# taz.de -- Kommunalpolitik im Stress: Marzahn einfach nur krank | |
> Verheizt die Kommunalpolitik ihre Bezirksstadträte? Die Bürgermeister der | |
> Bezirke machen sich Sorgen um ihr Personal. Marzahn ist beschlussunfähig. | |
Bild: Stress mit Grund: Werden im Rathaus Marzahn (heute Teil des Bezirksamtes)… | |
BERLIN taz Das Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf ist nicht mehr | |
beschlussfähig. Der Grund: Sowohl Bürgermeisterin Dagmar Pohle (Linke) als | |
auch ihr Stellvertreter Thomas Braun (AfD) und die Sozialstadträtin Juliane | |
Witt (Linke) sind erkrankt. Wenn aber nur zwei von fünf | |
Bezirksamtsmitgliedern anwesend sind, darf das Gremium keine Beschlüsse | |
fassen. | |
Bürgermeisterin Pohle hat sich darum entschlossen, ihre Reha für den | |
heutigen Dienstag zu unterbrechen, denn es müssen wichtige Beschlüsse auf | |
den Weg gebracht werden. Die betreffen beispielsweise Anträge auf Gelder | |
von der Landesregierung, Personaleinstellungen und Bebauungspläne. Pohle | |
schaltet aber auch sonst in der Reha nicht von der Bezirkspolitik ab: Am | |
Wochenende erklärte sie etwa dem Aussiedlerverein „Vision e. V.“ ihre | |
Solidarität, nachdem der fremdenfeindlich bedroht wurde. | |
Bezirksamtsmitglieder haben keine eigenen Stellvertreter, sie vertreten | |
sich vielmehr gegenseitig. Somit lastet auf den verbliebenen Stadträten | |
Gordon Lemm (SPD) und Nadja Zivkovic (CDU) die gesamte Arbeit. Derzeit | |
müssen sie sich auf solche Fragen konzentrieren, die keinen Aufschub | |
erlauben, anderes wird später nachgeholt. | |
Die Bürgermeisterin ist seit Anfang Dezember wegen einer Knie-Operation mit | |
anschließender Reha nicht im Dienst. Braun und Witt haben sich im Januar | |
krank gemeldet. Juliane Witt schrieb auf ihrer Facebookseite von Problemen | |
mit dem Gleichgewichtssinn, der eine Auszeit und medizinische | |
Untersuchungen erfordere, sie hoffe auf schnelle Genesung. Bei Braun ist | |
nicht bekannt, woran er erkrankt ist und wann er wieder im Dienst sein | |
könnte. | |
## 60- bis 80-Stunden-Woche Normalität | |
Haben die Bezirksstadträte zu viel Stress? Auch wenn nicht klar ist, ob all | |
diese Erkrankungen mit den hohen Anforderungen an KommunalpolitikerInnen | |
zusammenhängen, gibt es lange krankheitsbedingte Ausfälle in mehreren | |
Bezirken. In Einzelfällen müssen Stadträte sogar aus gesundheitlichen | |
Gründen vorzeitig in den Ruhestand geschickt werden. | |
„Eine Tätigkeit als Bezirksamtsmitglied bedeutet sehr viel Stress, der auch | |
krank machen kann“, sagt der Bürgermeister von Treptow-Köpenick, Oliver | |
Igel (SPD), der taz. Insbesondere, wenn andere Kollegen vertreten werden | |
müssen, sei „die Belastung enorm“. Und er zählt auf: Eine 60- bis | |
80-Stunden-Woche sei Normalität, oft verteilt auf sieben Tage in der Woche, | |
plus viele Abendtermine. Die Anforderungen der Bürger an ihre | |
Kommunalpolitiker seien gestiegen. | |
Bürger würden Präsenz bei Vereinsveranstaltungen und Festen erwarten, um | |
mit KommunalpolitikerInnen ins Gespräch zu kommen – selbst nachts solle man | |
in sozialen Netzwerken zu kommunalen Themen Stellung beziehen. Oliver Igel | |
sagt: „Das fordert seinen Tribut.“ Er ist dafür, die Zahl der | |
Bezirksamtsmitglieder wieder von fünf auf sechs zu erhöhen. So war es in | |
Berlin bis 2011. Damals trug die Reduzierung der gesunkenen Einwohnerzahl | |
Berlins Rechnung. Inzwischen gibt es aber wieder mehr Einwohner. | |
## Zur Entlastung Stellvertreter gefordert | |
Der CDU-Abgeordnete Christian Gräff, der von 2006 bis 2016 selbst Stadtrat | |
in Marzahn-Hellersdorf war, teilt diese Forderung. Zur Entlastung fordert | |
er zusätzlich einen eigenen Stellvertreter für jeden Stadtrat. Die hohen | |
Ansprüche in der Bezirkspolitik führten dazu, „dass es immer schwieriger | |
wird, Nachwuchs zu finden“, so die Erfahrung von Gräff, aber: „Es gibt | |
natürlich viele Jobs, die sehr anspruchsvoll sind und zu viel Stress | |
führen. Das trifft Kommunalpolitiker nicht allein.“ | |
Mittes stellvertretender Bürgermeister Ephraim Gothe (SPD) spricht | |
ebenfalls von hohen Anforderungen mit gesundheitlichen Risiken: „Die | |
zahlreichen Abendtermine können zu Schlafdefiziten führen. Wenn sich dann | |
politische Konflikte zwischen den Parteien und Fraktionen im Bezirksamt | |
widerspiegeln, sind psychische Belastungen möglich.“ Laut Gothe ist „eine | |
gute Konstitution“ für die Arbeit im Bezirksamt erforderlich. Ebenso | |
müssten die Bezirksbürgermeister für ein kollegiales Miteinander sorgen. | |
21 Jan 2020 | |
## AUTOREN | |
Marina Mai | |
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