# taz.de -- Kunsthalle beendet Kunstverleih: Auf Tuchfühlung | |
> Weil die Kunsthalle Wilhelmshaven Reiner Maria Matysiks Skulpturen nicht | |
> zeigen konnte, durften Interessierte die Kunstwerke mit nach Hause | |
> nehmen. | |
Bild: Wieder zurück: Kunstwerke von Reiner Maria Matysik in der Kunsthalle Wil… | |
Wilhelmshaven taz | Stoisch still wartet sie auf dem Beifahrersitz des | |
Minis von Elke Graf-Tobeck. Die stürzt in die [1][Kunsthalle Wilhelmshaven] | |
und fragt, ob mal jemand helfen könne, die Freundin ohne Wasserschäden | |
durch den gerade prasselnden Regen zurück an ihren Arbeitsplatz zu | |
transportieren. Denn fürs mobile Miteinander ist sie arg eingeschränkt, hat | |
keine Extremitäten, Ohren oder Augen – ist eben eine sich über einen Meter | |
streckende Seegurke, von Graf-Tobeck „Gurki“ genannt. | |
Ihre Kreatur trägt sie rasch an den zugewiesen Platz, zwischen einer Wand | |
voller Skizzen weiterer biomorpher Figurinen, einem riesigen Fenster und | |
dem Schreibtisch der in den Ausstellungssaal umgezogenen Direktorin Petra | |
Stegmann. Neben ihr sollte die Seegurke vom 23. März bis 17. Mai ihre | |
modrig bemalte Latexhaut im hereinflackernden Sonnenlicht baden für die | |
Ausstellung „Komm, nimm mich“ des Künstlers Reiner Maria Matysik. | |
Coronakrisenbedingt wurde all das verboten. | |
Schnell einen virtuellen Ausstellungsrundgang programmieren? „Nein, | |
Skulpturen kann man nicht im Internet zeigen“, sagt der Künstler, Professor | |
für dreidimensionales Gestalten an der Kunsthochschule Halle. Man müsse | |
ihre Volumina im physischen Raum erleben. Und so entschied er, wenn niemand | |
die 250 bereitstehenden Objekte besuchen könne, sollten Interessierte diese | |
zu sich nach Hause holen. Als Partner für die pandemische Isolationszeit. | |
Alles kostenlos und komplett versichert. Niedrigschwelliger kann der | |
Kontakt zu zeitgenössischer Kunst kaum angeboten werden. | |
Die Auflistung der Take-away-Art stand im Internet, eine Mail genügte, | |
schon wurde ein Leihvertrag verschickt, nach Unterzeichnung kam die Kunst | |
frei Haus. Und konnte so dem einförmigen, nur von zärtlichen Blicken, nie | |
von Händen liebkosten Dasein im gestrengen Museumskontext entfliehen und | |
temporär Asyl finden als Mitbewohnerin kunstsinniger Hausgemeinschaften. | |
Einige Werke hatten allerdings Pech und mussten in Bürokomplexen für | |
Unternehmen die Kunden beeindrucken. JA-Gastechnology in Burgwedel orderte | |
die zentnerschwere Aluminiumskulptur „wolke“ (2013), die Gothaer | |
Versicherung kippte eine lockere Schüttung von Kristallstrukturen, die | |
Matysik aus schwarz lackierten Pappkartons gebastelt hat, in ihr Kölner | |
Foyer, etwas demoliert kamen sie nun zurück. | |
„Gurki“ traf es besser, sie wurde herzlich in den Alltag integriert, | |
täglich umarmt, durfte mit Haustieren spielen, sich im Garten herumlümmeln | |
und immer mit Fernsehen gucken, erzählt Graf-Tobeck. | |
Stegmann freut sich über den Erfolg der Aktion. 55 Kunstwerke fanden | |
bundesweit Gastfamilien. „satelliten“ betitelte Kristallglaskugeln lagen | |
bei einer Wilhelmshavenerin auf dem Boden. Von innen versilberte | |
Glasamöben, die Matysik „biomorph 22“ taufte, schlummerten auf einem | |
pelzbedeckten Wohnzimmertisch. Eine Freundin des dildoartigen | |
Kunststoffdings „leidensbefallenes stück“ ging mit ihm schlafen. | |
Vor allem ausgeliehen wurden Radiolarienskelette, die Matysiks Studenten | |
aus Polystyrolplatten, bekannt von der Hauswändedämmung, geschnitzt hatten | |
– nach 2-D-Lichtmikroskopaufnahmen der Strahlentierchen. Ein regionaler | |
Bezug? „Nein, die kommen unter der Meeresoberfläche in wärmeren Gewässern | |
als der Nordsee vor“, sagt Gregor Scheiffarth von der | |
Nationalparkverwaltung Wattenmeer, die einen der Natur nachgestalteten | |
Einzeller wochenlang auf einem Sockel drapierte. | |
Am Freitag mussten alle Leihgaben wieder im Museum sein. Denn seit Samstag | |
ist die Ausstellung nun doch noch für jedermann zugänglich. Wenige Werke | |
fehlen – die Ausleiher hatten sich so verliebt und wollen sie erwerben. | |
Im Eingangsbereich ist nun gleich zu entdecken, warum die Ausstellung von | |
vornherein „Komm, nimm mich“ betitelt wurde. Flohmarkt-Überbleibsel liegen | |
auf Tischen, Krimskrams-Assemblagen, die jeder Besucher neu arrangieren | |
darf. Leider ist das nur maskiert und mit Handschuhen erlaubt. Die müssen | |
auch über den Fingern bleiben, wenn das Originalbüro der Kunsthallen-Chefin | |
betreten wird, wo Objekte platziert sind, die entweder durch ihre | |
Erscheinung sexuelle Assoziationen wecken oder als kindliche | |
Wabbelplastik-Gebilde daherkommen – und befummelt werden sollen. Dazu | |
eingespielt sind gelesene Passagen aus Matysiks Trash-Porno-Büchlein | |
„sexuelles vegetieren“, in dem botanische „Skulpturen, die Wort geblieben | |
sind“, so der Autor, den Menschen zum Wirt der eigenen Fortpflanzung | |
degradieren. | |
Denn das ist Matysiks künstlerisches Programm: Bei seinen Objekten geht es | |
um Entwicklung, Wachstum, Strukturbildungsprozesse. Um Biologie. Wenn Gott | |
schon die Schöpfung vergeigt hat, macht sich Matysik zum Designer | |
zukünftiger Lebensformen. Alle Fantasiemodelle sind Urzellen einer aktiv | |
konstruierten Evolution. Sie ähneln in Teilung befindlichen Einzellern oder | |
im Selbstverlängerungsmodus erstarrten Würmern. Mal sehen sie auch aus wie | |
ein Kondom mit Noppen – etwa die mit kondensierendem Wasser gefüllte | |
Glasbläserarbeit „wechselständig“. Sie soll aber den Tidenhub vor der | |
Haustür thematisieren. | |
Kleinere organoide Glasobjekte lagern auf Glaswolle, „sinken hinein wie in | |
die Nordsee am Südstrand Wilhelmshavens“, interpretiert Matysik | |
lokalpatriotisch. Getöpferte Pilze recken sich ein paar Raumecken weiter. | |
„Wir leben in einer Zeit, in der Organismen von Menschen geschaffenen | |
Entitäten sind“, sagt der Künstler. Natur sei nichts Gegebenes mehr, | |
sondern Material eigener Gestaltungsvisionen – so wie die Werkstoffe für | |
die Künstler. | |
Gewachsene versus entworfene Formen, Schöpferfantasie dank Schöpfermacht, | |
darauf zu verweisen, scheint Matysik wichtig zu sein. Nicht moralisieren, | |
kritisieren will er. Widerständig sind seine Arbeiten deshalb eher nicht. | |
Vielmehr putzig, kauzig, von smarter Schlichtheit. Mit „Gurki“ als | |
biologischer Plastik-Ikone für Matysiks Zukunftswelt. | |
8 Jun 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.kunsthalle-wilhelmshaven.de/ | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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