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# taz.de -- Warum die Briten für den Brexit stimmten: Wir befanden uns wieder …
> Es gibt verschiedene Gründe dafür, warum Menschen in Großbritannien den
> Brexit befürworten. Eine historische Spurensuche.
Bild: Die EU nicht mit Fußen treten: Brexit-Gegner*innen demonstrieren in Lond…
Kurz vor dem Brexit-Referendum am 23. Juni 2016 drückte mir jemand einen
Flyer in die Hand, der amtlich aussah. „Die Wahrscheinlichkeit, dass deine
Straße für den Austritt stimmen wird, ist die höchste in ganz England“
stand da in Großbuchstaben. Die Menschen in meiner Nachbarschaft haben
trotzdem mehrheitlich für den Verbleib Großbritanniens in der EU gestimmt.
„78 Millionen Türken“ seien kurz davor, der EU beizutreten, warnte der
Flyer noch. Auf einer Landkarte war die Türkei knallrot am Rande Europas
eingezeichnet. Die Nachbarstaaten wurden Pink hervorgehoben.
Die Message war klar: [1][Bliebe Großbritannien in der EU], würden Muslime
unser Land überschwemmen. Das hatte mit rationaler Abwägung von Vor- und
Nachteilen eines Verbleibs nichts zu tun. Hier wurde das Gefühl von
Bedrohung geschürt. Wir befanden uns wieder im Krieg.
1945 fing Europa an, die Nachkriegszeit zu gestalten. Intensiv wurde
darüber nachgedacht, wie die Demokratisierung der Besiegten aussehen
sollte, aber niemand machte sich Gedanken darüber, wie sich die Demokratie
in den Siegerländern entwickelt. In Westdeutschland wurden die Grundwerte,
an die sich ein Staat zu halten hat, im Grundgesetz verankert. Diese können
am besten mit einem englischen Wort zusammengefasst werden: Fairness.
Von je her saßen im britischen Oberhaus einzig Bischöfe und Adlige, die
ihre Sitze erbten. Erst 1958 wurde die britische Verfassung geändert, und
die Königin konnte nun Zivilpersonen in den Adelsstand erheben und ihnen so
ein lebenslanges Recht auf Zugehörigkeit zum Parlament sichern. Kein
Wunder, dass die britische Oberklasse denkt, ihr Führungsanspruch sei
gottgegeben. Großbritannien hat keine schriftlich verankerte Verfassung,
sondern nur Übereinkünfte, die allzu flexibel sind, wie die endlos
hinausgezögerten Abstimmungen im Brexit-Durcheinander gezeigt haben.
## Nicht Monty Python
Das geltende Mehrheitswahlrecht führte bei der Wahl 2017 dazu, dass die
Scottish National Party (SNP) für 3 Prozent der Stimmen 35 Sitze bekam und
die Liberal Democrats für 7,4 Prozent nur 12. Dass die Tories noch an der
Macht sind, liegt an den 10 Sitzen der Nordirischen Democratic Unionist
Party (DUP), mit der die radikalprotestantische und EU-skeptische Partei
eine Minderheitsregierung unter Premierministerin Theresa May toleriert.
Der auf die DUP fallende Stimmenanteil betrug nur 0,9 Prozent.
Außenstehende entschuldigen die Verhältnisse gern mit der britischen
Exzentrik. Aber hinter diesen Machenschaften steckt der Machtpolitiker
Boris Johnson und nicht die Komikergruppe Monty Python.
In Deutschland sorgen demokratische Strukturen und der Wettbewerb unter den
Bundesländern dafür, dass die Hauptstadt Berlin das Land nicht so stark
dominieren kann, wie London Großbritannien dominiert. Schottland und Wales
haben inzwischen Regionalparlamente, doch für die meisten Briten existiert
nur Westminster. Die viel zitierte englische Exzentrik lenkt davon ab, dass
das Gros der Bevölkerung eine Demokratie erlebt, die überhaupt nicht
funktioniert. Als Boris Johnson Brüsseler Korrespondent für die
Tageszeitung Telegraph war, begann er damit, sich über EU-Richtlinien
lustig zu machen. Daraufhin machten die Briten die EU zum Sündenbock für
die demokratischen Defizite in Großbritannien.
In den wohlhabenden Pendlerstädten rund um London hat Theresa May ihren
Wahlkreis. Dort wurde mit großer Mehrheit für den EU-Austritt gestimmt, und
man ist überzeugt, wie der Kolonialist Cecil Rhodes einst postulierte, als
Engländer habe man „den Hauptgewinn in der Lotterie des Lebens gewonnen“.
## Ausverkauf am Stadtrand
[2][In den anderen Gegenden], die für „Leave“ votierten, ist die Lage
anders. Dort wurde die Infrastruktur vernachlässigt, Bibliotheken wurden
geschlossen. Öffentlicher Nahverkehr ist teuer oder nicht existent.
Bezahlbarer Wohnraum ist rar. Um die Basisversorgung der Gemeinden
aufrechtzuerhalten, sahen sich Gemeinderäte gezwungen, alles zu verkaufen,
was nicht niet- und nagelfest war – Spielplätze, Gemeindezentren,
Jugendclubs.
Eine Freundin aus dem nordenglischen Wakefield erzählte mir, dort hätten
alle BürgerInnen für den EU-Austritt gestimmt. „Als würde man den Computer
neu starten, nachdem die sonstigen Möglichkeiten der Fehlerbehebung nicht
geklappt haben.“ Die Wakefielder stimmen traditionell für Labour. Aus der
300.000-Einwohner-Stadt ist jegliche städtische Infrastruktur verschwunden.
Die Polizeistation hat 2014 dichtgemacht. Die nächste Wache ist 30 Minuten
entfernt. Die BürgerInnen sind an einschneidende Sparmaßnahmen längst
gewöhnt – Nachteile, die der Brexit mit sich bringen könnte, sind hier
schon Alltag.
Auch Plymouth, ein Marinestützpunkt 200 Meilen westlich von London, musste
starke Etatkürzungen verkraften. Die Vernachlässigung zeigt sich hier aber
in anderer Form. Ein Freund erzählte mir von einer Reise in die Bretagne,
die er für eine Schulklasse aus einem ärmeren Stadtviertel organisiert
hatte. Die Kinder würden per Schiff nach Frankreich fahren. Einige der
Teenager waren besorgt. Nicht weil sie kein Französisch sprachen. Sie waren
sich unsicher, ob sie es auch schaffen würden, bis ans andere Ufer zu
rudern. Obwohl die Fähre in Sichtweite der Schule ablegt, waren viele Kids
noch nie am Anleger der nicht mal zwei Kilometer entfernten Küste gewesen.
## Nationale Mythen
Plymouth und Wakefield – beide Städte haben für „Leave“ gestimmt – be…
Kommunen haben das Gefühl für Gemeinsinn verloren. Aber für viele
BürgerInnen in diesem alles andere als Vereinigten Königreich bedeutete das
Brexit-Referendum: Sie konnten sich erstmals sicher sein, dass ihre Stimme
wirklich zählt. Die Menschen haben aus unterschiedlichen Motiven für
„Leave“ gestimmt. Der Politikwissenschaftler Will Davies formulierte es in
einem Essay: „Der Vorteil der ‚Leave‘-Fraktion war, dass sie nicht konkret
benennen musste, was da genau verlassen wird.“ Großbritannien war es
möglich, seine Mythen zu konservieren, weil es nie gezwungen war, seine
Geschichte zu hinterfragen.
Zwei Mythen sind besonders beliebt: Großbritannien genießt erstens nach wie
vor großes Ansehen auf der Welt. Selbst die Völker, die wir erobert haben,
respektieren uns für die Tatsache, dass wir ihnen die Eisenbahn und das
Cricketspiel gebracht haben. Zweitens: Unser Erfolg ist verdient, denn er
resultiert aus harter Arbeit und Erfindergeist und nicht aus den Rohstoffen
und dem Reichtum, den wir den Kolonien abgepresst haben (oder den Gütern,
die sie uns zwangsweise abkaufen mussten).
Weil die Kolonialverbrechen der Briten nie aufgearbeitet wurden, hält sich
die Mär von der heilbringenden Kolonialmacht Großbritannien. Wie Sklaverei
und Empire mit dem Status Großbritanniens zusammenhängen, das gehört bis
heute nicht zur nationalen Geschichtsauffassung. Um den Brexit zu
verstehen, sollte man Rudyard Kipling lesen. Das Werk des
Kolonialschriftstellers ist durchtränkt von der Angst vor marodierenden
Horden, auf die auch der eingangs erwähnte Flyer zielt.
## Irrtümliches Geschichtsbewusstsein
Vor dem Referendum wurden Versuche, die britische Geschichte differenziert
zu erzählen, von der ultranationalistisch agierenden Konservativen Partei
aufs Korn genommen. 2014 warf der damalige Bildungsminister und spätere
„Leave“-Aktivist Michael Gove dem renommierten Historiker Richard J. Evans
vor, unpatriotisch zu sein, und behauptete: „Linke Geschichtsschreibung
will Großbritannien und seine Führer kleinreden. Trotz der Fehler ist die
Rolle Großbritanniens in der Welt geprägt von Noblesse und Mut.“
Gove verteidigt den gerechtfertigten Kriegseintritt der Engländer im Ersten
Weltkrieg auf seine Weise: „Der skrupellose Sozialdarwinismus der deutschen
Eliten, die gnadenlose Besatzungspolitik, ihre aggressiven
expansionistischen Kriegsziele und ihre Verachtung jeglicher
internationaler Ordnung“ mussten zurückgeschlagen werden. Das ist
zweifelsohne richtig. Nur hat sich auch Großbritannien dieser Vergehen
schuldig gemacht – allerdings über einen sehr viel längeren Zeitraum. Gove
will sich dies nicht eingestehen. Er geht sogar noch weiter. „Je genauer
wir jeden einzelnen Aspekt des [Ersten] Weltkriegs beleuchten, desto mehr
Grund haben wir, uns bei unseren Vorfahren zu bedanken.“
Zur Zeit des Referendums gab es zahlreiche sentimentale
Gedenkveranstaltungen zum Ersten Weltkrieg. Es ist diese
geschichtsrevisionistische Stimmungslage, in der für den Brexit gestimmt
wurde. Die Wahrnehmung der jüngeren britischen Geschichte als ein
fortdauernder Kampf gegen die Deutschen wurde von vielen „Leave“-Anhängern
als Grund für ihre EU-Ablehnung genannt.
## Fiktionalisierter Krieg gegen die Deutschen
Das beinhaltete auch die fehlgeleitete Überzeugung, dass die EU einfach
nur das von den Nationalsozialisten betriebene Projekt eines völkischen
Europa weiterverfolgt. Führende Konservative wie Boris Johnson und Jeremy
Hunt haben diesen hanebüchenen Vergleich gezogen. Die selbst ernannten
Oberfeldwebel aus dem reichen Süden und die Arbeiterklasse aus den
verrottenden Industrieregionen konnten so ihren fiktionalisierten Krieg
gegen die Deutschen noch einmal führen.
Deutsche wissen aus eigener Erfahrung, wie gefährlich es ist, unbeirrt an
Mythen zu glauben. Als sie endlich gezwungen wurden, ihre Mythen zu
hinterfragen, wurden sie gewahr, dass das Land ein Grundgesetz braucht.
Mehr als 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs durften die Briten
einmal mehr ihre spezielle Selbstwahrnehmung zelebrieren – ungeachtet
ihres durch Exzentrik verschleierten demokratischen Defizits fordern sie
Extrawürste ein. Der Brexit wird sie erstmals zwingen, die Konsequenzen
ihres Tuns zu akzeptieren. Doch zunächst wird die britische Presse ihnen
weismachen, dass grundsätzlich nur die anderen böse sind. Beseelt von
diesem Geist, träumen die Briten davon, den Deutschen, die in ihrer
Wahnvorstellung die EU kontrollieren, die Macht wieder abzunehmen.
Eine Lehre aus dem Brexit muss sein, dass England die Probleme löst, die
diese Krise hervorgerufen hat. Das bedeutet, dass wir eine funktionierende
Demokratie benötigen. Der erste Schritt dazu wäre ein britisches
Grundgesetz.
Übersetzung aus dem Englischen von Sylvia Prahl
24 Mar 2019
## LINKS
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## AUTOREN
Adam Ganz
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