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# taz.de -- Von Waldtauchern und Baumruinen: Vor lauter Bäumen
> Die Ausstellung „Through a Forest Wilderness“ zeigt den Wald als Kunstort
> – in der Kunsthalle Wilhelmshaven und dem Nauenburger Holz.
Bild: Margita Titlova Ylovskys „Bewegung von Baum und Körper“ (1980)
Wilhelmshaven taz | Der Wald und sein Wohl sind ja [1][den Deutschen lieb].
Ein in den 1980er-Jahren hierzulande beklagter Zustand hat es als Lehnwort
„le waldsterben“ sogar bis ins Französische geschafft – allerdings mit d…
ironischen Tenor, dass es sich bei der Sache eher um eine deutsche Hysterie
handele, denn um einen wissenschaftlich belegbaren Befund. Als Ursache
wurde damals „saurer Regen“ für die Erosion ganzer Forstpartien ausgemacht.
Weitere augenfällige Ursachen wie falsche Bestockung oder Trockenheit
werden erst aktuell in Erwägung gezogen.
Die der Ratio verpflichteten und mit rund 50 Prozent mehr Waldfläche als
ihre deutschen Nachbarn gesegneten Franzosen scheinen sich offensichtlich
bis heute kaum der urwüchsigen Magie des Waldes zu erwärmen.
Zumindest legt dies die Künstlerliste des umfassenden Recherche- und
Ausstellungsprojektes „[2][Through a Forest Wilderness]“ nahe, das die
Kunsthistorikerin [3][Petra Stegmann] erarbeitet hat und ab 2017 im
[4][Brandenburgischen Kunstverein Potsdam] und dem Berliner Grunewald
aufgeführt hat. Denn unter den Teilnehmer*innen, von denen sie 70
künstlerische Positionen in und mit dem Wald bis in die 1960er-Jahre
zurückverfolgt, findet sich kein*e Einzige*r aus der Grande Nation.
Stegmann, seit Oktober 2018 nun Leiterin der [5][Wilhelmshavener
Kunsthalle], zeigt jetzt hier neuerlich einen dokumentarischen Auszug von
rund zehn dieser Aktionen, parallel hat sie einen Freiluftparcours mit acht
Stationen im [6][Neuenburger Holz] beim friesischen Zetel angelegt. Dort
finden auch Führungen, Künstlergespräche und Performances in freier Natur
statt.
Das künstlerische Arbeiten im Freien hat eine globale wie lange Geschichte,
sie reicht von Naturstudien oder einer Freilichtmalerei der Impressionisten
bis zur [7][Land Art US-amerikanischer Veteranen] wie Walter de Maria,
Michael Heizer oder auch James Turrell mit seinem Licht-Observatorium
[8][Roden Crater] in der Wüste Arizonas.
## Hinaus in den Wald
Sie ließen mit schwerem Gerät schon mal ganze Topografien überformen –
Maßstäbe und demiurgische Fantasien, die man bei den Waldkünstler*innen nun
gern vergessen darf. Denn konzeptionell mitunter radikale, in ihrer Art
aber behutsame, kleine, oft symbolische und in der Regel ephemere
Handlungen zeichnen ihre Kunst aus.
Der Gang in den Wald, das Verlassen institutioneller Räume wie Galerien
oder Museen hatte oft auch einen politischen Unterton und mag ihn in
manchen Ländern immer noch haben: Stegmann hat einen historischen
Schwerpunk im sozialistischen Mittel- und Osteuropa ausgemacht, dort
entzogen sich Künstler im Alternativraum Wald auch staatlicher oder
ideologischer Kontrolle.
## Mythologische Aufladung des Waldes
In den nordischen Ländern mit ihren Baumheiligtümern wie der Weltenesche
Yggdrasil kommt eine mythologische Aufladung des Waldes hinzu, im Westen
Deutschlands war es eine, manchmal romantische, Umweltbewegtheit. Sie war
auch in Joseph Beuys’ „[9][Stadtverwaldung]“ spürbar, der Setzung von 7.…
Eichen während der 7. Documenta 1982 in Kassel, die er auch als spirituelle
Regenerierung eines Teils des Planeten verstanden wissen wollte.
Nicht alle vorgestellten Künstler arbeiten explizit mit dem Wald oder dem
Baum als Sujet. In den 1950er-Jahren etwa zog bereits die japanische
[10][Künstlergruppe Gutai] mit partizipativen Kunstformen ins Freie, jedoch
stand hier eine neue Praxis in der Kombination künstlerischer Gattungen im
Vordergrund. Auch die drei kroatischen Künstler der Gruppe [11][Gorgona],
die 1986 mit ihrer absurd theatralischen Aktion „Das Bild platzieren“ in
den verschneiten Wald gingen, wollte sich so, symbolisch und marktkritisch,
von einem Werk minimalistisch konzeptioneller Malerei der 1960er-Jahre
trennen.
Längst war diese Kunstauffassung durch einen Neo-Expressionismus verdrängt,
ein Käufer fand sich nicht mehr und der Bildaufbau – schwarzer Balken auf
monochrom silbernem Hintergrund – korrelierte bestens mit dem winterlich
abstrakten Forst. Das zurückgelassene Bild wurde von den Akteuren noch
mehrfach besucht, sein Verschwinden in Wald und Schnee fotografisch
begleitet.
## Totgeschwiegenes Waldsterben
Politisch eindeutig griff dann 2006 der Este Villem Jahu zum Gewehr und
[12][exekutierte], vor ebenfalls verschneiter Waldkulisse, ein
pseudo-suprematistisches Bild. Auch diese abstrakte Kunst rund um die
russische Oktoberrevolution war ab den späten 1920er-Jahren ja in Ungnade
gefallen, ihre Vertreter wurden verfolgt, mitunter hingerichtet. Oder eine
Gruppe Künstler im Thüringischen, die mit Rohrstücken, Schnüren und einer
Luftpumpe eine Baumruine „wiederbeleben“ wollte: Ein Verweis auf das auch
in der DDR während der 1980er-Jahre empfundene, von der offiziellen Politik
jedoch totgeschwiegene Waldsterben.
Mit akrobatischer Raffinesse stieg ab 2009 die Polin [13][Cecylia Malik]
jeden Tag auf einen anderen Baum, häufig in den Straßen ihrer Heimatstadt
Breslau, um auf einen Schutz dieser für Klima und Lebensqualität komplexen
Lebewesen hinzuweisen.
## Gefährlicher Charme
Und mit geradezu versponnen lyrischen, sukzessiven Ritualen praktiziert die
russische Gruppe „Kollektive Aktionen“ seit 1997 im Moskauer Forst: Erst
wurden 13 Bücher verpackt und vergraben, ein Batteriewecker mit zehn Jahren
Laufzeit aufgestellt, die Stellen mit Kartoffeln beworfen, irgendwann
Unterholz beseitigt, ein aufgehängter Regenschirm in Flammen gesetzt, 2005
ein Buch ausgegraben, ein Eisenstab mit einem Knauf in Schildkrötenform in
den Boden gehämmert, auch er wieder umgesetzt … Wer denkt da nicht an die
verlorenen Seelen etwa eines Dostojewski, ihren absurden Ausbruch aus
gesellschaftlichen, religiösen, politischen Zwängen?
Ein Pionier dieser Kunstform ist der 1938 in Stockholm geborene Bengt af
Klintberg. Im Hauptberuf Professor für Ethnologie und Folklore, begann er
in den 1960er-Jahren mit Events in Geiste des Fluxus. Er stellte etwa
Eisbrocken aus einem Teich im Wald aus, verfolgte, wie sie auftauend
verschwanden. Ein historischer Taucheranzug, den er geschenkt bekam,
inspirierte ihn 1973 zu seinen Variationen des „[14][Forest Diver]“: mal
schwebend über den Bäumen, mal sie umschlingend.
Das Utensil ist nun in Wilhelmshaven zu sehen. Klintberg betont den
gefährlichen Charme des Waldes, in dem man sich im wahrsten Sinne des
Wortes verlieren kann. Das wiederum wäre ein Erkenntnisvorgang wie ihn
Petra Stegmann liebt: Nicht umsonst zitiert sie im Titel ihres Projektes
den schottisch-amerikanischen Naturphilosophen John Muir, der dem
Aufenthalt im Wald eine transzendierende Wirkung beimisst, die dem Menschen
innere Klarheit und tiefere geistige Einsicht zu bescheren vermag.
13 Oct 2019
## LINKS
[1] /!5621105
[2] https://throughaforestwilderness.org
[3] https://www.inarcadia.de
[4] http://www.bkv-potsdam.de/throughaforestwilderness
[5] https://www.kunsthalle-wilhelmshaven.de
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Neuenburger_Holz
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Land_Art
[8] https://www.monopol-magazin.de/kanye-west-spendet-james-turrell-zehn-millio…
[9] https://www.7000eichen.de/
[10] https://www.monopol-magazin.de/die-superavantgarde
[11] https://de.wikipedia.org/wiki/Gorgona_Group
[12] https://www.saatchiart.com/art/Photography-Execution/128654/39132/view
[13] https://culture.pl/en/artist/cecylia-malik
[14] https://www.fondazionebonotto.org/en/collection/poetry/klintbergbengtaf/an…
## AUTOREN
Bettina Maria Brosowsky
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zeitgenössische Kunst
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