# taz.de -- Experte über Antisemitismusdefinitionen: „Eine abwegige Debatte�… | |
> Soziologe Peter Ullrich hält die international gängige | |
> Antisemitismusdefinition für falsch. Sie verschleiere, dass die größte | |
> Gefahr von rechts kommt. | |
Bild: Rechter Antisemitismus: Schmierereien an Grabsteinen auf dem jüdischen F… | |
taz: Herr Ullrich, „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von | |
Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann“ – so definiert | |
die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) Antisemitismus. Ist | |
diese Definition brauchbar? | |
Peter Ullrich: Nein. Sie ist äußerst vage und genügt den grundlegenden | |
wissenschaftlichen Anforderungen nicht. Eine Definition sollte einen | |
Gegenstand klar bestimmen und abgrenzen. Das tut sie nicht. | |
Warum ist die Definition wichtig? | |
Sie ist politisch enorm einflussreich. Das Europaparlament hat sie sich zu | |
eigen gemacht, verschiedene Staaten beziehen sich auf sie, hierzulande | |
einige Bundesländer und Kommunen. Und wir brauchen ja ein allgemein | |
anerkanntes Verständnis des Antisemitismus, um Judenfeindschaft bekämpfen | |
zu können. Doch diese Definition hat zu viele Leerstellen. | |
Welche? | |
Die IHRA lenkt den Blick auf Äußerungsformen. Das ist nicht verwunderlich, | |
weil sie vor allem dazu gedacht war, Vorfälle zu erfassen. Antisemitismus | |
ist aber auch ein kulturell tradiertes Weltbild. Antisemitismus entstammt | |
auch einer langen christlichen Tradition der Judenfeindschaft. Das fehlt | |
weitgehend. Auch Rechtsextremismus taucht nicht auf. Die Definition hat | |
eine andere politische Schlagseite. Zu ihr gehören elf Beispiele, sieben | |
davon beziehen sich auf den Nahostkonflikt – der ist in der Definition | |
omnipräsent. | |
In der Definition ist von „Hass gegen Juden“ die Rede. Denkt man an Halle, | |
ist das doch ein nützliches Kriterium, oder? | |
Wie fast alles in der IHRA-Definition ist das nicht falsch, aber zu eng. | |
Natürlich sind Antisemiten häufig von Hass angetrieben. Manche Vordenker | |
des modernen Antisemitismus gaben sich Ende des 19. Jahrhunderts betont | |
wissenschaftlich und demonstrierten Distanz zur mittelalterlichen | |
Judenfeindschaft und den Pogromen. Der Fokus auf Hass ist nicht falsch, | |
aber nur ein Ausschnitt. | |
Ist die Definition komplett unbrauchbar? | |
Nicht ganz. Manche Beispiele kann man eingeschränkt für pädagogische Arbeit | |
nutzen. Aber eben nicht im Sinne einer Checkliste, wie sie derzeit benutzt | |
werden, eher als Hinweisgeber. Zum Beispiel doppelte Standards in Bezug auf | |
den Nahostkonflikt. Bei jemandem, der Israel und den dortigen Nationalismus | |
scharf kritisiert, Nationalismus anderswo aber ignoriert, sollte man näher | |
hinschauen. Aber ein doppelter Standard in Bezug auf Israel ist an sich | |
nicht zwingend antisemitisch. | |
Warum nicht? | |
Doppelte Standards finden wir in der Politik ja häufig. Antisemitisch sind | |
sie nur als grundsätzliche Feindschaft gegenüber Jüdinnen und Juden. Diesen | |
Unterschied verwischt diese Definition. Zudem sollten wir beachten, wer mit | |
welchem Motiv spricht. Wenn israelische Anarchisten Israel einen | |
rassistischen Staat nennen und Rassismus und Nationalstaaten sowieso als | |
Geschwister begreifen, müssen wir das anders beurteilen, als wenn Deutsche | |
Israel rassistisch nennen. Diese Definition trägt dazu bei, dass sich die | |
Antisemitismusdebatte auf Abwege begibt. Die Debatte ist derzeit auf die | |
Israelboykottbewegung BDS fokussiert und lenkt vom [1][Rechtsextremismus] | |
ab. Damit rückt aus dem Blickfeld, von wem in Deutschland die meisten | |
Angriffe und Straftaten ausgehen. | |
Der Bundestag hat BDS als antisemitisch verurteilt. Hat die | |
IHRA-Definition dabei eine Rolle gespielt? | |
Keine zentrale, aber sie war ein Instrument, um diese Entscheidung zu | |
begründen. Dabei schlägt Kenneth S. Stern, der zentrale Passagen dieser | |
Definition verfasst hat, mittlerweile die Hände über dem Kopf zusammen, wie | |
die Definition verwendet wird. Sie sollte dazu dienen, antisemitische | |
Vorfälle zu erfassen – aber nicht als Instrument benutzt werden, mit dem | |
die Meinungsfreiheit eingeschränkt wird. Der Stadtrat in München hat | |
beschlossen, dass in städtischen Räumen über BDS noch nicht mal diskutiert | |
werden darf. Ähnlich ist es in Frankfurt, Leipzig, Dortmund und Berlin. Und | |
oft dient die Arbeitsdefinition als Autorität, die zitiert wird, um solche | |
Verbote zu legitimieren. | |
Ist BDS denn nun antisemitisch? | |
BDS ist eine breite Bewegung, die man mit einfachen Schwarz-Weiß-Rastern | |
nicht erfasst. BDS ist das aktuelle Sammelbecken all jener, die den Kampf | |
der Palästinenser gegen die Besatzung unterstützen. Mit scheint der Boykott | |
eher dazu zu führen, letzte Gesprächsfäden zwischen Palästinensern und | |
Israelis zu durchtrennen. Ich verstehe in Deutschland auch die Sorgen von | |
Jüdinnen und Juden beim Thema Boykott. Es gibt bei BDS auch antisemitische | |
Äußerungen. Aber all das bedeutet nicht, dass BDS als Ganzes antisemitisch | |
ist. Das ist Unsinn. | |
Im Osten wählt ein Viertel eine rechtsextreme Partei. Was bedeutet das für | |
Antisemitismus in Deutschland? | |
Antisemitismus scheint für rechtsextreme Gruppen derzeit als verbindendes | |
Element wieder wichtiger zu werden. Im Compact-Magazin beispielsweise | |
findet sich vermehrt ein antisemitisch grundierter Antizionismus. In den | |
Manifesten der rechtsextremen Attentäter finden wir neben der Idee des | |
„Bevölkerungsaustausches“ auch die einer jüdischen Verschwörung dahinter. | |
Der rechtsextreme Antisemitismus ist viel bedrohlicher als BDS. In der | |
öffentlichen Debatte sind die Maßstäbe komplett verrutscht. | |
Und die AfD? | |
Die hat eine proisraelische Fassade, die vor allem das Feindbild Islam | |
aufwerten soll. Das ist nur Taktik. Die Spitze der AfD relativiert ja die | |
Naziverbrechen. Es ist kein Zufall, dass [2][Wolfgang Gedeon, der den | |
Holocaust bagatellisiert, in der AfD bleiben darf]. Hinter der Fassade des | |
einzig wahren Freundes Israels brodelt der Antisemitismus. | |
3 Nov 2019 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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