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# taz.de -- Brexit nach 47 Jahren in der EU: Der lange Weg zum Austritt
> 47 Jahre lang war das Vereinigte Königreich Teil der EU. Schon immer
> hatte die Mitgliedschaft Gegner. Warum sich die Scheidung dennoch hinzog.
Bild: Ein Mann mit Schlagkraft. Boris Johnson auf Wahlkampftour in der Boxakade…
Es war eine historische Nacht. Am 23. Juni 2016 strömten die Briten an die
Wahlurnen, um die Frage „Soll Großbritannien in der EU bleiben oder die EU
verlassen?“ zu beantworten. Bei Sonnenaufgang war klar, was ein
BBC-Sprecher wie eine Todesnachricht verkündete: „Großbritannien hat dafür
gestimmt, die Europäische Union zu verlassen.“
[1][Der Brexit wurde mit 17.410.742 Stimmen beschlossen] – 51,9 Prozent
der Abstimmenden und mehr, als jemals in Großbritannien für eine politische
Partei gestimmt haben. In den Jahren seither hat das Land zwei Neuwahlen
erlebt und zwei Wechsel im Amt des Premierministers. Aber am 31. Januar um
23 Uhr britische Zeit – Mitternacht auf dem Kontinent – wird Großbritannien
nun doch aus der EU austreten.
Der Brexit beendet ein 50-jähriges Experiment, das immer kontrovers gewesen
ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg suchten zunächst die Konservativen eine
engere Bindung an Europa als Ersatz für das schwindende Empire.
Am 22. Januar 1972 unterschrieb der konservative Premierminister Edward
Heath in Brüssel den Beitrittsvertrag der EWG mit Großbritannien, Irland,
Dänemark und Norwegen. Er trat am 1. Januar 1973 in Kraft – außer in
Norwegen, wo er in einer Volksabstimmung durchfiel.
## Die Parameter verschoben sich
Der Kern des späteren Arguments für den EU-Austritt war beim Beitritt
bereits klar. „Dies ist der erste Vertrag in unserer Geschichte, der das
britische Parlament und das britische Volk der demokratischen Rechte
berauben würde, die sie seit vielen Jahrhunderten ausüben“, erregte sich im
Unterhaus der hochrangige Labour-Politiker Peter Shore.
Als Labour 1974 an die Macht kam, wurde der Verbleib erst mal per
Referendum geklärt. 17.378.581 britische Wähler – 67,23 Prozent der
Abstimmenden – bestätigten die EWG-Mitgliedschaft am 5. Juni 1975, fast
genauso viele, wie sie 41 Jahre später wieder kippen würden.
Doch beendet war die Debatte damit nicht. Es verschoben sich lediglich die
Parameter. Die Konservativen wurden euroskeptischer, als sich „Europa“ hin
zu einer politischen Union entwickelte; die Labour-Partei wurde
EU-freundlicher, als sie sich von altlinken Positionen verabschiedete.
Als David Cameron 2010 konservativer Premierminister wurde, hielt er das
Kapitel Europa für abgeschlossen. Doch er irrte. Seine Koalitionspartner
waren die EU-freundlichen Liberaldemokraten, seine eigene Parteibasis
liebäugelte mit der EU-feindlichen United Kingdom Independence Party
(Ukip) des Populisten Nigel Farage.
## Brexit means Cameron-exit
Cameron suchte den Befreiungsschlag: 2013 versprach er ein Referendum über
die EU-Mitgliedschaft. Das sicherte ihm 2015 die absolute Mehrheit im
Parlament. Nach diesem Überraschungssieg, kurz nach dem Sieg im
Schottland-Unabhängigkeitsreferendum 2014, holte der Premier zum Hattrick
aus: Jetzt noch schnell das EU-Referendum gewinnen. Er setzte es für 2016
an.
Was Cameron nicht bedachte: Damit bot das Referendum eine Steilvorlage, um
ihn selbst vom Thron zu stoßen. Sein ewiger Rivale seit Schulzeiten,
Londons Oberbürgermeister Boris Johnson, ließ sich nicht zweimal bitten.
Als populärster Politiker des Landes hievte sich Johnson an die Spitze der
EU-Austrittskampagne „Vote Leave“.
Es war ein Sprung ins Ungewisse. Die EU-Gegner waren heillos zerstritten.
Nigel Farage hielt die konservative Rechte für einen elitären Klüngel.
Boris Johnson hielt die Ukip für mehrheitsunfähige Demagogen. Beide führten
rivalisierende Kampagnen.
Am Ende war aber die Kombination aus beiden mehrheitsfähig: die Begüterten
mit Johnsons „Take Back Control“, die Abgehängten und die Zuwandererfeinde
mit Farages Hetze.
## Lady Unklar
Noch am Morgen seiner Niederlage [2][trat David Cameron zurück]. Aber Boris
Johnson trat nicht vor. Er schien von seinem Sieg überrascht zu sein, wie
alle anderen. Die Machtfrage blieb ungeklärt. Als Verkörperung dieser
Unklarheit wurde Innenministerin Theresa May Premierministerin.
[3][May, eine ruhige Hand, schien genau die Richtige für diese aufgeregten
Zeiten zu sein]. Sie sagte klar: „Brexit means Brexit“ – das
Referendumsergebnis wird umgesetzt, kein Wenn und Aber.
Andererseits blieb sie im Unklaren: „Brexit means Brexit“ – wie der
EU-Austritt genau aussehen sollte, ließ sie offen. Klar war nur das
Prozedere: Laut Artikel 50 der EU-Verträge kann ein Mitgliedstaat den
Austritt ankündigen, der dann nach zwei Jahren vollzogen wird; in der
Zwischenzeit wird ein Austrittsabkommen geschlossen.
May zögerte mit der Entwicklung einer Strategie. Und die Brexit-Gegner
witterten ihre Chance: Streng genommen war das Referendum gesetzlich nicht
bindend. Das Parlament, in dem die Mehrheit der Abgeordneten eigentlich den
EU-Austritt ablehnte, konnte also den Prozess blockieren.
## Bereits gelegte Fallstricke
Als Erstes erstritten die Pro-EU-Kräfte vor Gericht, dass das Parlament und
nicht die Regierung die Aktivierung des Artikels 50 der EU-Verträge
beschließt. In Reaktion sagte May zu, auch das Ergebnis der Verhandlungen
mit der EU dem Parlament zur Billigung vorzulegen, noch vor der
Ratifizierung. Als das Unterhaus also am 1. Februar 2017 mit 498 zu 114
Stimmen das Austrittsverfahren einleitete, waren die späteren Fallstricke
bereits gelegt.
Der britische Austrittsantrag ging am 29. März 2017 in Brüssel ein. Damit
war der Austrittstermin 29. März 2019 gesetzt. Nun versuchte May, sich vom
Parlamentsvorbehalt zu befreien: Sie rief Neuwahlen aus in der Hoffnung,
ihre hohen Umfragewerte in eine große Mehrheit zu verwandeln.
Stattdessen büßte sie bei der Wahl am 8. Juni 2017 sogar die von Cameron
übernommene Minimehrheit ein. Ab dann saß sie in der Falle. Die EU
diktierte die Agenda und erklärte den Status Nordirlands zur zentralen
Frage. Im Parlament war May jetzt aber [4][von der nordirischen DUP
(Democratic Unionist Party) abhängig], die jeden Kompromiss in dieser
Frage ablehnte.
Gefangen zwischen einem Parlament, das sie nicht beherrschte, und einer EU,
die sie nicht überzeugte, blieb für Theresa May kein Gestaltungsspielraum.
Sie igelte sich ein, verlor Rückhalt in der eigenen Partei, aber beharrte
darauf, den Brexit zu Ende zu bringen, irgendwie.
## Verschieben ohne neue Ideen
Am 14. November 2018 stand endlich ein Deal zwischen Großbritannien und der
EU. Es war ein Rohrkrepierer. Das britische Unterhaus stimmte im Januar
2019 mit 432 zu 202 Stimmen dagegen. Die EU sagte, das Abkommen sei
alternativlos.
Aber ohne parlamentarische Zustimmung in London konnte es nicht in Kraft
treten. Der „No-Deal-Brexit“ am 29. März rückte immer näher. Ihn wollte
auch niemand, also verschob die EU den Brexit-Termin – erst auf den 12.
April, dann auf den 31. Oktober. Aber neue Ideen gab es nicht.
Der Tiefpunkt war bei den [5][Europawahlen am 24. Mai] erreicht: Die
Konservativen schrumpften auf 8,8 Prozent – die neue Brexit Party von Nigel
Farage siegte mit 30,5 Prozent.
Am 7. Juni erklärte May ihren Rücktritt. Jetzt, mit drei Jahren
Verzögerung, schlug Johnsons Stunde. Die Parteibasis wählte ihn zum neuen
Chef, am 24. Juli 2019 wurde er Premierminister.
## Kein Triumph für Johnson
Eine Parlamentsmehrheit hatte Johnson genauso wenig wie May. Aber anders
als May blies Johnson zum Gegenangriff. Er schloss eine erneute
Verschiebung des Brexit über den 31. Oktober hinaus aus. Er schmiss
Abweichler aus der Fraktion. Er nahm Neuverhandlungen mit der EU auf – und
was die EU May noch verweigert hatte, gewährte sie Johnson: die Streichung
des Nordirland-Backstops.
Ein neuer Brexit-Deal wurde am 17. Oktober präsentiert – eigentlich
rechtzeitig. Ein bereits beschlossenes Gesetz, den Brexit auf den 31.
Januar zu verschieben, schien Makulatur zu sein.
Doch das Parlament wollte Johnson keinen Triumph gönnen. Es setzte die
nötige Abstimmung zur Billigung des Brexit-Deals einfach aus. Damit musste
der Brexit auf den 31. Januar verschoben werden, trotz Abkommen. Johnson
verlangte Neuwahlen. Das Parlament lehnte ab. Die Blockade war komplett.
## Höchste Mehrheit seit Blair
Erst im November schwenkten Teile der Opposition auf Neuwahlkurs in der
Hoffnung, Johnson sei nun so diskreditiert, dass er verliert und mit ihm
der Brexit untergeht. Es kam anders: D[6][ie Wahlen am 12. Dezember gewann
Johnson souverän], mit dem Slogan „Get Brexit Done“ holte er die höchste
absolute Mehrheit eines britischen Premiers seit Tony Blair.
Der Rest war Formsache. Am 23. Januar 2020 unterzeichnete die Queen das vom
neu gewählten Parlament durchgewunkene Gesetz zum Brexit-Deal. Am heutigen
Freitag verlässt Großbritannien die EU.
31 Jan 2020
## LINKS
[1] /Nach-dem-Brexit-Referendum/!5316334
[2] /David-Cameron-nach-dem-Brexit/!5323031/
[3] /Tories-nach-dem-Brexit/!5321137/
[4] /Grossbritannien/!5416280
[5] https://www.bundeswahlleiter.de/info/presse/mitteilungen/europawahl-2019/37…
[6] /Grossbritannien-nach-der-Wahl/!5650530
## AUTOREN
Dominic Johnson
## TAGS
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