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# taz.de -- Brexit-Flüchtling über den Brexit: „Ich habe Angst bekommen“
> Günther Schwarz hat 38 Jahre in Großbritannien gelebt. Wegen des Brexit,
> der am Samstag beginnt, ist er vor einem Jahr zurück nach Bremen gezogen.
Bild: Lebt in Kirchweyhe, hat noch ein Haus in Newbury: Günther Schwarz
Der Union Jack ziert die Fußmatte vor dem Haus von Günther Schwarz in
Kirchweyhe bei Bremen. In der Küche steht ein Glas der Würzpaste „Marmite“
im Regal. An den Wänden hängen Reisemitbringsel aus ganz Europa und
darüber hinaus, darunter gleich zwei Mal die Bremer Stadtmusikanten. Zum
Kuchen reicht Schwarz den stärksten Kaffee, den die Fotografin je getrunken
hat.
taz: Herr Schwarz, Sie sind 1981 nach England gezogen – da war ja Thatcher
noch an der Macht.
Günther Schwarz: Ja, Thatcher ist ’79 gewählt worden. England hatte in den
70ern eine große Wirtschaftskrise, deswegen ist Großbritannien in die EU
eingetreten. [1][Thatchers Regierung] hat dann erst einmal gekürzt, im
ganzen öffentlichen Dienst, bei Lehrern, überall, es gab keine neuen
Stellen. Ich hatte mich damals nach dem Studium in Frankfurt beraten
lassen, da gab es so eine Stelle für ausländische Jobs. Die haben mir
gesagt, wir haben keine Angebote für England, da ist tote Hose, Sie müssen
selbst gucken, ob Sie etwas finden.
Aber Sie haben dann etwas gefunden.
Ja. Ich habe mit meiner Freundin erst einmal Urlaub in Südengland gemacht,
und dann haben wir innerhalb von drei Wochen beide etwas gefunden, in
Plymouth, wo wir jemand kannten. Ich habe dann ein Jahr als Lehrer an einer
Privatschule gearbeitet.
Wollten Sie unbedingt nach England?
Nein, wir wollten einfach probieren, eine Zeit im Ausland zu leben. Ich
hatte mich gefühlsmäßig in Frankreich viel wohler gefühlt, mein Französisch
war viel besser und von England wusste ich nicht viel. Aber das Englisch
meiner Freundin war perfekt, das war dann eine knappe Entscheidung für
England. Wir wollten ein halbes Jahr bleiben. Daraus wurden 38 Jahre.
Haben Sie sich gleich wohl gefühlt?
Doch, gerade im Südwesten, es ist sehr schön dort, ein Urlaubsgebiet. Ich
habe vom Klassenraum aufs Meer geschaut. Meine Freundin ist dann zum
Studium nach Swansea in Wales. Ich bin mitgegangen und habe dort unter
anderem an einer Gesamtschule gearbeitet, bis wir uns getrennt haben.
Zurück nach Deutschland wollten Sie nicht?
Nee. Ich habe mich auf den Job in Newbury beworben, das fand ich
interessant, weil es näher an London ist, nicht wie Swansea am Ende der
Welt. Da kommen noch ein paar Schafweiden und dann der Atlantik. Mit 57
habe ich mich pensionieren lassen, das war genial. Ich habe mir ein
Wohnmobil gekauft und mein Leben genossen. Und dann kamen 2016 auch schon
die Brexit-Sachen. Da war ich sehr aktiv. Wir hatten immer
Informationstische in der Stadt. Es haben Leute aus allen Parteien
mitgemacht, auch unser konservativer Abgeordneter. Nach dem Referendum war
er plötzlich für den Brexit.
Haben Sie den Brexit kommen sehen?
Nee, das hat keiner. Aber vielleicht hätte man es ahnen können. Es gibt
hier keine Schilder „Dieses Projekt wurde von der EU finanziert“ wie in
anderen Ländern. Und die Regierung, egal ob Labour oder Konservative, hat
es peinlich totgeschwiegen, dass wir in der EU sind. Und der Großteil der
Medien ist sehr europafeindlich, angeführt von der Sun und der Times, die
beide [2][Rupert Murdoch gehören], der amerikanische Interesse vertritt –
und Amerika hat kein Interesse an einer funktionierenden EU. Die Zeitungen
haben gegen die EU gehetzt wie nichts Gutes, unter anderem unser jetziger
Premierminister, der tolle Boris Johnson, als er noch Korrespondent in
Brüssel für den Daily Telegraph war. Das ist ein übel rechtes Blatt! Nichts
als Lügen, Lügen, Lügen.
Aber Leser*innen suchen sich doch auch die Medien, die ihrem eigenen Denken
entsprechen.
Ja, es gab in England immer eine ganz patriotische Linie – „Unser
Königshaus!“, „Unser Großbritannien!“ Mir haben Leute, wenn sie an unse…
Ständen vorbeikamen, erzählt: „Wir brauchen die EU nicht, wir haben doch
das Empire!“ Der Bildungsstand, gerade was die politische Bildung angeht,
ist katastrophal in England. So etwas wie die deutsche Gemeinschaftskunde
oder wie immer man das nennt, gibt es dort nicht.
Aber es haben doch auch gut Ausgebildete für den Brexit gestimmt.
Da muss man aber genau gucken, wo das war. In der ganzen Gegend westlich
von London, wo ich gelebt habe, waren alle gegen den Brexit.
Haben Sie auch erlebt, wie Freundschaften am Brexit zerbrachen?
Nein. Das liegt vielleicht auch daran, dass die meisten meiner Freunde
keine Engländer waren. Die sind eigentlich alle sehr nett und freundlich,
aber ich habe nur wenige kennengelernt, die so weltoffen sind und sich als
Europäer sehen.
Galten Sie als Ausländer?
Nein, ich war Leiter einer großen Einrichtung und stadtbekannt, aber ich
glaube nicht als „der Ausländer“.
Als „der Deutsche“?
Auch nicht.
Dabei pflegen die Engländer ja gerne die [3][Deutschen-Klischees].
Das ist besser geworden. Ganz zu Anfang gab es diese Filme, wo die
Deutschen immer supergut organisiert waren und im Gleichschritt marschiert
sind und zackig gesprochen haben. Die Engländer waren immer so ein bisschen
lässig und nicht so gut organisiert und ihre Technik funktionierte nicht,
aber sie waren die besseren Menschen, deshalb haben sie gewonnen. Die
Briten haben eine Hassliebe für Deutschland. Sie bewundern Deutschland,
andererseits hassen sie es, weil die Deutschen wirtschaftlich so
erfolgreich sind, obwohl sie den Krieg verloren haben.
Wie haben Sie vom Ergebnis des Brexit-Referendums erfahren?
Das war am 23. Juni 2016, ich war bei Freunden in Bayern und völlig fertig,
als ich am Morgen das Radio angemacht habe.
Haben Sie gleich gedacht: „Jetzt gehe ich“?
Da fing das an, ja. Die EU ist Teil meines Lebens, ich habe in bestimmt 20
EU-Staaten Freunde, weil ich so viel reise und immer Untermieter hatte aus
verschiedenen Ländern. Für mich ist das ein Lebensgefühl, mit Menschen
anderer Kulturen zusammen zu leben und das zu genießen. Und als diese
fremdenfeindlichen Sachen anfingen, war ich schon sehr zerstört. Als die
Labour-Abgeordnete Jo Cox am Wahlkampfstand erstochen wurde, oder diese
vielen Angriffe auf polnische Menschen. Ein junger Mann wurde an einer
Bushaltestelle getötet, nur weil er polnisch gesprochen hat. Und das war
alles noch vor dem Referendum.
Wurden Sie selbst angegriffen?
An diesen Infoständen kamen immer mal Leute vorbei, die sagten, wenn sie
hörten, dass ich Deutscher bin: „Geh doch nach Hause.“
So etwas haben Sie vorher nie erlebt?
Nein. Wahrscheinlich gab es das vorher, aber niemand hat sich getraut,
damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Durch die Regierungsarbeit fühlen
sich solche Leute jetzt ermutigt, den Hass zu verbreiten. In London habe
ich auf einer Demonstration erlebt, wie die English Defense League, das
sind so Schlägertypen, versucht hat, uns zu attackieren. Die haben uns
eingekreist und die Polizei hat uns in einem Umweg rausgeleitet und uns
geraten, auf keinen Fall die Gruppe zu verlassen, weil die versucht haben,
Leute einzeln herauszugreifen. Da war ich zum ersten Mal froh, dass so viel
Polizei da war. So schlimm ist es geworden, mir macht das wirklich Angst.
Diese Entwicklung hat es in Deutschland ja auch gegeben. Kommen Sie vom
Regen in die Traufe?
In Bremen geht es ja noch. Aber es gibt Regionen, da würde ich mich auch
nicht wohl fühlen.
Wann fiel die endgültige Entscheidung zu gehen?
Vor zwei Jahren, weil ich gemerkt habe, dass es im Parlament in Richtung
Brexit ging. Ich habe angefangen, mir ernsthaft Sorgen um mein Wohlergehen
zu machen, nachdem ich gehört habe, dass Leute auf offener Straße
attackiert wurden. In Newbury nur verbal, aber zum Teil sehr heftig – „Was
willst du noch hier?“ Ich hatte aber auch früher schon mal hier nach einer
Wohnung gesucht, als ich aufgehört habe zu arbeiten. Ich hatte überlegt,
nach Prag oder Paris zu gehen, weil ich überall Freunde habe. Aber die
meisten dann doch hier, viele noch aus dem Studium.
Vermissen Sie England?
Nee, gar nicht. Ich habe mich früher immer gefreut, wenn ich von Reisen
zurückgekommen bin, jetzt nicht mehr. Also auf mein Haus und meine Freunde
schon, aber sonst nicht.
Sie fahren in drei Wochen noch mal hin, dann ist der Brexit vollzogen. Wie
wird das?
Ich habe diesen „settled status“ – den musste ich beantragen. Damit darf
ich ins Land. Das muss man sich mal vorstellen: Ich lebe dort, habe ein
Haus, beziehe Rente – und soll beantragen, dass ich dort wohnen darf.
Andere haben die Staatsbürgerschaft beantragt und mussten dafür viel Geld
bezahlen, weil sie Angst haben, irgendwann rausgeschmissen zu werden.
Sie wollten keinen englischen Pass?
Nee, ich bin Deutscher, sehe mich aber als Europäer. Ich kann mir nicht
vorstellen, einen britischen Pass zu beantragen. Dann müsste ich ewige
Loyalität auf die Königsfamilie schwören, da beiße ich mir lieber die Zunge
ab.
Sie haben über die Hälfte Ihres Lebens in England verbracht. Sind Sie gar
nicht traurig, dass es jetzt so endet?
Nee, ich kann ja wieder hingehen. Und dass ich mal weggehen würde, lag
schon länger in der Luft.
31 Jan 2020
## LINKS
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[2] /Medienmogul-Rupert-Murdoch/!5227566
[3] https://www.youtube.com/watch?v=7xnNhzgcWTk
## AUTOREN
Eiken Bruhn
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