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# taz.de -- Wirtschaftsförderung am Stadtrand: Jede Menge Platz in Marzahn
> Während in anderen Bezirken der Raum für Gewerbetreibende eng und
> unbezahlbar wird, vermarktet Marzahn-Hellersdorf sein größtes Pfund: viel
> Freiraum.
Bild: Wird mal Berlins größter Industriepark: die Brache des CleanTech Busine…
Berlin taz | Es ist ein Gebäude wie aus Tetris, geometrisch verwinkelt,
grasgrün. Und das Spiel hat gerade erst begonnen: Noch gibt es kaum etwas
ranzupuzzeln an den Showroom des Cleantech-Business-Parks in
Marzahn-Hellersdorf. 90 Hektar Land liegen hier noch beziehungsweise gerade
erst brach. Berlins größtes zusammenhängendes Industriegebiet soll hier
entstehen. „Man braucht schon eine Idee und etwas Mut“, sagt Kathrin
Rüdiger mit Blick auf die kargen Wiesen und in die Vergangenheit. Rüdiger
ist seit den 1990ern in der Wirtschaftsförderung des Bezirks tätig, leitet
inzwischen den Bereich und ist sozusagen die Mutter des Marzahner
Vorzeigeprojekts.
Ende der 2000er Jahre müffelten hier noch die Reste eines stillgelegten
Klärwerks vor sich hin, 60 Bauwerke mit Türmen und leeren Becken, in denen
Marzahner Kids mit dem BMX-Rad cruisten. „Hätte man ein prima Endzeitdrama
drehen können“, sagt Rüdiger. Es war die Hochzeit der deutschen
Solarindustrie, die neuen Unternehmen schossen wie Pilze aus dem Boden und
in Marzahn träumte man von einem Park voll innovativer Start-ups statt
stinkender Ruinen. 2016 war alles abgebaut, weggesprengt, abtransportiert,
eine Straße gebaut, waren Krötentunnel errichtet und seltene Arten
umgesiedelt. 38 Millionen Euro hat das Herrichten des Geländes gekostet.
Seitdem gibt es hier eine Menge Platz; nur die deutsche Solarindustrie gibt
es nicht mehr.
„Zum Glück haben wir dem Projekt einen neutralen Namen gegeben“, sagt
Rüdiger. Der Cleantech-Business-Park soll nun Unmengen Raum bieten für
produzierendes, großflächiges Gewerbe mit nachhaltiger, sauberer
Technologie. „Wo gibt es denn so etwas noch in Berlin?“, fragt Rüdiger, Es
ist, angesichts der großen Verdrängungsprozesse, eine rhetorische Frage –
und ein Alleinstellungsmerkmal für Marzahn.
Und der Cleantech-Business-Park, dessen Ära gerade erst beginnt – seit
August produziert hier ein Schweizer Speichermedienhersteller und verkauft
in die ganze Welt –, ist nur ein Teil der Geschichte. „Made in Marzahn“
könnte auch auf Brillengestellen, Präzisionsmessgeräten, Lasertechnik
stehen. Zwischen Plattenbauten hat sich produzierendes Gewerbe der nächsten
Generation angesiedelt. „Als wir angefangen haben zu werben, kamen
plötzlich immer mehr Unternehmen“, erzählt Rüdiger. Fast 40 Firmen mit
2.500 Mitarbeitern haben sich hier in den letzten zehn Jahren auf den
Freiflächen rund um den Cleantech-Business-Park angesiedelt.
## Flache Hierarchien, alle sind per Du
Eine davon heißt Berlin.Industrial.Group, sie bündelt seit 2015 in
Marzahn Start-ups mit innovativer Technologie auf einem zehn Hektar großen
Campus. Ein weitläufiges Gelände mit pragmatischer Industriearchitektur, in
deren Sichtachsen ein verlassener Plattenbau vor sich hin rottet. Ansonsten
ist hier alles sehr modern und fresh: Transgendertoiletten, flache
Hierarchien, alle sind per Du, Durchschnittsalter 35. Am Abend wird auf dem
betriebseigenen Beachvolleyballfeld für den Marzahn-Hellersdorfer Eastside
Cup trainiert, auch das eine Erfindung der bezirklichen
Wirtschaftsförderung. In einen Strandkorb kann man sich zurückziehen, mit
W-LAN versteht sich.
Innovative Lasertechniken, die hässliche Schweißnähte überflüssig machen,
und Maschinen für 3-D-Druck, die mit einem Bruchteil des sonst üblichen
Material- und Zeitaufwands auskommen, werden bei B.I.G. in Marzahn
weiterentwickelt und vertrieben. Ein Verfahren zur lasergestützten
Unkrautvernichtung ist gerade noch in der Testphase. Zehn Unternehmen
beschäftigen rund 300 Mitarbeiter. Marzahn als Standort spiegle auch den
Spirit des Unternehmens wider, heißt es auf der Website: „Authentisch und
unverkrampft, zukunftsorientiert und dynamisch.“
„Hier ist noch viel Platz, um zu wachsen, das ist wichtig“, sagt
Geschäftsführer Tom Lüders. B.I.G. konnte vor fünf Jahren das Gelände
kaufen, inzwischen verpachtet der Bezirk nur noch. Dieser Tribut an die
Platzknappheit innerhalb der Berliner Stadtgrenzen ist auch hier notwendig
geworden.
Auf Messen von Amerika bis Asien macht die kleine Abteilung der
bezirklichen Wirtschaftsförderung Werbung für den Standort
Marzahn-Hellersdorf. „Mit gesundem Selbstbewusstsein“, wie
CDU-Wirtschaftsstadträtin Nadja Zivkovic betont. Ihre Abteilung hat auch
schon mal die Mitarbeiter nach Marzahn umziehender Unternehmen per Bus
durch den Bezirk chauffiert. „Um Bedenken abzubauen“, sagt Zivkovic, die
ansonsten nichts von den ewig gleichen Vorurteilen in Sachen Marzahn hören
will. Die Imagekampagne „Made in Marzahn“, für die in Marzahn produzierte
Produkte Modell standen, kommt aber wohl doch nicht von ungefähr. Dass hier
Modernstes floriert, hat eben noch nicht jedeR BerlinerIn auf dem Zettel.
## Madonna trägt Brillen aus Marzahn
Der Brillenhersteller IC Berlin ist eines der Unternehmen der „Made in
Marzahn“-Kampagne, ansässig im Econopark. Ein Gewerbehof mit knapp 118.000
Quadratmeter Fläche, in einem Gebiet, in dem die Straßen wenig
schmeichelhaft nach dem Chemiedreieck der DDR benannt wurden –
Bitterfelder, Leunaer und Wolfener Straße.
Doch Straßennamen, Vorurteile gegen den vermeintlichen Plattenbaubezirk –
all das sind Dinge, die offenbar nicht ins Gewicht fallen für einen
Brillenhersteller, dessen Modelle von Brad Pitt, Madonna und thailändischen
Instagram-Stars getragen werden. „Aus Mitte hierher nach Marzahn zu ziehen
war die beste Entscheidung“, sagt Geschäftsführer Jörg Reinhold im
Empfangsbereich seines Unternehmens.
Betonfußboden, Sitzgruppe, Kaffeebar, eine Schaukel am Stahlträger, die
aktuellsten Brillenmodelle sind ausgestellt. Wer will, kann seine Brille
direkt am Produktionsstandort kaufen statt bei ausgewählten Optikern in
Premiumlagen. Zwei Etagen Platz haben sie hier, demnächst soll noch eine
dritte dazukommen.
Von den schraubenlosen Brillen, mit denen das Label Ende der 90er Jahre
berühmt wurde und deren erste zwei Exemplare in einer Wohnung in Mitte
zusammengesetzt wurden, lagern hier 25.000 Stück, bereit für den Versand in
alle Welt. 1.000 neue Brillen werden pro Tag mit viel Handarbeit
produziert.
## Umzug von Mitte nach Marzahn
Der vorherige Firmensitz lag unweit des Alexanderplatzes, zwischen Mitte
und Prenzlauer Berg, in historischer Industriearchitektur, mit
Dachterrasse. 2016 lief der letzte Mietvertrag aus, die Miete von damals 10
Euro pro Quadratmeter hätte sich mindestens verdoppelt, inzwischen wohl
sogar verdreifacht. Ohnehin war der Platz zu knapp geworden.
Also machte man sich bei IC Berlin auf die Suche nach neuen Räumen. „Doch
selbst wenn Geld keine Rolle spielt, ist es nahezu unmöglich, so große
zusammenhängende Flächen zu finden“, sagt Reinhold. Zumindest in
Innenstadtlage. Dass es dann Marzahn wurde, lag auch an der guten Akquise
des Vermieters. Mit Büros und Gewerberäumen ab 2,50 Euro pro Quadratmeter
wirbt der Econopark, Platz ist nach wie vor genug.
Dass der Umzug aus Mitte nach Marzahn nicht von allen MitarbeiterInnen
goutiert wurde, muss aber auch Reinhold einräumen. „Wenn Sie an den Rand
der Stadt ziehen, verliert immer irgendwer“, sagt der Geschäftsführer. Das
Unternehmen zahlte sogar Unterstützung für einen Umzug in den Bezirk, davon
hätten aber nur zwei Mitarbeiter Gebrauch gemacht. Zehn Angestellte hätten
wegen zu langer Fahrtzeiten gekündigt. Manch einer ist aufs Auto
umgestiegen, weil die Zuverlässigkeit der angrenzenden S-Bahn eine
Katastrophe sei.
Und der Dönerladen um die Ecke mache zwar „einen ordentlichen Job“, aber
ansonsten ist die Essenauswahl einfach nicht die gleiche wie im Umkreis des
Alex. Deshalb wird nun zweimal die Woche selbst gekocht und bei schönem
Wetter draußen unter den Apfelbäumen gegessen. Die Bewerbungen, die seit
dem Umzug aus Mitte bei IC Brillen eingehen, hätten sich verändert, so
Reinhold: weniger exzentrisch, dafür ernsthafter.
## „Berlin“ ist das Aushängeschild
Wenn ausländische Geschäftspartner durch Plattenbau-Alleen zum Marzahner
Firmensitz gefahren werden, gebe es jedenfalls keine Irritation. „Haben Sie
schon mal asiatische Millionenstädte angeschaut?! Die sind ganz anderes
gewohnt“, sagt Reinhold. „Ob wir in Mitte oder in Marzahn produzieren, ist
außerhalb der Stadt scheißegal. ‚Berlin‘ ist das Aushängeschild.“
Nadja Zivkovic, die Wirtschaftsstadträtin, und Kathrin Rüdiger, die
Leiterin der Marzahner Wirtschaftsförderung, dürften damit zufrieden sein.
Im Wochentakt schütteln die beiden Frauen UnternehmerInnen die Hand, die
aus ihrem Bezirk für die ganze Welt produzieren.
Der Bezirk selbst hat eigentlich nichts davon: Die Gewerbesteuer, die die
neu angesiedelten Unternehmen zahlen, sackt das Land Berlin ein. „Uns geht
es um die Arbeitsplätze“, sagt Zivkovic. Und ein Stück weit vielleicht auch
ums Image.
Dieser Text ist Teil eines Schwerpunktes in der Print-Ausgabe der taz am
wochenende vom 12./13. Oktober 2019.
12 Oct 2019
## AUTOREN
Manuela Heim
## TAGS
Mietendeckel
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Schwerpunkt Gentrifizierung in Berlin
Schwerpunkt Gentrifizierung in Berlin
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