldige EU-Austritt Großbritanniens auswirken wird. Die Partei muss
gegen ausländerfeindliche Stimmungsmache von Johnson gefeit sein, wo er
doch ständig behauptet, es sei höchste Zeit, dass die Engländer wieder
Dominanz gegenüber den Ausländern geltend machen. Wenn es so weit kommt,
sind höchstwahrscheinlich auch Schotten und Iren Ausländer. Es steht zu
befürchten, dass das Vereinigte Königreich während Johnsons Amtszeit
auseinanderbrechen wird. Warum sollte ihn das kümmern?
Wenn England als einzige Region Großbritanniens übrigbleibt, wird die
komfortable Mehrheit der Tories zur Folge haben, dass wir nicht mehr weit
entfernt sind von einer spezifisch englischen Form von Faschismus. Vor fünf
Jahren war das noch unvorstellbar. Aber Faschismus und schamlose
Selbstdarstellung harmonieren traditionell gut miteinander.
Aus dem Englischen von Julian Weber
2 Feb 2020
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Adam Ganz
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