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# taz.de -- Rechte Szene in Wurzen bei Leipzig: Rechts der Mulde
> Ein Kampfsportler aus der Neonazi-Szene zieht am Dienstag in den Stadtrat
> von Wurzen ein. Die Rechten sind dabei, die Hegemonie zu erlangen.
Bild: Eigentlich ganz idyllisch: Wurzen
Wurzen taz | Es ist still in Wurzen, an diesem warmen Dienstagvormittag
Mitte August. Nur wenige Menschen sind zu sehen, und wenn, dann sind es
Senior*innen, die auf dem historischen Marktplatz in der Sonne sitzen. Das
Domcafé an der Ecke ist noch geschlossen, die Eisdiele öffnet erst mittags.
Ein paar kleine Einzelhandelsgeschäfte liegen still, hoffend auf
Kund*innen. Hin und wieder klappert ein Auto über das Kopfsteinpflaster.
Viel mehr passiert nicht in der Stadt, die sich wegen ihres berühmtesten
Sohns, des Schriftstellers Joachim Ringelnatz, auch „Ringelnatzstadt“
nennt. Es fühlt sich an, als wäre hier alles in Ordnung.
Wurzen, im Mai 2019: Stadtratswahl. Für zwei der antretenden Gruppierungen
ist es ein Sieg auf voller Linie: Die Neulinge AfD und „Neues Forum für
Wurzen“ (NFW) ziehen erstmals in den Stadtrat ein. Die Alternative für
Deutschland mit 15,7 Prozent der Stimmen. Die freie Liste des NFW mit 11
Prozent. Vier Sitze wird die AfD ab dem 27. August einnehmen. Drei das NFW.
Einen dieser Sitze besetzt Benjamin Brinsa, gewählt mit 359 Stimmen. Über
30.000 Treffer bekommt man, wenn man ihn bei Google sucht. Bilder von dem
muskulösen Mann in Kampfpose, Videos von ihm beim
Mixed-Martial-Arts-Training (MMA). Und unzählige Texte. Von linken
Recherchegruppen, Online-Magazinen, Tageszeitungen. Brinsa ist bekannt –
als rechter Kampfsportler und „Neonazi-Hooligan“, wie linke Seiten ihn
nennen.
Benjamin Brinsa, Jahrgang 1989, ist ein gefeierter Kämpfer der rechten
Freefight-Szene. Sein Spitzname: „The Hooligan“. 2013 stand er sogar unter
Vertrag des weltweit größten MMA-Veranstalters Ultimate Fighting
Championship. Dieser wurde allerdings, bevor Brinsa auch nur einen einzigen
Kampf für die UFC absolviert hatte, gekündigt – [1][aufgrund von Hinweisen
auf Verbindungen in die rechte Szene]. Heute ist er der Kopf des rechten
MMA-Teams „Imperium Fight Teams.“ Einige Mitglieder des Teams waren bei dem
Nazi-[2][Angriff auf Leipzig-Connewitz 2016] dabei. Von Brinsa selbst gibt
es Fotos, die ihn bei [3][den rechten Ausschreitungen in Chemnitz 2018]
zeigen.
Nun wird er Fraktionsvorsitzender des NFW. Auf Facebook triumphiert er am
Tag der Wahl, gratuliert seinen Mitstreitern – und der AfD, mit der man nun
„zusammen eine ordentliche Anzahl an Personen im Stadtrat sitzen“ habe.
Anfang August postete er ein Foto von sich vor einer Straßenlaterne in
Wurzen, ein umgedrehtes Wahlplakat in der Hand. Für welche Partei
mobilisiert Brinsa? Er verrät es nicht. Heute hängt an dieser Stelle das
Plakat von Jens Zaunik, dem AfD-Spitzenkandidaten.
## Der Zusammenschluss nationaler Kräfte
Es ist der Zusammenschluss nationaler Kräfte, ein Triumph der Rechten in
Wurzen – zumindest parlamentarisch. Die Strategie Rechter, über freie
Listen in Parlamente einzuziehen, wird besonders im ländlichen Raum immer
beliebter. Zusammen haben AfD und NFW mehr als doppelt so viele Stimmen wie
die SPD, die Partei des Oberbürgermeisters Jörg Röglin.
Was hat der Oberbürgermeister gedacht, am Abend nach der Wahl? „Ach du
Heimatland.“ Röglin seufzt, sein Blick ist aufrecht. Er ist sichtlich
erschöpft. Seine hellblauen Augen wirken müde. Der 49-Jährige sitzt in
seinem großen, hellen Büro im Wurzener Rathaus. Ratlos. „Wie der Stadtrat
gewählt wurde, spricht seine eigene Sprache.“
Röglin erzählt davon, wie sich die Stadt um Weltoffenheit bemühe. Von
Demokratieprojekten, Vereinen, der Stadtjugendarbeit. „Und jetzt kommen
solche Wahlergebnisse zustande.“ Er inszeniert nachdenkliche Pausen. „Jetzt
müssen Sie mir erklären, wie so was passiert. Ich kann es Ihnen nicht
sagen.“
Wurzen ist eine beschauliche Stadt, knapp dreißig Kilometer östlich von
Leipzig. Auf der Karte liegt sie rechts der Mulde. Domstadt, gelegen an dem
Pilgerweg „Via Regia“, touristisch aufgehübscht mit sanierten historischen
Altbauten.
Will man versuchen, die Frage Röglins zu beantworten, muss man sich das
andere Wurzen anschauen. Die Hakenkreuze, die unsauber an Hauswände
geschmiert sind. Die hohe Dichte an AfD- und NPD-Wahlplakaten. Die
antisemitischen Aufkleber. Das „Zecken schlachten“-Graffito nur wenige
Meter entfernt von dem Büro des Netzwerks für Demokratische Kultur. (NDK).
Das ist die Sprache, die die Wahlergebnisse sprechen.
## Demokratieprojekt unter Beschuss
Wer sind diese neuen Rechten? Das Wahlprogramm des Neuen Forum mit seinen
achtundzwanzig kommunalpolitischen Programmpunkten liest sich wie ein
Lehrwerk populistischer Demagogie. Das Forum – allen voran sein Gründer
Christoph Dietel – inszeniert sich mit seinem Namen in vermeintlicher
Tradition der DDR-Bürgerrechtler. Jedoch mit gefährlichen Inhalten. So
werden etablierte demokratische Parteien mit der SED verglichen, eine
„Drosselung der Zuwanderung aus dem Orient und Afrika“ gefordert,
kolonialrassistische Stereotype verbreitet.
Einer der Feinde des NFW ist das NDK. „Für die sind wir hier in Wurzen der
Arm von der Antifa in Leipzig“, sagt die Geschäftsführerin Martina Glass
kopfschüttelnd. Dabei geht es beim NDK um Bildungsprojekte, um Kultur, um
Jugendarbeit – auch gegen rechts. [4][Schon 2018 berichtete die taz über
den Rassismus in Wurzen] und darüber, dass Dietel eine Petition für die
Streichung der Gelder für das NDK forderte – erfolglos.
Jetzt sind sie im Stadtrat. „Ich gehe davon aus, dass sie als Erstes
versuchen werden, unsere Förderungen einzustellen“, sagt Glass. Seit zehn
Jahren betreut sie das Demokratiezentrum. Bei einem Gesprächsversuch im
letzten Jahr habe Dietel sie angeschrien. „Dass wir die Errungenschaften
des weißen Mannes und seine Vaterstadt beschmutzen.“ Seitdem rede er nicht
mehr mit dem NDK.
Glass lächelt, lacht fast darüber, als könne man ihn nicht ernst nehmen.
Aber Dietels Parolen kommen bei den Wurzner*innen an. „Er schreit und
schreit – und die Leute glauben die ganzen Lügen, die er verbreitet.“ Auch
Brinsa mobilisierte für die Wahl gegen das NDK: „Schluss mit
Steuergeldverschwendung an das NDK! Schluss mit linker Bevormundung!“
Zum NDK Gelände, dem großen Haus mit der graubraunen Fassade und den alten
Holztüren, den weiträumigen, offenen Büros und gemütlichen Garten, gehört
auch das Kultur- und Bürgerzentrum D5. Es ist das Projekt, für das das NDK
kommunale Förderung erhält. Der Dorn im Auge der Rechten. Majestätisch
gelegen neben Dom und Schloss. Viele Leute gehen an diesem Sommertag im
August ein und aus, das NDK ist ein Ort der Zusammenkunft.
Es könnte fast idyllisch sein, wenige Tage vor der konstituierenden
Stadtratssitzung. Wären da nicht die eingeschlagenen Fensterscheiben und
schlaff hängenden abgerissenen Kabel, die über der Eingangstür herausragen.
„Ich habe das Gefühl, dass die Angriffe anfangen, sich zu häufen.“ Glass
sitzt auf einer der Holzbänke im Garten des NDK, auf dem die Mitarbeitenden
sich zum Mittagessen treffen, an diesem ruhigen Tag in Wurzen. Angst hat
sie nicht, sagt sie. Besorgt sei sie schon.
## Schon zwei Anschläge dieses Jahr
Erst vor wenigen Tagen, in der Nacht vom zweiten auf den dritten August,
gab es einen Anschlag auf das Kultur- und Bürger*innenzentrum D5. Schon
wieder. Der letzte Angriff liegt erst drei Monate zurück. Von beiden
Attacken gibt es Aufnahmen einer Überwachungskamera. Die taz konnte die
Videos sichten.
Der erste Angriff, im 12. Mai 2019, geschah mitten am Tag: Der Zeitstempel
zeigt 17:13 Uhr. Fünf schwarz gekleidete Personen sammeln sich vor dem
Grundstück. Zwei Autos fahren vor. Weitere Personen kommen zur Gruppe, ein
paar von ihnen setzen sich auf die kleine Grundstücksmauer. Das Treffen
wirkt geplant. Plötzlich rennt einer von ihnen auf die Wiese vor dem Haus,
wirft einen Gegenstand. Glasscherben zerbrechen – vermutlich eine Flasche.
Weitere Männer tun es ihm gleich. Alle tragen Kapuzen. Bis auf einen, ein
nicht allzu großer junger Mann mit schwarzer Sonnenbrille. Er sieht die
Kamera, setzt sich die Kapuze auf, schnellt mit seinem Arm hervor und reißt
die Kamera raus. Das Bild bricht ab, die andere Kamera filmt weiter. Binnen
Sekunden ziehen alle Angreifer ab und rennen davon.
Das Video vom zweiten Angriff, aufgenommen in der Nacht zum 3. August 2019,
zeigt den Hintereingang des Hauses. Drei vermummte, schwarz gekleidete
Männer schleichen eine Treppe hoch. Dann geht alles ganz schnell: Sie
werfen etwas Unerkennbares und verschwinden. Am nächsten Tag wird
Geschäftsführerin Martina Glass eine eingeschlagene Scheibe und einen Stein
vorfinden.
Nach dem ersten Angriff schreibt das NDK: Es waren Neonazis, die von einem
Fußballspiel des ATSV Wurzen gegen den Roten Stern Leipzig kamen. Der
Journalist Sören Kohlhuber schreibt auf seinem Blog, unter den Rechten bei
dem Fußballspiel sei Toni Bierstedt gewesen, Listenkandidat der
Bürgerinitative Neues Forum für Wurzen.
Besagter Bierstedt fiel schon am 20. Januar 2018 in Wurzen auf: Das
Antifa-Bündnis „Irgendwo in Deutschland“ zieht mit einer Demonstration
durch die Stadt. Es gibt ein Foto von diesem Tag, da ist Bierstedt unter
einer Gruppe Männern mit einem Teleskopschlagstock zu sehen. Daneben:
Benjamin Brinsa, ebenfalls mit Schlagstock.
Auf Belltower News, dem Informationsportal der Amadeu-Antonio-Stiftung,
heißt es über den Vorfall, „schwer bewaffnete Neonazis wollten in Wurzen
Journalist*innen und eine linke Kundgebung angreifen“. Kohlhuber war unter
den Berichtenden. Er schreibt: „Eine Person zog dabei die Klinge symbolisch
am eigenen Hals entlang und deutete anschließend mit dieser in Richtung der
Journalisten.“
Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen des Angriffs. Am 22. 2. 2019 wird
das Verfahren eingestellt. Begründung: Es habe keinen hinreichenden
Verdacht für Straftaten gegeben. Staatsanwalt Ricardo Schulz erklärte
gegenüber der taz: „Durch Polizei und Staatsanwaltschaft war nicht zu
klären, durch wen, wann und wo die Bilder aufgenommen worden sind und ob es
sich bei dem einen Gegenstand, den eine vermummte Person mit sich führt,
tatsächlich um eine Waffe handelt.“
Auch hinter den beiden Angriffen auf das NDK werden Rechte vermutet: In
einem Artikel auf Belltower News über den ersten Angriff im Mai heißt es,
„Mitarbeiter*innen des NDK und weitere Szene-Beobachter*innen“ vermuten
hinter der Attacke die „808 Crew“, eine neue freie Kameradschaft der
Region. Nach dem zweiten Angriff schreibt das NDK: Es waren drei mutmaßlich
rechtsextremistische Personen.
## Eine Hooligangruppe wie die „Terror Crew Muldental“
Es gibt Chatprotokolle von Mitgliedern der „808 Crew“, vom 20. Dezember
2018, die der taz vorliegen. Darin heißt es: „Bei 808 ging es von afnang an
eine stabile junhs truppe zu machen vor der man angst und respekt hat“
(sic!). Man wolle eine „hooligan Gruppe“ wie die „Terror Crew Muldental“
aufbauen – eine rechte Jugendgruppe, die zwischen 2008 und 2012 in der
Region rund um Wurzen aktiv war und gegen die der Verfassungsschutz 2011
wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelte. Und es gibt Fotos.
Eins zeigt ein „808“-Mitglied beim Zeigen des Hitlergrußes. Ein anderes
zeigt ein paar Jungs von „808“ mit dem „Imperium Fight Team“, dem
Kampfsportteam von Benjamin Brinsa.
Heute sagt Martina Glass: „Wir haben eine Vermutung, aber wir dürfen aus
ermittlungstechnischen Gründen nichts sagen.“ Die Polizei und die
Staatsanwaltschaft sagen das Gleiche.
„Das Kernproblem, was wir haben, ist eine Justiz, die der Sache nicht
wirklich Herr wird“, sagt der Oberbürgermeister, wenn man ihn fragt, wie
die Rechten sich in Wurzen so ausbreiten konnten. Röglin ist kein Linker.
Er ist ein Sozialdemokrat, der Rechtsstaat seine Religion, die Gesetze
seine Bibel. Seine Worte sind deutlich. Kann er sich erklären, dass das
Verfahren gegen die Angreifer vom Januar 2018 eingestellt wurde? „Ich?“
Röglin lacht. „Nee. Da müssen sie mal den Justizminister fragen.“
Was Röglin meint: Das klaffende Loch zwischen der Anzahl polizeilich
erfasster Straftaten in Wurzen und der Verurteilungen durch die Justiz.
## Geringe Aufklärungsquoten rechter Straftaten
Die Gruppe „Rassismus tötet!“ aus Leipzig hat eine Chronik rechter
Aktivitäten in Wurzen von Juli 2017 bis heute veröffentlicht. 2018 waren es
mindestens 45 rechte Straftaten, darunter 12 Körperverletzungen, zum Teil
schwere, wie der Angriff auf eine schwangere Frau aus Eritrea im März 2018.
Für keine einzige dieser Straftaten gibt es ein Urteil, die meisten
Verfahren wurden eingestellt. Auch die Statistiken aus den Kleinen Anfragen
der Abgeordneten Kerstin Köditz (Linke) belegen: Nur die wenigsten rechten
Straf- und Gewalttaten in Wurzen werden von der Justiz bestraft. Die
Aufklärungsquoten sind verschwindend gering.
Jens Kretzschmar kennt das Problem. Zu lange schon macht er in Wurzen
Politik, als dass er die rechten Umtriebe ausblenden könnte. 1999 war er
einer der Jugendlichen, die das NDK gründeten. Heute ist er älter, ruhiger.
Ein netter Mann, der viel lächelt und sich etwas Lausbubenhaftes bewahrt
hat. Auch er sitzt im Stadtrat. Für die Linke tritt er nun zur Landtagswahl
an.
Nach dem ersten Angriff auf das NDK im Mai war er es, der die Polizei
anrief. Er erzählt, wie die Beamten kamen. Wie sie Fotos von auf dem Boden
liegenden Scherben und der demolierten Überwachungskamera machten. Und wie
sie die Kamera, die wie das Video zeigt mit bloßer Hand runtergerissen
wurde, liegen ließen. „Ich habe die Beamten mehrfach darauf hingewiesen,
dass da Fingerabdrücke drauf sind.“ Kretzschmar sagt kopfschüttelnd:
„Wochen später rief die Kripo an: Herr Kretzschmar wir haben gehört, dass
das Beweismittel noch bei Ihnen ist.“ Polizei und Staatsanwaltschaft geben
wegen laufender Ermittlungen keine Auskunft dazu.
Muss die sächsische Justiz härter gegen die Rechten durchgreifen? „Die
sächsische Justiz müsste überhaupt mal durchgreifen“, sagt Röglin. Er
spricht aufgebrachter als zuvor. Es geht auch um das Image seiner Stadt.
„Solange sich diese extremistischen Strukturen egal welcher Couleur
entfalten können und es passiert nichts, machen die weiter. Das ist wie mit
den Kindern. Die testen ihre Grenzen aus und schauen, wie weit sie sie
verschieben können. Und irgendwann tanzen sie uns auf der Nase rum.“
## Die Rechten breiten sich aus
Wenn man mit Jens Kretzschmar durch Wurzen fährt, zeigt er einem die
Schauplätze des Kampfes der Rechten um Hegemonie, wie eine Chronik, in der
Jahr für Jahr Neues dazu kommt. Ein Haus, das in den Neunzigern von
Neonazis angegriffen wurde. Die Autowerkstatt, aus der Brinsa und Co. bei
dem Angriff auf Journalist*innen im Januar 2018 rausgestürmt sein sollen.
Ein Tattoostudio. Ein Sonnenstudio. Die Bar Napoles, über die eine
ängstliche Nachbarin sagt, sie wolle sich nicht äußern, habe aber auch
schon gehört, dass die Betreiber Rechte seien. All diese Geschäfte seien in
den Händen der rechten Szene, sagt Kretzschmar.
Läuft man vom Rathaus zum Bahnhof, passiert man eine weitere Immobilie, an
einer großen Durchfahrtstraße, nur unweit der Gleise. Im Mai ging von einem
unbekannten Absender aus Wurzen eine Nachricht rum, die der taz vorliegt:
„Gebäudekomplex Dresdener Strasse 40 in Wurzen hat für eine halbe Million
den Besitzer gewechselt. Das Grundstück beinhaltet Spielothek, Pension,
Konzerthalle, Bar und Diskothek, ca. 16.000 Quadratmeter Freifläche und
riesige Lagerhallen. Käufer sind Benjamin Brinsa (Stadtratskandidat Neues
Forum Wurzen), Michael Beresan, Aws Sitto, Thorsten Richter.“
In Wurzen erzählt man sich, Brinsa wolle dort ein Fitnessstudio eröffnen,
vielleicht sogar Freefight-Kämpfe abhalten. Es gibt viele Indizien und
viele Menschen, die behaupten, etwas zu wissen. Dass es ein Mietkauf
gewesen sein, für 5.000 Euro im Monat. Dass das Datum der notariellen
Beglaubigung der 22. Mai gewesen sei.
Eindeutig belegen lässt sich das nicht. Im Grundbuch ist ein anderer
Besitzer eingetragen. Eine Sprecherin des Amtsgerichts sagt, es könne
dauern, bis sich solche Eintragungen ändern.
Im Netz kursiert ein Foto von Benjamin Brinsa, wie er auf einer Bühne bei
einem Konzert der rechtsextremen Band „Kategorie C“ steht. Entstanden ist
es Mitte August. Auf Twitter wird gemutmaßt, das Konzert sei im ehemaligen
„Puls“ Club gewesen. Adresse: Dresdener Straße 40, Wurzen.
Die Polizei sagt gegenüber der taz, sie habe zwar nichts von einem Auftritt
der Band gewusst. „Aber es ist aufgrund der Bilder davon auszugehen, dass
es stimmt“, so Sprecher Alexander Bertram. Man wisse es nicht zu hundert
Prozent – aber auch die Ermittler gingen davon aus, dass das Konzert von
Kategorie C mit Benjamin Brinsa auf der Bühne im Gebäude des ehemaligen
Puls Club war. „Der Veranstalter wird das schon so gestrickt haben, dass
wir davon nichts erfahren.“
Auch dieser Auftritt ist nicht eindeutig belegbar.
Was jedoch klar ist: Von der taz wurde Benjamin Brinsa vor dem Gelände der
Dresdener Straße 40 gesehen.
## Die Ohnmacht der Demokratie
Wenn man den Bürgermeister nach dem Kampfsportler fragt, zeigt sich die
Machtlosigkeit der Stadt über die rechten Umtriebe. „Solange er sich nichts
zuschulden kommen lässt oder unsere Justiz ihm nichts nachweisen kann oder
will, kann ich mit meinem Demokratieprojekt strampeln, bis aus der Milch
Quark wird.“ Röglin seufzt. „Da habe ich keine Chance.“
Wenige Meter zu Fuß von den glatt polierten Kopfsteinstraßen der Altstadt
liegt die Karl-Marx-Straße. Vergangenes Wochenende hat es hier eine
Schlägerei gegeben. Der Linken-Politiker Kretzschmar erzählt: Ein Mann habe
„Scheiß Nazis, Scheiß Nazis“ gerufen. „Dann sind sie auf ihn drauf. Ein…
hat sich draufgesetzt und immer wieder reingedroschen, reingedroschen.“ Er
wiederholt das Wort, irgendwo zwischen Fassungslosigkeit und Gewohnheit.
Hat Jens Kretzschmar Angst? „Nee, die hätte ich erst, wenn sie die absolute
Mehrheit haben.“ Er lächelt. Der Politiker ist mitten im Landtagswahlkampf.
„Allmählich verschwinden meine Plakate in Wurzen.“ Er deutet auf ein
Großplakat auf einer Wiese: „Das haben sie letztens versucht abzubrennen.“
Kretzschmar bleibt unbeirrt. Sein Auto hat einen Sprung in der Scheibe.
„Lohnt nicht, das zu reparieren“, sagt er. „Die werfen da sowieso immer
wieder was drauf.“
## Was bleibt für Wurzen übrig?
[5][2018 hieß es in der taz, es gebe nicht viel zu sehen in Wurzen.] In der
Stadt, „wo eine rechtspopulistische Minderheit den Rest der Stadt vor sich
her treibt und den öffentlichen Diskurs übernimmt. Wo diejenigen, die
dagegen protestieren, an den Rand gedrängt werden. Wo die Mitte verstummt.“
Heute, nur ein Jahr danach, ist die Minderheit keine Minderheit mehr. Im
Stadtrat ernten die rechten Demagogen die Früchte ihrer Hetze.
„Was soll ich denn dazu sagen? Was soll ich tun?“ Es sind rhetorische
Fragen, die der Bürgermeister stellt. Für ihn sind die Entwicklungen keine
Wurzener Spezifika. „Wenn sich der Freistaat so entwickelt, was bleibt dann
für so eine sächsische Kleinstadt wie Wurzen übrig?“
Für Dienstag, 27. August, den Tag, an dem der neu zusammengesetzte Stadtrat
das erste Mal tagt, sind Proteste angekündigt. Es ist das gleiche
bundesweite antifaschistische Bündnis wie schon im Januar 2018. Auch von
rechter Seite wird mobilisiert – gegen die antifaschistische Demo.
Als im September 2017 Linke in Wurzen demonstrierten, waren es 350 Antifas,
umzingelt von einem Großaufgebot der Polizei, inklusive SEK und
Wasserwerfer. Ein Monat nach der Demonstration wurde gegen einen der dort
anwesenden SEK-Beamten Disziplinarstrafe verhängt – wegen eines Verstoßes
gegen die sogenannte Polizeidienstkleidungsordnung. Der Beamte hatte einen
Aufnäher mit einem bei der extremen Rechten beliebten Symbol an seiner
Uniform getragen.
Für diesen Dienstag wird kein SEK-Einsatz erwartet, die Stimmung bei Stadt
und Demo-Anmelder*innen wirkt ruhiger, man rechnet mit etwa 50 Personen.
Angemeldet hat die Demonstration die [6][Linken-Politikerin Juliane Nagel
aus Leipzig].
Auch ein Teil der Organisator*innen kommt aus dem nahe gelegenen Leipzig.
Sie wollen anonym bleiben, zu groß sei die Angst vor Repressionen und
Nazis. Warum schon wieder Wurzen? „Es ist wichtig zu thematisieren, was es
für eine Region bedeutet, wenn sich Nazis so eine Infrastruktur schaffen“,
sagt Sven* (Name geändert) für das Bündnis. „Infrastruktur baut Szene auf.…
Röglin sagt: „Die Antifa wird hier durch die Stadt ziehen und den Wurznern
wahrscheinlich in die Fenster schreien, dass hier ein Nazi in den Stadtrat
eingezogen ist. Und dann setzen sie sich in die S-Bahn und fahren wieder
zurück.“
Kretztschmar sagt, es müsse immer antifaschistischen Widerstand geben. Aber
man müsse schauen, welche Formen zielführend seien.
Glass sagt, antifaschistischer Protest müsse auch aus der Stadt selbst
kommen.
Alle drei sagen, es gebe viele Aktive in Wurzen, die sich gegen die Rechten
stellen.
Zu reichen scheint es nicht.
26 Aug 2019
## LINKS
[1] /Free-Fighter-gegen-Nazis/!5098897
[2] /Grossangriff-auf-einen-Stadtteil/!5265306
[3] /Eine-ostdeutsche-Grossstadt-in-Aufruhr/!5532080
[4] /Rassismus-in-Sachsen/!5520152
[5] /Rassismus-in-Sachsen/!5520152
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## AUTOREN
Sarah Ulrich
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