# taz.de -- Großbritannien vor dem Brexit: Wider den Fatalismus | |
> Am Freitag ist offizieller Brexit-Termin. Wie fühlt sich das für einen | |
> Deutschen an, der seit 1999 in der britischen Stadt Birmingham lebt? | |
Bild: Straßenszene im Viertel Digbeth in Birmingham, wo viele den Brexit befü… | |
Auch der 31. Januar 2020 wird wieder ein Tag wie jeder andere sein. | |
Business as usual. Zumindest in Birmingham, der zweitgrößten Stadt des | |
einstmals großen Britannien. Dort arbeite ich seit Anfang 1999 an einer | |
Universität, als Dozent für German Studies, wie das hier heißt, denn | |
landeskundliche Wissensvermittlung und Sprachunterricht haben längst das | |
Studium der deutschen Literatur und Kultur ersetzt. | |
Anders verlaufen dürfte der Tag in London: Der stramm rechte Parteiführer | |
der Ukip, Nigel Farage, übrigens verheiratet mit einer Deutschen, wird zur | |
Feier der segensreichen Befreiung vom Brüsseler Joch – da muss man sich | |
letztmals nach Europa richten – das Läuten von Big Ben vom Tonband | |
abspielen. Wegen der Zeitverschiebung nicht erst Punkt Mitternacht – denn | |
für den Zeitpunkt des Austritts gilt die kontinentaleuropäische Zeit –, | |
sondern schon um 23 Uhr Greenwich Mean Time. Eine [1][Farce], so wie der | |
ganze Brexit. | |
Der konservative Premierminister Boris Johnson wiederum dürfte, zusammen | |
mit den Getreuen seines Kabinetts, triumphal ins Blitzlichtgewitter | |
grinsen. Denn beide Politiker haben erreicht, was sie schon immer wollten: | |
das Amt des Premierministers und den Ausstieg aus der Europäischen Union, | |
oder anders gesagt: eine tief greifende politische Katastrophe samt totaler | |
Selbstdemontage des (Un-)Vereinigten Königreichs. | |
## Dummheit siegt | |
Aber der wahre Schock war der 24. Juni 2016. Am Vorabend hatte ich in | |
Berlin die Buchpräsentation einer Veröffentlichung über Bob Dylan | |
moderiert. Als wir danach zusammensaßen, sagten mir viele Freunde und | |
Bekannte: „So dumm können die Briten doch nicht sein. Die Vernunft wird | |
siegen.“ Ich war mir unsicher, rechnete schon damals mit einem knappen | |
Ausgang, allerdings gegen den [2][Brexit]. Es wurde knapp, ging aber genau | |
andersrum aus. Dummheit siegt. Unter den britischen Germanisten, freilich | |
nicht nur bei ihnen, herrschte lange Zeit veritable Schockstimmung. Dann | |
wurde der Wahnsinn zur Normalität, die Dummheit zum politischen Leitfaden. | |
Doch es gab ja ohnehin erst mal drei Jahre Ruhepause. Manche Kollegen | |
bauten darauf, dass es eh nie so weit kommen würde; eine Kollegin | |
beantragte sicherheitshalber die britische Staatsbürgerschaft. Ich tauschte | |
meine drivers’s licence gegen einen deutschen Führerschein und beantragte | |
einen deutschen Personalausweis. Zugegeben: hilflose Symbolgesten, aber mit | |
dem britischen Staat wollte ich fortan nichts mehr zu tun haben. Nach | |
nahezu 25 Jahren in England, in denen ich mich zu ungefähr einem Drittel | |
durchaus als Brite gefühlt habe. | |
Als ich nach dem Referendum mit den [3][Studierenden] über das Ergebnis | |
sprach, trat etwas für mich nicht minder Schockierendes zutage: Nur eine | |
Minderheit hatte überhaupt von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht und an der | |
Abstimmung teilgenommen. Demoskopische Analysen bestätigten das: | |
Konservative Brexit-Befürworter über 50 hatten die europafreundliche | |
Generation der 18- bis 35-Jährigen einfach überstimmt, da diese kein | |
sonderliches Interesse an der politischen Entscheidung, die maßgeblich über | |
ihre Zukunft bestimmen wird, gezeigt hatte. Aber vielleicht, so denke ich | |
manchmal, ist das die gerechte Strafe für diese depolitisierte Generation? | |
Die einzige Person, die sich im Seminarraum über den Brexit aufregen kann, | |
bin ich. Die Studierenden nehmen alles eher gleichmütig oder fatalistisch | |
hin. | |
## Politische Unmündigkeit | |
Die politische Unmündigkeit der jungen Menschen ist freilich eine Folge der | |
zur Abschaffung tendierenden Reduktion solcher Unterrichtsfächer wie | |
Sozialkunde und Geschichte an den Schulen. Dass zudem der verpflichtende | |
Fremdsprachenunterricht in einer der vielen verqueren Bildungsreformen der | |
Tories abgeschafft wurde, ist kardinal verantwortlich für die beständig | |
sich verschlimmernde Misere des Studienfachs Modern Languages. | |
Stand ich vor 20 Jahren in den Pflichtvorlesungen noch 50 oder mehr | |
Studierenden gegenüber, so schaue ich mittlerweile in weniger als fünf | |
Gesichter. In anderen Kursen sind teilweise nur noch um die zwei | |
Studierende, Tendenz fallend. Wohin dieser sich seit rund 15 Jahren in ganz | |
Großbritannien vollziehende Prozess zunehmenden Desinteresses an | |
Fremdsprachen und Geisteswissenschaften, begleitet von Einschränkungen der | |
akademischen Freiheit, noch führen wird, ist schwer zu sagen. Es lässt sich | |
gleichwohl leicht ausrechnen. | |
Den Brexit sehe ich insofern als ein Epiphänomen der ganzen Abkopplung des | |
multikulturellen Großbritannien von Europa. Das überwiegend [4][Leave | |
wählende Birmingham] ist dafür paradigmatisch, denn die Millionenstadt ist | |
stark von Migrant*innen aus Pakistan, Indien und den West Indies geprägt, | |
deren kultureller Horizont nicht in Berlin oder Paris liegt, sondern in | |
ihren Herkunftsländern. Der Brexit bedeutet für diese Schichten, | |
ironischerweise, eine willkommene Revitalisierung der alten | |
Commonwealth-Bande. | |
## Kein Teil von Europa? | |
Wie ein Teil von Europa hat sich England für mich ohnehin nie angefühlt. | |
Das war ja lange Zeit das Schöne daran, ein Auslandsdeutscher zu sein. Auch | |
wenn man, wegen Britanniens Schengen-Verweigerung, so wie früher bei jeder | |
Einreise Schlange stehen und den Pass vorzeigen musste; dafür durfte man | |
die Uhr umstellen, Entfernungen wurden in Meilen angegeben und die Euros | |
gegen die seltsame Währung der Briten getauscht: komische Münzen in markant | |
unterschiedlicher Formgebung und Material, keine Banknoten über 20 Pfund | |
(seit Kurzem aus glibberigem Plastik) und überall das Konterfei der | |
jugendlichen Königin. | |
Überhaupt, Her Majesty! Zwar besaß Großbritannien noch lange den Nimbus, | |
ein Hort der Demokratie zu sein, dass die Monarchie jedoch nie abgeschafft | |
wurde, ist meines Erachtens für das demokratische Defizit und die | |
politische Misere des Landes ausschlaggebend. Die pure Existenz der mit | |
pomp and circumstance den Staat repräsentierenden königlichen Familie | |
stützt das unverändert herrschende Klassensystem. Und damit die skandalöse | |
Kinderarmut, das markante sozioökonomische Gefälle zwischen Nord und Süd | |
und die Existenz sozial entkoppelter Unterschichten. | |
Dass auch die Windsors eine komplett dysfunktionale Familie sind, hat sich | |
nicht erst seit dem Skandal von Prinz Andrews Komplizenschaft mit dem | |
Serienvergewaltiger Jeffrey Epstein und der Seifenoper um Harry und | |
Meghan gezeigt. Wann, wenn nicht jetzt, angesichts der Tragikomödie des | |
Brexit, hätte die Königin ausscheren müssen, um direkt oder indirekt zu | |
versuchen, die Selbstzerstörung ihres Landes zu verhindern? | |
## Angst vor No-Deal-Brexit | |
Die Weichen dafür sind gestellt. Dass ich dem 31. Januar keine sonderliche | |
Beachtung zumesse, liegt natürlich daran, dass es der 1. Januar 2021 sein | |
wird, an dem sich alles entscheidet. Doch, so fürchte ich, die Würfel sind | |
längst gefallen: Alles wird auf einen für alle desaströsen No-Deal-Brexit | |
hinauslaufen, vielleicht sogar aus Westminster bewusst dorthin gelenkt | |
werden. | |
Selbst wenn der Politclown Boris Johnson, gegen seine erklärten Absichten, | |
vor Jahresende 2020 doch noch um eine Verlängerung der Fristverlängerung | |
bitten wird, reicht das nicht aus, um die notwendigen multilateralen | |
Handelsverträge zu schließen. Neben den ökonomischen Folgen, die das alles | |
hat, werden sich die großzügigen Finanzierungsversprechen der Regierung als | |
hohl herausstellen. Das Gesundheitswesen NHS wird noch weiter | |
zusammenbrechen, und auch die politischen Folgen für die union sind | |
unabsehbar, weil auf jeden Fall die Schotten, wohl die Nordiren und | |
vielleicht auch die Waliser die nationalistische Verantwortungslosigkeit | |
der Engländer nicht länger tolerieren werden. | |
Ein Zerfall des United Kingdom liegt im Bereich des Möglichen. So oder so | |
wird die inkompetente Regierung unter Boris Johnson, nein: das ganze Land | |
wird einen ökonomischen und sozialen Schiffbruch erleiden. Und um es offen | |
zu sagen: Nach all dem, was ich in den letzten dreieinhalb Jahren erleben | |
musste, wünsche ich es den Verantwortlichen sogar. Schadenfreude ist | |
immerhin ein deutsches Wort, das man auch in England kennt (wenngleich man | |
es nicht korrekt auszusprechen versteht). | |
30 Jan 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://vimeo.com/375381761 | |
[2] /Warum-die-Briten-fuer-den-Brexit-stimmten/!5579705 | |
[3] /Sorgen-britischer-Unis-vor-dem-Brexit/!5656758 | |
[4] /Nordengland-vor-dem-Brexit/!5581561 | |
## AUTOREN | |
Uwe Schütte | |
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