# taz.de -- Rechte Szene in Wurzen bei Leipzig: Rechts der Mulde | |
> Ein Kampfsportler aus der Neonazi-Szene zieht am Dienstag in den Stadtrat | |
> von Wurzen ein. Die Rechten sind dabei, die Hegemonie zu erlangen. | |
Bild: Eigentlich ganz idyllisch: Wurzen | |
WURZEN taz | Es ist still in Wurzen, an diesem warmen Dienstagvormittag | |
Mitte August. Nur wenige Menschen sind zu sehen, und wenn, dann sind es | |
Senior*innen, die auf dem historischen Marktplatz in der Sonne sitzen. Das | |
Domcafé an der Ecke ist noch geschlossen, die Eisdiele öffnet erst mittags. | |
Ein paar kleine Einzelhandelsgeschäfte liegen still, hoffend auf | |
Kund*innen. Hin und wieder klappert ein Auto über das Kopfsteinpflaster. | |
Viel mehr passiert nicht in der Stadt, die sich wegen ihres berühmtesten | |
Sohns, des Schriftstellers Joachim Ringelnatz, auch „Ringelnatzstadt“ | |
nennt. Es fühlt sich an, als wäre hier alles in Ordnung. | |
Wurzen, im Mai 2019: Stadtratswahl. Für zwei der antretenden Gruppierungen | |
ist es ein Sieg auf voller Linie: Die Neulinge AfD und „Neues Forum für | |
Wurzen“ (NFW) ziehen erstmals in den Stadtrat ein. Die Alternative für | |
Deutschland mit 15,7 Prozent der Stimmen. Die freie Liste des NFW mit 11 | |
Prozent. Vier Sitze wird die AfD ab dem 27. August einnehmen. Drei das NFW. | |
Einen dieser Sitze besetzt Benjamin Brinsa, gewählt mit 359 Stimmen. Über | |
30.000 Treffer bekommt man, wenn man ihn bei Google sucht. Bilder von dem | |
muskulösen Mann in Kampfpose, Videos von ihm beim | |
Mixed-Martial-Arts-Training (MMA). Und unzählige Texte. Von linken | |
Recherchegruppen, Online-Magazinen, Tageszeitungen. Brinsa ist bekannt – | |
als rechter Kampfsportler und „Neonazi-Hooligan“, wie linke Seiten ihn | |
nennen. | |
Benjamin Brinsa, Jahrgang 1989, ist ein gefeierter Kämpfer der rechten | |
Freefight-Szene. Sein Spitzname: „The Hooligan“. 2013 stand er sogar unter | |
Vertrag des weltweit größten MMA-Veranstalters Ultimate Fighting | |
Championship. Dieser wurde allerdings, bevor Brinsa auch nur einen einzigen | |
Kampf für die UFC absolviert hatte, gekündigt – [1][aufgrund von Hinweisen | |
auf Verbindungen in die rechte Szene]. Heute ist er der Kopf des rechten | |
MMA-Teams „Imperium Fight Teams.“ Einige Mitglieder des Teams waren bei dem | |
Nazi-[2][Angriff auf Leipzig-Connewitz 2016] dabei. Von Brinsa selbst gibt | |
es Fotos, die ihn bei [3][den rechten Ausschreitungen in Chemnitz 2018] | |
zeigen. | |
Nun wird er Fraktionsvorsitzender des NFW. Auf Facebook triumphiert er am | |
Tag der Wahl, gratuliert seinen Mitstreitern – und der AfD, mit der man nun | |
„zusammen eine ordentliche Anzahl an Personen im Stadtrat sitzen“ habe. | |
Anfang August postete er ein Foto von sich vor einer Straßenlaterne in | |
Wurzen, ein umgedrehtes Wahlplakat in der Hand. Für welche Partei | |
mobilisiert Brinsa? Er verrät es nicht. Heute hängt an dieser Stelle das | |
Plakat von Jens Zaunik, dem AfD-Spitzenkandidaten. | |
## Der Zusammenschluss nationaler Kräfte | |
Es ist der Zusammenschluss nationaler Kräfte, ein Triumph der Rechten in | |
Wurzen – zumindest parlamentarisch. Die Strategie Rechter, über freie | |
Listen in Parlamente einzuziehen, wird besonders im ländlichen Raum immer | |
beliebter. Zusammen haben AfD und NFW mehr als doppelt so viele Stimmen wie | |
die SPD, die Partei des Oberbürgermeisters Jörg Röglin. | |
Was hat der Oberbürgermeister gedacht, am Abend nach der Wahl? „Ach du | |
Heimatland.“ Röglin seufzt, sein Blick ist aufrecht. Er ist sichtlich | |
erschöpft. Seine hellblauen Augen wirken müde. Der 49-Jährige sitzt in | |
seinem großen, hellen Büro im Wurzener Rathaus. Ratlos. „Wie der Stadtrat | |
gewählt wurde, spricht seine eigene Sprache.“ | |
Röglin erzählt davon, wie sich die Stadt um Weltoffenheit bemühe. Von | |
Demokratieprojekten, Vereinen, der Stadtjugendarbeit. „Und jetzt kommen | |
solche Wahlergebnisse zustande.“ Er inszeniert nachdenkliche Pausen. „Jetzt | |
müssen Sie mir erklären, wie so was passiert. Ich kann es Ihnen nicht | |
sagen.“ | |
Wurzen ist eine beschauliche Stadt, knapp dreißig Kilometer östlich von | |
Leipzig. Auf der Karte liegt sie rechts der Mulde. Domstadt, gelegen an dem | |
Pilgerweg „Via Regia“, touristisch aufgehübscht mit sanierten historischen | |
Altbauten. | |
Will man versuchen, die Frage Röglins zu beantworten, muss man sich das | |
andere Wurzen anschauen. Die Hakenkreuze, die unsauber an Hauswände | |
geschmiert sind. Die hohe Dichte an AfD- und NPD-Wahlplakaten. Die | |
antisemitischen Aufkleber. Das „Zecken schlachten“-Graffito nur wenige | |
Meter entfernt von dem Büro des Netzwerks für Demokratische Kultur. (NDK). | |
Das ist die Sprache, die die Wahlergebnisse sprechen. | |
## Demokratieprojekt unter Beschuss | |
Wer sind diese neuen Rechten? Das Wahlprogramm des Neuen Forum mit seinen | |
achtundzwanzig kommunalpolitischen Programmpunkten liest sich wie ein | |
Lehrwerk populistischer Demagogie. Das Forum – allen voran sein Gründer | |
Christoph Dietel – inszeniert sich mit seinem Namen in vermeintlicher | |
Tradition der DDR-Bürgerrechtler. Jedoch mit gefährlichen Inhalten. So | |
werden etablierte demokratische Parteien mit der SED verglichen, eine | |
„Drosselung der Zuwanderung aus dem Orient und Afrika“ gefordert, | |
kolonialrassistische Stereotype verbreitet. | |
Einer der Feinde des NFW ist das NDK. „Für die sind wir hier in Wurzen der | |
Arm von der Antifa in Leipzig“, sagt die Geschäftsführerin Martina Glass | |
kopfschüttelnd. Dabei geht es beim NDK um Bildungsprojekte, um Kultur, um | |
Jugendarbeit – auch gegen rechts. [4][Schon 2018 berichtete die taz über | |
den Rassismus in Wurzen] und darüber, dass Dietel eine Petition für die | |
Streichung der Gelder für das NDK forderte – erfolglos. | |
Jetzt sind sie im Stadtrat. „Ich gehe davon aus, dass sie als Erstes | |
versuchen werden, unsere Förderungen einzustellen“, sagt Glass. Seit zehn | |
Jahren betreut sie das Demokratiezentrum. Bei einem Gesprächsversuch im | |
letzten Jahr habe Dietel sie angeschrien. „Dass wir die Errungenschaften | |
des weißen Mannes und seine Vaterstadt beschmutzen.“ Seitdem rede er nicht | |
mehr mit dem NDK. | |
Glass lächelt, lacht fast darüber, als könne man ihn nicht ernst nehmen. | |
Aber Dietels Parolen kommen bei den Wurzner*innen an. „Er schreit und | |
schreit – und die Leute glauben die ganzen Lügen, die er verbreitet.“ Auch | |
Brinsa mobilisierte für die Wahl gegen das NDK: „Schluss mit | |
Steuergeldverschwendung an das NDK! Schluss mit linker Bevormundung!“ | |
Zum NDK Gelände, dem großen Haus mit der graubraunen Fassade und den alten | |
Holztüren, den weiträumigen, offenen Büros und gemütlichen Garten, gehört | |
auch das Kultur- und Bürgerzentrum D5. Es ist das Projekt, für das das NDK | |
kommunale Förderung erhält. Der Dorn im Auge der Rechten. Majestätisch | |
gelegen neben Dom und Schloss. Viele Leute gehen an diesem Sommertag im | |
August ein und aus, das NDK ist ein Ort der Zusammenkunft. | |
Es könnte fast idyllisch sein, wenige Tage vor der konstituierenden | |
Stadtratssitzung. Wären da nicht die eingeschlagenen Fensterscheiben und | |
schlaff hängenden abgerissenen Kabel, die über der Eingangstür herausragen. | |
„Ich habe das Gefühl, dass die Angriffe anfangen, sich zu häufen.“ Glass | |
sitzt auf einer der Holzbänke im Garten des NDK, auf dem die Mitarbeitenden | |
sich zum Mittagessen treffen, an diesem ruhigen Tag in Wurzen. Angst hat | |
sie nicht, sagt sie. Besorgt sei sie schon. | |
## Schon zwei Anschläge dieses Jahr | |
Erst vor wenigen Tagen, in der Nacht vom zweiten auf den dritten August, | |
gab es einen Anschlag auf das Kultur- und Bürger*innenzentrum D5. Schon | |
wieder. Der letzte Angriff liegt erst drei Monate zurück. Von beiden | |
Attacken gibt es Aufnahmen einer Überwachungskamera. Die taz konnte die | |
Videos sichten. | |
Der erste Angriff, im 12. Mai 2019, geschah mitten am Tag: Der Zeitstempel | |
zeigt 17:13 Uhr. Fünf schwarz gekleidete Personen sammeln sich vor dem | |
Grundstück. Zwei Autos fahren vor. Weitere Personen kommen zur Gruppe, ein | |
paar von ihnen setzen sich auf die kleine Grundstücksmauer. Das Treffen | |
wirkt geplant. Plötzlich rennt einer von ihnen auf die Wiese vor dem Haus, | |
wirft einen Gegenstand. Glasscherben zerbrechen – vermutlich eine Flasche. | |
Weitere Männer tun es ihm gleich. Alle tragen Kapuzen. Bis auf einen, ein | |
nicht allzu großer junger Mann mit schwarzer Sonnenbrille. Er sieht die | |
Kamera, setzt sich die Kapuze auf, schnellt mit seinem Arm hervor und reißt | |
die Kamera raus. Das Bild bricht ab, die andere Kamera filmt weiter. Binnen | |
Sekunden ziehen alle Angreifer ab und rennen davon. | |
Das Video vom zweiten Angriff, aufgenommen in der Nacht zum 3. August 2019, | |
zeigt den Hintereingang des Hauses. Drei vermummte, schwarz gekleidete | |
Männer schleichen eine Treppe hoch. Dann geht alles ganz schnell: Sie | |
werfen etwas Unerkennbares und verschwinden. Am nächsten Tag wird | |
Geschäftsführerin Martina Glass eine eingeschlagene Scheibe und einen Stein | |
vorfinden. | |
Nach dem ersten Angriff schreibt das NDK: Es waren Neonazis, die von einem | |
Fußballspiel des ATSV Wurzen gegen den Roten Stern Leipzig kamen. Der | |
Journalist Sören Kohlhuber schreibt auf seinem Blog, unter den Rechten bei | |
dem Fußballspiel sei Toni Bierstedt gewesen, Listenkandidat der | |
Bürgerinitative Neues Forum für Wurzen. | |
Besagter Bierstedt fiel schon am 20. Januar 2018 in Wurzen auf: Das | |
Antifa-Bündnis „Irgendwo in Deutschland“ zieht mit einer Demonstration | |
durch die Stadt. Es gibt ein Foto von diesem Tag, da ist Bierstedt unter | |
einer Gruppe Männern mit einem Teleskopschlagstock zu sehen. Daneben: | |
Benjamin Brinsa, ebenfalls mit Schlagstock. | |
Auf Belltower News, dem Informationsportal der Amadeu-Antonio-Stiftung, | |
heißt es über den Vorfall, „schwer bewaffnete Neonazis wollten in Wurzen | |
Journalist*innen und eine linke Kundgebung angreifen“. Kohlhuber war unter | |
den Berichtenden. Er schreibt: „Eine Person zog dabei die Klinge symbolisch | |
am eigenen Hals entlang und deutete anschließend mit dieser in Richtung der | |
Journalisten.“ | |
Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen des Angriffs. Am 22. 2. 2019 wird | |
das Verfahren eingestellt. Begründung: Es habe keinen hinreichenden | |
Verdacht für Straftaten gegeben. Staatsanwalt Ricardo Schulz erklärte | |
gegenüber der taz: „Durch Polizei und Staatsanwaltschaft war nicht zu | |
klären, durch wen, wann und wo die Bilder aufgenommen worden sind und ob es | |
sich bei dem einen Gegenstand, den eine vermummte Person mit sich führt, | |
tatsächlich um eine Waffe handelt.“ | |
Auch hinter den beiden Angriffen auf das NDK werden Rechte vermutet: In | |
einem Artikel auf Belltower News über den ersten Angriff im Mai heißt es, | |
„Mitarbeiter*innen des NDK und weitere Szene-Beobachter*innen“ vermuten | |
hinter der Attacke die „808 Crew“, eine neue freie Kameradschaft der | |
Region. Nach dem zweiten Angriff schreibt das NDK: Es waren drei mutmaßlich | |
rechtsextremistische Personen. | |
## Eine Hooligangruppe wie die „Terror Crew Muldental“ | |
Es gibt Chatprotokolle von Mitgliedern der „808 Crew“, vom 20. Dezember | |
2018, die der taz vorliegen. Darin heißt es: „Bei 808 ging es von afnang an | |
eine stabile junhs truppe zu machen vor der man angst und respekt hat“ | |
(sic!). Man wolle eine „hooligan Gruppe“ wie die „Terror Crew Muldental“ | |
aufbauen – eine rechte Jugendgruppe, die zwischen 2008 und 2012 in der | |
Region rund um Wurzen aktiv war und gegen die der Verfassungsschutz 2011 | |
wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelte. Und es gibt Fotos. | |
Eins zeigt ein „808“-Mitglied beim Zeigen des Hitlergrußes. Ein anderes | |
zeigt ein paar Jungs von „808“ mit dem „Imperium Fight Team“, dem | |
Kampfsportteam von Benjamin Brinsa. | |
Heute sagt Martina Glass: „Wir haben eine Vermutung, aber wir dürfen aus | |
ermittlungstechnischen Gründen nichts sagen.“ Die Polizei und die | |
Staatsanwaltschaft sagen das Gleiche. | |
„Das Kernproblem, was wir haben, ist eine Justiz, die der Sache nicht | |
wirklich Herr wird“, sagt der Oberbürgermeister, wenn man ihn fragt, wie | |
die Rechten sich in Wurzen so ausbreiten konnten. Röglin ist kein Linker. | |
Er ist ein Sozialdemokrat, der Rechtsstaat seine Religion, die Gesetze | |
seine Bibel. Seine Worte sind deutlich. Kann er sich erklären, dass das | |
Verfahren gegen die Angreifer vom Januar 2018 eingestellt wurde? „Ich?“ | |
Röglin lacht. „Nee. Da müssen sie mal den Justizminister fragen.“ | |
Was Röglin meint: Das klaffende Loch zwischen der Anzahl polizeilich | |
erfasster Straftaten in Wurzen und der Verurteilungen durch die Justiz. | |
## Geringe Aufklärungsquoten rechter Straftaten | |
Die Gruppe „Rassismus tötet!“ aus Leipzig hat eine Chronik rechter | |
Aktivitäten in Wurzen von Juli 2017 bis heute veröffentlicht. 2018 waren es | |
mindestens 45 rechte Straftaten, darunter 12 Körperverletzungen, zum Teil | |
schwere, wie der Angriff auf eine schwangere Frau aus Eritrea im März 2018. | |
Für keine einzige dieser Straftaten gibt es ein Urteil, die meisten | |
Verfahren wurden eingestellt. Auch die Statistiken aus den Kleinen Anfragen | |
der Abgeordneten Kerstin Köditz (Linke) belegen: Nur die wenigsten rechten | |
Straf- und Gewalttaten in Wurzen werden von der Justiz bestraft. Die | |
Aufklärungsquoten sind verschwindend gering. | |
Jens Kretzschmar kennt das Problem. Zu lange schon macht er in Wurzen | |
Politik, als dass er die rechten Umtriebe ausblenden könnte. 1999 war er | |
einer der Jugendlichen, die das NDK gründeten. Heute ist er älter, ruhiger. | |
Ein netter Mann, der viel lächelt und sich etwas Lausbubenhaftes bewahrt | |
hat. Auch er sitzt im Stadtrat. Für die Linke tritt er nun zur Landtagswahl | |
an. | |
Nach dem ersten Angriff auf das NDK im Mai war er es, der die Polizei | |
anrief. Er erzählt, wie die Beamten kamen. Wie sie Fotos von auf dem Boden | |
liegenden Scherben und der demolierten Überwachungskamera machten. Und wie | |
sie die Kamera, die wie das Video zeigt mit bloßer Hand runtergerissen | |
wurde, liegen ließen. „Ich habe die Beamten mehrfach darauf hingewiesen, | |
dass da Fingerabdrücke drauf sind.“ Kretzschmar sagt kopfschüttelnd: | |
„Wochen später rief die Kripo an: Herr Kretzschmar wir haben gehört, dass | |
das Beweismittel noch bei Ihnen ist.“ Polizei und Staatsanwaltschaft geben | |
wegen laufender Ermittlungen keine Auskunft dazu. | |
Muss die sächsische Justiz härter gegen die Rechten durchgreifen? „Die | |
sächsische Justiz müsste überhaupt mal durchgreifen“, sagt Röglin. Er | |
spricht aufgebrachter als zuvor. Es geht auch um das Image seiner Stadt. | |
„Solange sich diese extremistischen Strukturen egal welcher Couleur | |
entfalten können und es passiert nichts, machen die weiter. Das ist wie mit | |
den Kindern. Die testen ihre Grenzen aus und schauen, wie weit sie sie | |
verschieben können. Und irgendwann tanzen sie uns auf der Nase rum.“ | |
## Die Rechten breiten sich aus | |
Wenn man mit Jens Kretzschmar durch Wurzen fährt, zeigt er einem die | |
Schauplätze des Kampfes der Rechten um Hegemonie, wie eine Chronik, in der | |
Jahr für Jahr Neues dazu kommt. Ein Haus, das in den Neunzigern von | |
Neonazis angegriffen wurde. Die Autowerkstatt, aus der Brinsa und Co. bei | |
dem Angriff auf Journalist*innen im Januar 2018 rausgestürmt sein sollen. | |
Ein Tattoostudio. Ein Sonnenstudio. Die Bar Napoles, über die eine | |
ängstliche Nachbarin sagt, sie wolle sich nicht äußern, habe aber auch | |
schon gehört, dass die Betreiber Rechte seien. All diese Geschäfte seien in | |
den Händen der rechten Szene, sagt Kretzschmar. | |
Läuft man vom Rathaus zum Bahnhof, passiert man eine weitere Immobilie, an | |
einer großen Durchfahrtstraße, nur unweit der Gleise. Im Mai ging von einem | |
unbekannten Absender aus Wurzen eine Nachricht rum, die der taz vorliegt: | |
„Gebäudekomplex Dresdener Strasse 40 in Wurzen hat für eine halbe Million | |
den Besitzer gewechselt. Das Grundstück beinhaltet Spielothek, Pension, | |
Konzerthalle, Bar und Diskothek, ca. 16.000 Quadratmeter Freifläche und | |
riesige Lagerhallen. Käufer sind Benjamin Brinsa (Stadtratskandidat Neues | |
Forum Wurzen), Michael Beresan, Aws Sitto, Thorsten Richter.“ | |
In Wurzen erzählt man sich, Brinsa wolle dort ein Fitnessstudio eröffnen, | |
vielleicht sogar Freefight-Kämpfe abhalten. Es gibt viele Indizien und | |
viele Menschen, die behaupten, etwas zu wissen. Dass es ein Mietkauf | |
gewesen sein, für 5.000 Euro im Monat. Dass das Datum der notariellen | |
Beglaubigung der 22. Mai gewesen sei. | |
Eindeutig belegen lässt sich das nicht. Im Grundbuch ist ein anderer | |
Besitzer eingetragen. Eine Sprecherin des Amtsgerichts sagt, es könne | |
dauern, bis sich solche Eintragungen ändern. | |
Im Netz kursiert ein Foto von Benjamin Brinsa, wie er auf einer Bühne bei | |
einem Konzert der rechtsextremen Band „Kategorie C“ steht. Entstanden ist | |
es Mitte August. Auf Twitter wird gemutmaßt, das Konzert sei im ehemaligen | |
„Puls“ Club gewesen. Adresse: Dresdener Straße 40, Wurzen. | |
Die Polizei sagt gegenüber der taz, sie habe zwar nichts von einem Auftritt | |
der Band gewusst. „Aber es ist aufgrund der Bilder davon auszugehen, dass | |
es stimmt“, so Sprecher Alexander Bertram. Man wisse es nicht zu hundert | |
Prozent – aber auch die Ermittler gingen davon aus, dass das Konzert von | |
Kategorie C mit Benjamin Brinsa auf der Bühne im Gebäude des ehemaligen | |
Puls Club war. „Der Veranstalter wird das schon so gestrickt haben, dass | |
wir davon nichts erfahren.“ | |
Auch dieser Auftritt ist nicht eindeutig belegbar. | |
Was jedoch klar ist: Von der taz wurde Benjamin Brinsa vor dem Gelände der | |
Dresdener Straße 40 gesehen. | |
## Die Ohnmacht der Demokratie | |
Wenn man den Bürgermeister nach dem Kampfsportler fragt, zeigt sich die | |
Machtlosigkeit der Stadt über die rechten Umtriebe. „Solange er sich nichts | |
zuschulden kommen lässt oder unsere Justiz ihm nichts nachweisen kann oder | |
will, kann ich mit meinem Demokratieprojekt strampeln, bis aus der Milch | |
Quark wird.“ Röglin seufzt. „Da habe ich keine Chance.“ | |
Wenige Meter zu Fuß von den glatt polierten Kopfsteinstraßen der Altstadt | |
liegt die Karl-Marx-Straße. Vergangenes Wochenende hat es hier eine | |
Schlägerei gegeben. Der Linken-Politiker Kretzschmar erzählt: Ein Mann habe | |
„Scheiß Nazis, Scheiß Nazis“ gerufen. „Dann sind sie auf ihn drauf. Ein… | |
hat sich draufgesetzt und immer wieder reingedroschen, reingedroschen.“ Er | |
wiederholt das Wort, irgendwo zwischen Fassungslosigkeit und Gewohnheit. | |
Hat Jens Kretzschmar Angst? „Nee, die hätte ich erst, wenn sie die absolute | |
Mehrheit haben.“ Er lächelt. Der Politiker ist mitten im Landtagswahlkampf. | |
„Allmählich verschwinden meine Plakate in Wurzen.“ Er deutet auf ein | |
Großplakat auf einer Wiese: „Das haben sie letztens versucht abzubrennen.“ | |
Kretzschmar bleibt unbeirrt. Sein Auto hat einen Sprung in der Scheibe. | |
„Lohnt nicht, das zu reparieren“, sagt er. „Die werfen da sowieso immer | |
wieder was drauf.“ | |
## Was bleibt für Wurzen übrig? | |
[5][2018 hieß es in der taz, es gebe nicht viel zu sehen in Wurzen.] In der | |
Stadt, „wo eine rechtspopulistische Minderheit den Rest der Stadt vor sich | |
her treibt und den öffentlichen Diskurs übernimmt. Wo diejenigen, die | |
dagegen protestieren, an den Rand gedrängt werden. Wo die Mitte verstummt.“ | |
Heute, nur ein Jahr danach, ist die Minderheit keine Minderheit mehr. Im | |
Stadtrat ernten die rechten Demagogen die Früchte ihrer Hetze. | |
„Was soll ich denn dazu sagen? Was soll ich tun?“ Es sind rhetorische | |
Fragen, die der Bürgermeister stellt. Für ihn sind die Entwicklungen keine | |
Wurzener Spezifika. „Wenn sich der Freistaat so entwickelt, was bleibt dann | |
für so eine sächsische Kleinstadt wie Wurzen übrig?“ | |
Für Dienstag, 27. August, den Tag, an dem der neu zusammengesetzte Stadtrat | |
das erste Mal tagt, sind Proteste angekündigt. Es ist das gleiche | |
bundesweite antifaschistische Bündnis wie schon im Januar 2018. Auch von | |
rechter Seite wird mobilisiert – gegen die antifaschistische Demo. | |
Als im September 2017 Linke in Wurzen demonstrierten, waren es 350 Antifas, | |
umzingelt von einem Großaufgebot der Polizei, inklusive SEK und | |
Wasserwerfer. Ein Monat nach der Demonstration wurde gegen einen der dort | |
anwesenden SEK-Beamten Disziplinarstrafe verhängt – wegen eines Verstoßes | |
gegen die sogenannte Polizeidienstkleidungsordnung. Der Beamte hatte einen | |
Aufnäher mit einem bei der extremen Rechten beliebten Symbol an seiner | |
Uniform getragen. | |
Für diesen Dienstag wird kein SEK-Einsatz erwartet, die Stimmung bei Stadt | |
und Demo-Anmelder*innen wirkt ruhiger, man rechnet mit etwa 50 Personen. | |
Angemeldet hat die Demonstration die [6][Linken-Politikerin Juliane Nagel | |
aus Leipzig]. | |
Auch ein Teil der Organisator*innen kommt aus dem nahe gelegenen Leipzig. | |
Sie wollen anonym bleiben, zu groß sei die Angst vor Repressionen und | |
Nazis. Warum schon wieder Wurzen? „Es ist wichtig zu thematisieren, was es | |
für eine Region bedeutet, wenn sich Nazis so eine Infrastruktur schaffen“, | |
sagt Sven* (Name geändert) für das Bündnis. „Infrastruktur baut Szene auf.… | |
Röglin sagt: „Die Antifa wird hier durch die Stadt ziehen und den Wurznern | |
wahrscheinlich in die Fenster schreien, dass hier ein Nazi in den Stadtrat | |
eingezogen ist. Und dann setzen sie sich in die S-Bahn und fahren wieder | |
zurück.“ | |
Kretztschmar sagt, es müsse immer antifaschistischen Widerstand geben. Aber | |
man müsse schauen, welche Formen zielführend seien. | |
Glass sagt, antifaschistischer Protest müsse auch aus der Stadt selbst | |
kommen. | |
Alle drei sagen, es gebe viele Aktive in Wurzen, die sich gegen die Rechten | |
stellen. | |
Zu reichen scheint es nicht. | |
26 Aug 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Free-Fighter-gegen-Nazis/!5098897 | |
[2] /Grossangriff-auf-einen-Stadtteil/!5265306 | |
[3] /Eine-ostdeutsche-Grossstadt-in-Aufruhr/!5532080 | |
[4] /Rassismus-in-Sachsen/!5520152 | |
[5] /Rassismus-in-Sachsen/!5520152 | |
[6] /Linken-Abgeordnete-Juliane-Nagel/!5613020 | |
## AUTOREN | |
Sarah Ulrich | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Landtagswahlen | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Rechte Szene | |
Rechtsextremismus | |
Schwerpunkt Neonazis | |
Sachsen | |
Schwerpunkt Landtagswahl Sachsen 2024 | |
Wahlen in Ostdeutschland 2024 | |
Schwerpunkt Antifa | |
Schwerpunkt Landtagswahlen | |
Schwerpunkt Landtagswahlen | |
Sachsen | |
Polizei Sachsen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Streitgespräch mit Ex-Polizisten: „Wer ist gefährlicher?“ | |
Mit Leuten reden, die man für rechts hält? taz-Redakteur Bernd Pickert | |
meint ja und debattiert mit dem Youtuber Nick Hein. Ein Experiment. | |
Kleinstadt in Sachsen vor der Wahl: Leben mit Rechten in Wurzen | |
Ein Parlament, in dem Rechte ein Viertel der Stimmen haben. Was in Sachsen | |
und Brandenburg droht, gibt es in der sächsischen Kleinstadt Wurzen schon. | |
Rathaus in Grimma mit Kot beschmiert: Zicke Zacke „Höcke Kacke“ | |
Am Freitagabend will AfD-Mann Björn Höcke im Rathaus von Grimma sprechen. | |
Im Vorfeld ist das Gebäude mit Fäkalien und Graffiti beschmiert worden. | |
Rassismus in Sachsen: Wurzen ist überall | |
In Nordsachsen werden Flüchtlinge attackiert, Linke verleumdet und Rechte | |
steuern den Diskurs. Kommt Ihnen das bekannt vor? | |
Angriff auf schwangere Eritreerin: Immer wieder Wurzen | |
Zwei Vermummte haben eine schwangere 19-Jährige angegriffen. Sie sollen sie | |
rassistisch beschimpft haben. Die Polizei sucht nun nach Zeugen. |