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# taz.de -- Neues Cover-Album von The Specials: Gespenster und Plagegeister
> Auf ihrem Album „Protest Songs 1924–2012“ rekontextualisieren die
> Ska-Ikonen The Specials Wutklassiker in der tristen britischen Gegenwart.
Bild: The Specials 2021: Terry Hall, Linval Golding und Horace Panter
Was für ein Timing! Ein Nummer-eins-Hit als Bericht zur desolaten Lage der
Nation. Sommer 1981: „Ghost Town“ von den Specials geht an die Spitze der
englischen Charts, genau in dem Moment, als im Liverpooler Hafenviertel
Toxteth schwere Unruhen ausbrechen.
„This town, is coming like a ghost town / All the clubs have been closed
down / This place, is coming like a ghost town/ Bands won’t play no more /
Too much fighting on the dance floor.“
Geisterstadt, Clubs dicht, Musik verstummt, Gewalt auf dem Dancefloor.
Davon singt die schwarz-weiße Two-Tone-Band zu einem vom Winde verwehten
Zeitlupen-Ska mit Exotika-Touch, Musik von Eingewanderten(kindern) aus der
Karibik. Nach dem Kollaps der britischen Autoindustrie wird Coventry, die
Heimat der Specials, zur Ghost Town. „Überall in England glauben die Leute,
dass der Song über ihre Stadt komponiert wurde.“
## Protest war immer
So steht es in der Ankündigung des neuen Specials-Albums „Protest Songs
1924–2012“. Sie hätten eigentlich immer Protestsongs komponiert, erklärt
Bassist Horace Panter via Zoom, er ist jetzt 68 und eins von drei
verbliebenen Gründungsmitgliedern. Nach „Ghost Town“ kommt 1981 der große
Split.
Die Band ist zu klein für zwei große Egos: Hier Terry Hall, der erratische
weiße (Haupt-)Sänger, dort Jerry Dammers, nicht minder erratischer Autor,
Organist und Produzent, der es nicht schafft, die Rolle des Bandleaders mit
seinem Hang zum Enfant terrible zu vereinbaren, ein Dilemma, das er mit
seinem Idol Sun Ra teilt. Es folgen Spalt-Projekte, The Special AKA, Fun
Boy Three, The Colour Field, Terry Hall absolviert eine unstete, mitunter
brillante Solo-Laufbahn (don’t call it Karriere!).
Seit nun gut zehn Jahren führen Hall, Panter und Lynval Golding ein
Afterlife als The Specials, das [1][2019 das Nummer-eins-Album „Encore“]
abwirft und die Rente sichert. Wer sich zur
Keine-Specials-ohne-Dammers-Fraktion zählt, darf hier aufhören zu lesen und
sich den Versuch eines alten Fans ersparen, sich das Alterswerk von drei
alten, halbwegs weisen Männern mit alten Protestliedern schönzureden.
## Das Jahr der Paranoia
„2020 hat alles verändert mit der Black-Lives-Matter-Bewegung und dem
zivilen Ungehorsam, [2][es war das Jahr von Paranoia und Protest].“ Sagt
Horace Panter. „Ursprünglich wollten wir ein Reggaealbum machen. Aber
Lynval und Nicolai, unser Keyboarder, bekamen beide diese komische Grippe.
Sie entpuppte sich als Covid 19.
Dann kam der Lockdown, Lynval musste zurück nach Seattle, wo er inzwischen
lebt, das war’s. Also haben wir beschlossen, ein Cover-Album zu machen mit
Protestsongs. Wir sind rangegangen wie an eine akademische Übung: Lass uns
recherchieren, nicht die naheliegenden Songs covern. Mit Ausnahme von ‚Get
up stand up‘, das ist ziemlich naheliegend.“
Ja, der „Steht auf und wehrt euch“-Evergreen von Bob Marley liegt nahe.
Weniger naheliegend ist, was die Specials daraus machen. Zurückgenommen,
introvertiert singt Lynval Golding „Get up stand up“, als hätte er Zweifel
an den hehren Worten von Marley, dem Aufstands-Posterboy. Die Specials
wissen, dass sie einen Aufruf zur Rebellion aus dem Jamaika der siebziger
Jahre nicht eins zu eins übertragen können ins Großbritannien der
Corona-Gegenwart.
## Bewusstsein für Situationen
Horace Panter weiß, wie er den müffelnden Begriff „Protest Song“ mit Hier…
Jetzt füllen kann. „Wir hatten keine Zielscheiben, keine Adressaten, nur
ein Bewusstsein für die Situation. 2020 hat alles auf den Kopf gestellt mit
der weltweiten Pandemie, den Protesten, dem zivilen Ungehorsam. Wir wollten
nicht sagen, Donald Trump ist an allem schuld oder Boris Johnson ist an
allem schuld. Wir nutzen die Musik als Transportmittel für Ideen, wie im
Mittelalter, als der Troubadour von Dorf zu Dorf zog, als wandelnde
Lokalzeitung.
Musik war immer probates Mittel, um über soziale Situationen zu
kommunizieren. Populäre Musik damals, das waren keine Songs über Mädchen
und Autos.“ Kommunizieren – das können the Specials: das Mehrstimmige, das
Dialogische, Schwarze Stimmen, weiße Stimmen, Männerstimmen,
Frauenstimmen. Aber was sagen uns die alten Lieder über die Gegenwart? „Sie
können etwas rekontextualisieren.“
Die Specials stellen alte Songs in neue Zusammenhänge und geben ihnen so
eine aktuelle Qualität, wie sie vor 40 Jahren Ska und Reggae aus Jamaika in
die britische Gegenwart geholt haben. Das funktioniert gerade bei Songs,
die ursprünglich nicht als Protestsongs gedacht waren. „Everybody knows“
etwa, ein mystisch verrätselter Song von Leonard Cohen aus dem Jahr 1988.
## Die Pandemie breitet sich schnell aus
33 Jahre später nimmt Terry Hall den Text beim Wort, Cohens wolkige Lyrik
bekommt einen geradezu konkretistischen Realitätsbezug: „Everybody knows
the plague is coming / Everybody knows that it’s moving fast“. Aus der
düsteren Prophezeiung des Originals wird bei den Specials: die Paranoia von
Corona. „Everybody knows the boat is leaking / Everybody knows the captain
lied.“ Aus der Prophezeiung wird: das Mittelmeer als Massengrab für
Geflüchtete. Neben Cohen und Marley werden die Talking Heads gecovert,
Civil-Rights-Gospel von den Staple Singers und Bürgerschreckrock von Frank
Zappas Mothers of Invention.
Am überzeugendsten funktioniert das, wenn Terry Hall seinen persönlichen
Überdruss an dieser Welt politisiert. „Fuck all the perfect people“,
flüstert Hall, statt es rauszubrüllen. Der torkelnde Walzer von Chip Taylor
– Autor des Beat-Klassikers „Wild Thing“ – unterläuft den allfälligen
Imperativ zur Selbstoptimierung mit der Klarstellung, dass nach Perfektion
in einer unperfekten Welt nur strebt, wer halt ein Strebertrottel ist.
Folglich muss sich auch nicht grämen, wer in dieser Welt scheitert: „I
don’t mind failing in this world“ – wer könnte das Lied der kalifornisch…
Sängerin/Aktivistin Malvina Reynolds zwingender performen als Terry Hall?
## An Depressionen leiden
Mit zwölf Jahren wird er von einer Bande Pädosexueller entführt, seitdem
leidet er unter Depressionen. Es ist wohl kein allzu übergriffiger
Kurzschluss vom Künstler auf sein Werk, wenn man – mit dem britischen Autor
Mark Fisher – behauptet, dass Hall die Gespenster seines Lebens nicht nur
nicht loswird, sondern dass diese Gespenster durch seine Lieder geistern.
Nein, Depression ist keine Privatsache, psychische Gesundheit in einem
kranken System keine Normalität. Daran erinnert der Ausnahmesänger Terry
Hall immer wieder, mit seiner qua Punk und New Wave kultivierten
„Poignancy“, das Wort steht gleichermaßen für Schärfe und Schmerzlichkei…
Und Hall kann den Deadpan-Humor des US-Stummfilmstars Buster Keaton singend
reanimieren.
Für „Protest Songs 1924–2012“ greifen die Specials zurück auf antike
Spielarten populärer Musik: Rockabilly, Skiffle, Boogie-Woogie, Gospel.
Notausgang Nostalgie? Der Vorwurf liegt nahe. Horace Panter sieht es
anders: „Wir haben uns darüber hinweggesetzt, wie die Specials angeblich
klingen sollten. Wir brauchen nicht immer einen Ska- oder Reggae-Beat. Wir
haben uns musikalisch erweitert, ich mag das.“
Klar, cutting edge sind sie nicht mehr, aber wäre nicht schon der Versuch
lächerlich, von drei Sixty-Somethings? Geblieben sind: die Kontinuität des
Vielstimmigen und der Themen. Damals der Bergarbeiterstreik, die
neoliberale Wende von Margaret Thatcher, Rock Against Racism. Apropos
Rassismus: Wie sieht’s damit heute aus in Großbritannien, Horace Panter?
„Besser als 1979. Ich habe zehn Jahre als Lehrer gearbeitet, bevor die
Specials wieder zusammenkamen. Meine Erfahrung mit Schulkindern hat mich
gelehrt, dass Rassismus vererbt wird. Wenn dein Vater keine Pakistanis mag,
dann gibt er diese Haltung weiter an seine Kinder. Aber Kinder gehen mit
Kindern aus verschiedenen Kulturen zur Schule und sie kommen miteinander
aus. Sie teilen Süßigkeiten und spielen zusammen Fußball. So verändern sich
die Dinge auf organische Art, ich bin da ganz optimistisch.“
Dieser, na ja, [3][nachdenkliche Optimismus] trägt dazu bei, dass das neue
Album der britischen Band mehr geworden ist als eine selbstgefällige Reise
von drei verbitterten alten Männern in die Vergangenheit. Musik zur Zeit,
inna Specials way.
28 Oct 2021
## LINKS
[1] /Neues-Album-von-The-Specials/!5580929
[2] /Grossbritannien-nach-dem-Brexit/!5660395
[3] /The-Specials-auf-Tour/!5583564
## AUTOREN
Klaus Walter
## TAGS
The Specials
Ska
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Coverversion
Mick Jagger
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Ska
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