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# taz.de -- Pro und Contra zum EU-Austritt: Ist der Brexit gut für die Insel?
> Yes? No? Stay? Go? Zwei britische Wissenschaftler streiten über den
> Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union.
Bild: Was hätte Winston Churchill zum Brexit gesagt?
## Yes!
Wir Unterstützer des Brexit haben uns an die Fragen unserer europäischen
Freunde, was denn in uns gefahren ist, gewöhnt. „[1][Seid ihr verrückt
geworden?]“ „Mögt ihr uns nicht mehr?“ „Wie könnt ihr bloß?“ – a…
naiven, manchmal berührenden Fragen hole ich tief Luft und versuche, mich
kurz zu fassen. Es hat nichts damit zu tun, Europa nicht zu mögen. Viele
führende Brexiteers haben enge europäische Beziehungen. Ich selbst habe in
meinem Berufsleben zumeist über Frankreich geschrieben und europäische
Geschichte gelehrt. Ich kenne Paris besser als London, die Pyrenäen besser
als die Highlands, Berlin besser als Liverpool.
Also wie erklärt man den Brexit? Eine verbreitete Ansicht ist, dass die
Briten – insbesondere die Engländer – anders seien. Das gilt mal als Lob
(demokratisch, unabhängig), mal als Anschuldigung (isolationistisch,
selbstbezogen). Man sollte mit essenzialistischen Erklärungen vorsichtig
sein. Ein Grund: Das [2][Referendumsergebnis von 2016] führte zu einer
knappen Mehrheit. Ein anderer: Die Haltung zur EU unterscheidet sich in
Großbritannien nicht sehr von der in Frankreich, Deutschland oder Italien.
Die grundlegende Erklärung für den Brexit ist einfach. Erstens: Wir durften
darüber abstimmen. Zweitens: Wir waren nicht in der Eurozone, sonst hätten
wir sicherlich aus Angst vor finanziellen Verwerfungen für die EU gestimmt.
Es wäre ein Fehler, den Brexit als extremistisch oder irrational anzusehen.
Er ist schlicht rational. Viele Kontinentaleuropäer haben aus ihrer
jüngeren Geschichte heraus eine emotionale Bindung an [3][die Idee eines
geeinten Europa] – wir Briten, vom 20. Jahrhundert weniger traumatisiert,
sehen es mehr als eine Wirtschaftsbeziehung. Wenn sie uns nichts mehr
nützt, warum drinbleiben?
Unsere [4][wirtschaftlichen Verflechtungen] mit der Eurozone sind zwar
wichtig, ihre Bedeutung nimmt aber ab. Wir betreiben weniger Handel mit der
EU als jeder andere Mitgliedstaat, unsere Exporte in Nicht-EU-Länder
hingegen wachsen dreizehnmal schneller als jene in Länder der Europäischen
Union. Der regulierte, protektionistische Binnenmarkt ist für die britische
Wirtschaft insgesamt gesehen nicht von Vorteil. Personenfreizügigkeit
bedeutet Einkommensstagnation, schärferen Wettbewerb um Arbeitsplätze und
Wohnraumverknappung. Ein einfaches Freihandelsabkommen mit Europa würde uns
ermöglichen, störungsfreien Handel mit dynamischeren globalen Märkten
auszuhandeln.
Aber dass wir 2016 für den Austritt stimmten, reichte Brüssel nicht. Dänen,
Niederländer, Iren, Franzosen, Italiener und Griechen haben alle schon mal
gegen die EU-Politik gestimmt, und alle wurden überredet oder gezwungen,
ihre Meinung wieder zu ändern. Viele dachten, wir würden das auch tun, und
taten ihr Bestes, damit das eintritt.
Für mich und viele andere wurde dies zum zentralen Punkt. Waren wir noch
eine Demokratie und ein unabhängiges Land oder war das eine Fassade? Jede
politische Partei hatte das Referendum von 2016 gebilligt. Bei den Wahlen
2017 versprachen Labour und die Konservativen beide, das Ergebnis zu
respektieren. Aber im Lauf der Zeit wurde immer klarer, dass sie es nicht
respektierten, und dass sie sogar planten, das ursprüngliche Ergebnis
rückgängig zu machen. Die Gefahr für die Legitimität unseres Staatswesens
war offensichtlich. Unser Status als souveräne Nation, die über ihre
Zukunft selbst entscheidet, stand auf dem Spiel. Ein großer Teil der Eliten
– in Politik, Wirtschaft, Medien, Universitäten – weigerte sich, [5][ein
demokratisches Mandat zu akzeptieren].
Das durfte man nicht zulassen. Und trotz der Anti-Brexit-Propaganda wurde
es nicht zugelassen. Wenn die Vernunft und ein aufgeklärtes Eigeninteresse
überwiegen, wird der Brexit kein Desaster, weder ökonomisch noch politisch.
Wir wollen gleichberechtigt mit der EU Handel treiben. Wir werden nach wie
vor überdurchschnittlich zur Verteidigung und zur Sicherheit Europas
beitragen – die britischen Truppen im Baltikum werden bleiben, und unsere
Geheimdienste dürften unseren europäischen Verbündeten weiterhin
zugutekommen. In Zukunft werden wir unsere Politik weniger an Europa
ausrichten – wozu sollten wir sonst zwei riesige neue Flugzeugträger bauen?
–, aber wir bleiben eine europäische Nation.
Der Brexit stärkt den Zusammenhalt im Vereinigten Königreich, weswegen
Nationalisten in Schottland, Nordirland und Wales ihn hassen. Unabsichtlich
oder nicht ermutigt die EU [6][Separatisten wie in Katalonien] – solange
Großbritannien zur EU gehört, können schottische Nationalisten sich
vorstellen, Slowenien oder Luxemburg nachzueifern; nach dem Brexit wäre ein
unabhängiges Schottland nicht überlebensfähig.
Kein Zweifel: Für das „europäische Projekt“ der 1950er Jahre ist der Brex…
ein historisches Versagen. Doch es liegt im Interesse aller, künftig eine
freundschaftliche Zusammenarbeit aufzubauen und den Antagonismus zu
beenden, den einige EU-Politiker seit über drei Jahren befördert haben.
Robert Tombs ist emeritierter Professor für französische Geschichte an der
Universität Cambridge und unter anderem Autor von ‚The English and Their
History‘
No!
Warum sollte man das Verderben namens Brexit einfach hinnehmen? Eine
tückische Regierung und eine charakterlose Opposition haben einfach
übergangen, dass die [7][Mehrheit der Briten den Brexit gar nicht will].
Der Austritt aus der EU ist eine riesige, selbstauferlegte Handelssanktion,
er schadet einer guten Sozialpolitik und er zerstört Freiheiten. Er nimmt
den Menschen Rechte, den Jungen Chancen und er lässt einen sozial unfairen
Staat verarmen. Die rührseligen 50-Pence-Gedenkmünzen mit der Aufschrift
„Frieden, Wohlstand und Freundschaft mit allen Nationen“ verkünden die
größten Lügen der Tory-Regierungen seit dem Brexit-Referendum.
England heute ist ein frauenfeindlicher Ort, an dem wenige Gewinner alles
bekommen. Der Gestank eines bis ins Innerste korrupten Systems wird immer
unerträglicher: Die [8][Kluft zwischen Reich und Arm], zwischen
Privilegierten und Schutzlosen, das Gefälle zwischen den Regionen, die
vertraglich festgeschriebene Armut im Niedriglohnsektor, das
Anspruchsdenken in der Monarchie. Das Wahlsystem verkörpert – und verstärkt
– die Ungleichheit. Abgeordnete brüllen auf den Parlamentsbänken, um
Widerspruch zum Schweigen zu bringen.
Die „neue“ Regierung ist pompös und hämisch. Sie weist ihre Verantwortung
für die Spaltung dieser an sich toleranten Insel von sich. Statt die
Betrüger zu jagen, die sich die Taschen auf Kosten der Allgemeinheit
füllen, verlangt sie Unterwürfigkeit, befiehlt Gefolgschaft und duckt sich
selbstgefällig weg, sollte das Volk Zweifel äußern. Der Trick lautet: Ihr
habt das doch gewollt.
Wieso aber Chancen für junge Menschen zunichte machen, nur weil die Alten
das wollten, von denen die meisten nie ins Ausland reisen wollen oder
werden? Wenn die irgendeine Ahnung von der Weltpolitik hätten, würden sie
dann immer noch den Blödsinn glauben, dass Großbritannien wieder groß
werden kann, wenn stattdessen nur die Privilegierten und die Schurken die
Freiheiten und den internationalen Einfluss behalten werden? Die Jungen und
die Informierten aller Altersgruppen schämen sich dafür.
Doch [9][britische Schulabgänger] wissen zu wenig über die eigene Politik
und Gesellschaft, ihnen fehlt das Wissen, wie Mehrheiten zustande kommen,
wie Regierung, Parlament, Kommunen funktionieren und wie politische
Entscheidungen zustande kommen, wie eine unabhängige Justiz funktioniert
oder was sich hinter den gesetzlich verankerten Menschenrechten verbirgt.
Noch weniger wissen junge Briten, wie in Europa Demokratie praktiziert und
geschützt wird, es gibt auch zu wenig Aufklärung über die EU.
Viele Menschen, bis hinauf ins mittlere Alter, haben noch nie gewählt. Aus
Scham oder Verzweiflung verteidigen sie ihre Verweigerungshaltung und
merken nicht, dass sie damit Regierungen ermächtigen, ihnen den Rücken zu
kehren. Hinter Gleichgültigkeit und Provinzialität verbirgt sich oft in
Wahrheit das Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber einer Regierung, die eine
Sache sagt und das Gegenteil tut, ohne dass dies irgendwelche Konsequenzen
nach sich zieht.
Aber kann die Regierung wirklich darauf vertrauen, dass die enttäuschten
Millennials, die in der Zeit der Austerität aufgewachsen sind, den Schein
guten Regierens nicht anzweifeln werden? Müssen sie ernsthaft den Befehlen
ihrer Herren folgen, nur weil ihr Erwartungshorizont niedrig ist und sie
Verachtung für ein System empfinden, dass sie von jeglichen Chancen und
Zukunftsideen ausschließt?
Die Rufe nach einer Reform des Wahlrechts beruhen nicht nur auf dem Wunsch,
dass die Sitzverteilung im Parlament die Stimmverteilung fair
widerspiegelt. Es geht auch um mehr Gerechtigkeit und den Wunsch, Konsens
bei politischen Entscheidung herzustellen. Das britische Wahlsystem ist auf
Konfrontation ausgelegt. Es verkörpert eine Klassengesellschaft, in der
Wohlstand, egal wie er erworben wurde, Ansprüche und Macht sichert. Warum
soll sich eine Regierung um Konsens bemühen, wenn ein gezielter
Mikrowahlkampf mit Bots ausreicht, um „demokratische“ Willensbildung
hervorzubringen? Warum überhaupt so tun, als ob eine Regierung das Beste
für das Volk will?
Der Brexit hat diesen Betrug einer fadenscheinigen Minderheitsdemokratie
entlarvt. Wieso spielen Abgeordnete, EU, Europaparlamentarier in diesem
Spiel der Lüge und der Zerstörung mit? Es ist Zeit, den Schweinestall
auszumisten. Großbritannien gehört zur EU und wird wieder beitreten.
Die EU muss aber auch erkennen, dass Großbritannien ihren wunden Punkt
aufgezeigt hat. Der Brexit stellt eine Herausforderung dar, auf die die EU
antworten muss. Sie muss die Unpolitischen politisieren, die keinen
Unterschied zwischen einer Parlamentswahl und einer Stimmabgabe in einer
TV-Show sehen. Sie muss die Wachsamen empowern, die merken, wie ihre
persönlichen Daten für privaten Profit missbraucht werden. Der Brexit ist
eine Warnung an uns alle.
Juliet Lodge ist Gründungsmitglied der Gruppe „Women for Europe“ und
ehemalige Direktorin des Zentrums für Europastudien an der Universität
Leeds.
NaN NaN
## LINKS
[1] /Der-Brexit-von-Berlin-aus-betrachtet/!5648835
[2] /Nach-dem-Brexit-Referendum/!5316334
[3] /Essay-zum-Projekt-Europa/!5260882
[4] /Wirtschaftsforscherin-zum-EU-Austritt/!5647521
[5] /Anti-Brexit-Demo-in-London/!5544590
[6] /Streit-ueber-Katalonien/!5631922
[7] /Debatte-Brexit/!5520875
[8] /Grossbritannien-und-die-EU/!5629650
[9] /Grossbritannien-und-die-EU/!5629650
## AUTOREN
Robert Tombs
Juliet Lodge
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