| # taz.de -- Rassismus in Sachsen: Wurzen ist überall | |
| > In Nordsachsen werden Flüchtlinge attackiert, Linke verleumdet und Rechte | |
| > steuern den Diskurs. Kommt Ihnen das bekannt vor? | |
| Bild: Wurzen, Nordsachsen: Denkmal für die Gefallenen des 1. Weltkriegs am Bah… | |
| Wurzen taz | Dietel ist nicht da. Kretzschmar erhält keinen Applaus. Röglin | |
| kommt zum nächsten Programmpunkt. Drei Männer, ein Abend, eine | |
| Geschichte, die ihren Anfang nimmt im Stadtrat Wurzen. | |
| Man trifft sich im Plenarsaal. Helles Holz, dunkle Ölgemälde, viel Platz | |
| nach oben. Aus drei Fenstern schaut man auf die Kirche mit ihrem weißen | |
| Glockenturm, der weit über Wurzen hinausragt. Draußen schreien Schwalben | |
| im Tiefflug. Gegen 18 Uhr füllen ältere Damen und Herren die drei | |
| Stuhlreihen für Besucher, zwischen ihnen ein breiter Mann in Schlappen, | |
| rotem Shirt und schwarz-goldenem Kragen: ein ehemaliger NPD-Stadtrat. | |
| Oberbürgermeister Jörg Röglin, der Einzige an diesem Abend im Anzug, kommt | |
| zu Punkt 11 der Tagesordnung. Auf die Liste gesetzt hat ihn Christoph | |
| Dietel, Vorsitzender des Neuen Forums für Wurzen. Eine Bürgerbewegung, die | |
| an die AfD erinnert, aber nicht die AfD sein will. In einer Petition | |
| fordert Dietel die Streichung der Gelder für das „Netzwerk für | |
| demokratische Kultur“ (NDK). Ein Verein, der sich um Geflüchtete kümmert | |
| und die Zivilgesellschaft fördern möchte. | |
| Dietels Vorwurf: Das Netzwerk für Demokratische Kultur erwecke bei | |
| Einwanderern die falsche Idee, willkommen zu sein, und verleumde die | |
| Wurzener: „Darüber hinaus ist der Verein im höchsten Maße für Wurzens Ruf | |
| als BRAUNES HERZ DES MULDENTALS verantwortlich.“ Genau so steht es in der | |
| Petition, die im Stadtrat ausliegt. | |
| Alle 26 Abgeordneten – die AfD sitzt nicht im Stadtrat – recken grüne | |
| Zettelchen nach oben. „Die Petition ist abgelehnt“, sagt Jörg Röglin, so | |
| knapp und routiniert wie ein Richter beim Urteilsspruch. Jens Kretzschmar, | |
| Stadtrat der Linken, geht zum Rednerpult, eine braune Box, hinter der er | |
| fast verschwindet. Er ist ein schmaler Mann, keiner, der sich gern breit | |
| macht. Die Petition richtet sich gegen ihn, Kretzschmar hat das NDK | |
| gegründet. Er sagt: „Sie versuchen, Integration in unserer Stadt | |
| schlechtzureden, und beschimpfen alle, die etwas damit zu tun haben. Ist | |
| das Ihre Vorstellung von Kommunalpolitik?“ | |
| Kretzschmar hält eine Rede ins Nichts. Dietel ist nicht aufgetaucht. So | |
| ging das in letzter Zeit öfter in Wurzen. Christoph Dietel setzt die | |
| Themen, sorgt für Aufregung, und wenn es losgeht, ist er nicht da. Müde | |
| Gesichter bei den Abgeordneten. Kein Applaus. Zwei Stadträte klopfen leise | |
| auf den Tisch. Die Versammlung kommt zum nächsten Punkt. Ein Abend, wie | |
| bestellt und nicht abgeholt. | |
| ## Mit Nazis Haus an Haus | |
| Wurzen, Landkreis Leipzig, Nordsachsen, im Juni 2018. Das sind Islamgegner, | |
| nächtliche Aufmärsche vor Asylunterkünften und Hetze im Netz. Das sind | |
| Flüchtlingshelfer und linke Aktivisten, die immer weiter an den Rand | |
| gedrängt werden. Das sind Nachbarn, die seit 25 Jahren mit Nazis Haus an | |
| Haus wohnen. Das sind drei Männer im Streit, um eine Stadt, ihre Bewohner | |
| und den öffentlichen Diskurs. | |
| Da ist Christoph Dietel, früher Bürgerrechtler, heute wieder auf der Straße | |
| gegen das System. | |
| Da ist Jens Kretzschmar, früher Punk, heute „Gutmensch“, noch immer am | |
| Stören. | |
| Da ist Jörg Röglin, früher glühender Sozialist, heute ein SPD-Mann, wie | |
| eingeklemmt zwischen den Rändern. | |
| Ihr Streit zeigt, was mit der gesellschaftlichen Mitte passiert, wenn die | |
| konservativ-bürgerliche Mauer nach rechts zerbröselt, Politik immer lauter | |
| wird und Freund-Feind-Denken den Dialog ersetzt. Es ist ein Streit, der | |
| nicht nur in Wurzen tobt, nicht nur in Sachsen, sondern in ganz | |
| Deutschland. In Wurzen haben sie nur früher damit angefangen. | |
| Erinnerungen an die 1990er Jahre. In den ersten Jahren der neuen Republik | |
| feiern Nazis die Sommersonnenwende im Umland und Führers Geburtstag mit | |
| Partys im Jugendclub. Das Innenministerium von Sachsen und der | |
| Verfassungsschutz sprechen damals von Wurzen als einer Hochburg des neuen | |
| Rechtsextremismus. Von einem harten Kern aus 30 Neonazis und etwa 300 | |
| Unterstützern. | |
| Spricht man heute mit Wurzenern über diese Zeit, erzählen sie von jungen | |
| Glatzen, die Streife fuhren. Um den Bahnhof rum, fünf Jungs in einem Auto, | |
| der Baseballschläger immer dabei. Von Überfällen auf linke Kneipen und dem | |
| Obdachlosen, dem sie im März 1996 mit einer Luftdruckpistole das linke Auge | |
| rausschossen. | |
| ## „Multikulti Endstation“ | |
| Die Glatzen von früher sind mittlerweile Geschäftsleute. In Wurzen | |
| betreiben sie ein Sonnenstudio, eine Autowerkstatt und einen Versandhandel | |
| für rechte Musik, der im aktuellen Bericht des Verfassungsschutzes Sachsen | |
| als „einer der wichtigsten rechtsextremistischen Vertriebe im Freistaat | |
| Sachsen“ gelistet ist. | |
| Wurzen im März 2018: Rund 150 Männer und Frauen versammeln sich auf dem | |
| Marktplatz. Die Leipziger Volkszeitung berichtet und druckt Bilder: An | |
| einem Baum in der Mitte des Marktplatzes baumeln bunte Ostereier an kahlen | |
| Ästen. Ein paar selbst gebastelte Pappschilder: „Heimatliebe ist kein | |
| Verbrechen“. „Multikulti Endstation“. Vor einem Banner des Neuen Forums f… | |
| Wurzen steht Christoph Dietel, ein kräftiger Mann mit hoher Stimme, die | |
| sich überschlägt, wenn er sich aufregt, das Mikrofon in der rechten Hand: | |
| „Wir wollen unsere Vaterstadt retten.“ Hinter ihm stehen seine Anhänger wie | |
| eine Mauer. Applaus. | |
| Im Februar 2018 hat Dietel das Neue Forum für Wurzen gegründet. Ein | |
| lockeres Gebinde aus Geschäftsleuten, Handwerkern und Unternehmern. Die | |
| beiden Kovorsitzenden sind die führenden Gastronomen der Stadt. Flankiert | |
| wird Wurzens bürgerliche Mitte von NPD-Kadern und Rechtsextremen. Im März | |
| stehen sie das erste Mal auf dem Marktplatz. Ende Mai laden sie zur | |
| Bürgerstunde, unter Ausschluss der Presse. Auf Facebook hat die Seite 824 | |
| Likes. | |
| Der Name der Gruppe bezieht sich auf die Bürgerbewegung der DDR. Christoph | |
| Dietel ist damals ganz vorn dabei, ein Bürgerrechtler der ersten Stunde. | |
| Für die Meinungsfreiheit, gegen das System. Auch heute scharrt er wieder | |
| Leute um sich, nur dieses Mal in einem anderen Lager: „Das, wogegen wir uns | |
| ’89 wehren mussten, war weniger gefährlich als das, was jetzt über uns zu | |
| kommen droht. Es erfüllt sich der Urtraum des radikalen Islam, Europa zu | |
| besitzen!“, warnt er im März auf dem Marktplatz von Wurzen. | |
| Statt der SED jetzt also der Islam. Statt dem Ausländer an sich wie in den | |
| Neunzigern die Wirtschaftsflüchtlinge, die sich in das deutsche | |
| Sozialsystem einnisten. | |
| Wurzen hat rund 4 Prozent Arbeitslosigkeit, die Häuser sind renoviert, von | |
| den Balkonen hängen rote Geranien. Es gibt eine Schwimmhalle, ein | |
| Kulturhaus, zehn Kindergärten, vier Grundschulen, mittwochs ist | |
| Wochenmarkt. | |
| ## Steine, Pyros, gelockerte Radmuttern | |
| 2014 leben 152 Ausländer in Wurzen. Im September 2015 kommen die ersten | |
| Geflüchteten. Asylsuchende aus Eritrea, Syrien und Afghanistan. Viele junge | |
| Männer, unbegleitete Jugendliche, Familien. 250 auf rund 17.000 | |
| Einheimische. Verschwindend im Vergleich zu anderen Städten und Landkreisen | |
| der Republik und doch genug um wiederzubeleben, was lange als verschüttet | |
| galt. | |
| Im Februar 2016 demonstrieren etwa 100 Leute in der Innenstadt gegen | |
| Asylmissbrauch. Eine Facebook-Seite kündigt die Gründung einer Bürgerwehr | |
| an. Im Juni 2017 belagern rund 60 Personen ein Haus, in dem Geflüchtete | |
| leben. Die Zeitung druckt Fotos: Es zeigt die Demonstranten in kurzen | |
| Hosen, Bierflasche locker in der Hand. Freizeitparkstimmung, bis die | |
| Polizei räumt. Anfang dieses Jahres gibt es eine Massenschlägerei zwischen | |
| Deutschen und Flüchtlingen. Im Februar treten und schlagen zwei vermummte | |
| Männer eine Frau aus Eritrea, schwanger im siebten Monat. Im April gibt es | |
| einen vermutlich linksextremen Anschlag mit Buttersäure auf die beiden | |
| Restaurants der Kovorsitzenden des Neuen Forums für Wurzen. | |
| Und vor sechs Monaten lockern Unbekannte die Radmuttern am Auto von Jens | |
| Kretzschmar, dem Gründer des NDK. | |
| „Das war ja quasi ein Anschlag auf mein Leben“, sagt Kretzschmar, immer | |
| noch empört. Das mit den Radmuttern merkte er erst, als er schon unterwegs | |
| war. Seitdem steht sein Auto nur noch im Hof, nicht mehr auf der Straße. | |
| Seit den 90er Jahren fliegen bei Kretzschmar hin und wieder Steine ins | |
| Fenster. Einmal Pyros, beinahe wäre seine Wohnung abgebrannt. Seine | |
| Haustüre wurde mit rechtsextremen Parolen plakatiert. „Früher war es | |
| schlimmer“, sagt Jens Kretzschmar. Er ist mittlerweile ziemlich geübt | |
| darin, Attacken auf sich herunterzuspielen. | |
| Am Morgen nach der Stadtratssitzung sitzt Jens Kretzschmar im | |
| Besprechungsraum seines Vereins. Ein weiter Raum, vollgestellt mit Büchern, | |
| Schreibtischen, Kartons. Ein Durchgangszimmer, in dem der Durchgang | |
| herrscht: Hi Jens. Guten Morgen. Hi Jens. Wie geht’s? Das Netzwerk, | |
| gegründet Ende der 90er Jahre, ist ein Ort der Vermittlung zwischen Fremden | |
| und Einheimischen und eine Art Watch-Blog der rechten Szene vor Ort. In | |
| einer Chronik katalogisiert das Netzwerk alle Taten mit rechtsextremen | |
| Hintergrund, seit 2003. Jens Kretzschmar ist Gründungsmitglied und sitzt im | |
| Vorstand. | |
| An diesem Morgen wirkt Kretzschmar ein bisschen müde, ein bisschen | |
| unkonzentriert. Bevor er Fragen beantwortet, legt er lange Pausen ein. | |
| Seine blauen Sneaker scharren unterm Tisch. | |
| ## Ein alter Diskurs in neuer Auflage | |
| Über die Stadtratssitzung am vorigen Abend ist er nicht glücklich. „Ich | |
| fühle mich ein bisschen alleingelassen“, sagt Jens Kretzschmar. Das sagt er | |
| sehr vorsichtig. Er will sich nicht beklagen, nicht diejenigen vor den Kopf | |
| stoßen, die sich engagieren, nicht die Stadtverwaltung ärgern. Nicht noch | |
| mehr Angriffsfläche bieten als ohnehin schon. Kretzschmar, der Störenfried. | |
| Der Extreme, der immer ein bisschen zu laut ist und mit dem man sich als | |
| gemäßigte Person der Mitte lieber nicht gemeinmachen will. | |
| Auf der Website des Neuen Forums heißt es: Kretzschmar und sein Verein | |
| bauschten die Vorfälle in Wurzen auf, um an mehr Fördergelder zu kommen. | |
| Die Geschichte geht so: Je mehr rechtsextreme Übergriffe, desto mehr | |
| Fördergelder für seinen Verein. Desto mehr Steuergelder, die man den hart | |
| arbeitenden Bürgern wegnimmt und Gutmenschen und Sozialschmarotzern | |
| hinterherschmeißt. | |
| Es ist eine Geschichte, die streut. In die Kneipen, die Straßen, die | |
| Politik. Ein Wurzener Stadtrat erzählt vom schlechten Image der Stadt und | |
| Kretzschmars übermäßigem Willen, alles ans Licht zu zerren. Das sei | |
| schlecht für die Geschäfte. | |
| Am Ende sind es vielleicht doch die gleichen Feinde wie früher, nur unter | |
| neuen Namen. Wir gegen die. Ein alter Diskurs in neuer Auflage, der gut | |
| funktioniert, nicht nur in Wurzen. | |
| Rund 40 Prozent der Deutschen sind der Meinung, die deutsche Gesellschaft | |
| werde durch den Islam unterwandert und jeder Vierte denkt: Die regierenden | |
| Parteien betrügen das Volk. | |
| ## Der Mensch gewöhnt sich an alles | |
| Innenminister Horst Seehofer schmunzelt über Abschiebungen an seinem | |
| Geburtstag und spricht von „Asyltourismus“. Thilo Sarrazin schreibt schon | |
| 2010 von Kopftuchmädchen und der Eroberung Deutschlands durch die Türken. | |
| Anfang dieses Jahres ist er einer der Erstunterzeichner der „Gemeinsamen | |
| Erklärung 2018“. Eine Petition, aufgesetzt von namhaften Wissenschaftlern, | |
| Publizisten und Künstlern, die vor den Gefahren der illegalen | |
| Masseneinwanderung für Deutschland warnt. Rund 165.000 Menschen | |
| unterschreiben. | |
| Jens Kretzschmar ist in Wurzen aufgewachsen, als Kind war er treuer | |
| Sozialist. Im Winter 1989 ging er trotzdem auf die Straße. Da war er 16 und | |
| fuhr mit Freunden nach Leipzig. Nach der Wende trugen seine alten | |
| Fußballfreunde plötzlich Glatzen und wollten Ausländer und Linke kloppen. | |
| Andere waren mit dem Aufbau von verlorenem Wohlstand beschäftigt und hatten | |
| keine Zeit für Politik. Kretzschmar wurde Punk, organisierte Konzerte und | |
| Demos gegen rechts. | |
| Es gibt einen berühmten Satz des ehemaligen sächsischen | |
| Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf: „Die Sachsen sind immun gegen | |
| Rechtsextremismus.“ Das war nach der Jahrtausendwende, damals war es wieder | |
| ruhig geworden. Doch bereits in den wilden Neunzigern sagte der | |
| Bürgermeister von Wurzen: „Bei uns gibt’s keine Rechten.“ Das sei natür… | |
| Quatsch gewesen damals, sagt Kretzschmar. „Weg waren die Nazis nie, hat nur | |
| keiner mehr hingeschaut.“ Der Mensch gewöhnt sich an alles, auch an die | |
| Nazis von nebenan. | |
| Kommt man im Bahnhof Wurzen an, Gleis 2, und nimmt die Treppen nach unten | |
| in den Fußgängertunnel, läuft man an einem kleinen Gedicht vorbei, | |
| hingekritzelt an die Tunnelwand. Ein Vierzeiler von Joachim Ringelnatz, | |
| dem berühmtesten Sohn Wurzens. | |
| „Viel passiert zu allen Zeiten / in der Welt der Kleinigkeiten. / Stimmt | |
| bald ernst und stimmt bald heiter.– / So, nun blättre, bitte, weiter.“ | |
| Spricht man mit Wurzenern über die Übergriffe auf Geflüchtete, sagen sie: | |
| Schlimm, aber woanders ist es doch genauso. Sie sagen: Das sind doch nur | |
| Jugendliche, die aneinandergeraten. Oft geht es in diesen Gesprächen um den | |
| Einzelfall, selten um das Ganze: die rechten Strukturen in Wurzen, die | |
| ungestört wuchern konnten. | |
| ## Streetwoker, Skatepark, Bürgerfragestunden | |
| „Wir können die ja nicht aus unserer Stadt jagen“, sagt Jörg Röglin, der | |
| Oberbürgermeister von Wurzen. Er meint die Glatzen von früher, die jetzt | |
| Geschäftsleute sind. Seit 2008 ist Röglin Oberbürgermeister von Wurzen, | |
| SPD-Mitglied seit der letzten Bundestagswahl, Anzugliebhaber. Er sitzt in | |
| seinem Büro hinterm Schreibtisch. Die Wände sind hellblau, im Blau seiner | |
| Augen. Während Röglin seine ersten Sätze spricht, tippt er auf seinem | |
| Mobiltelefon herum. Er hat es nicht eilig, schon wieder über die Probleme | |
| seiner Stadt zu sprechen. | |
| Röglin, 48, und Kretzschmar, 45, sind beide sind in Wurzen aufgewachsen. | |
| Während Kretzschmar im Herbst ’89 auf die Straßen geht, ist Röglin Soldat | |
| der Nationalen Volksarmee, ein unbeirrbarer Sozialist. Die Wende: eine | |
| persönliche Enttäuschung. Er geht in eine Nachbargemeinde, studiert | |
| Informationstechnik, kehrt zurück nach Wurzen und wird Oberbürgermeister. | |
| Die Stadt ist seine Westentasche, er kennt alle. | |
| Über die Vorfälle in seiner Stadt, die Übergriffe auf Geflüchtete, sagt | |
| Röglin: Wir haben ein Problem, aber das haben andere Städte auch. Dass man | |
| immer auf Wurzen zeige, das findet er ungerecht. Über das Netzwerk für | |
| Demokratische Kultur, Kretzschmars Verein, sagt Röglin: Die machen wichtige | |
| Arbeit. Er sagt aber auch: Die tragen zur Frontenbildung bei. Und die will | |
| Röglin auf keinen Fall. Deswegen kommt er jetzt auf die gesellschaftliche | |
| Mitte Wurzens zu sprechen. Auf diejenigen, die es lieber ruhig haben, die | |
| keinen Ärger wollen. Weder von rechts noch von links. | |
| Röglin erzählt von Unternehmern, die sich um Praktikanten und Auszubildende | |
| aus Eritrea und Afghanistan kümmern. Von Arbeitskreisen und | |
| Bürgerfragestunden zum Thema Integration. Er erzählt von seinem Besuch beim | |
| Bürgermeister von Bautzen, der Ähnliches mit seiner Stadt erlebt. Von den | |
| Streetworkern, die die Jugendlichen von der Straße holen sollen, vom | |
| Skatepark, der gerade gebaut wird. | |
| Man kann Röglin nicht vorwerfen, er sei untätig. Nur, was er nicht sagt: | |
| Der Plan für den Skatepark, die Bemühungen um die Jugend, gibt es seit den | |
| 1990er Jahren. Schaut man in diese Zeit zurück und dann ins Heute, auf den | |
| Marktplatz von Wurzen, auf dem die Mitglieder des Neuen Forums ihre | |
| Schilder schwingen, auf die Übergriffe, drängt sich die Frage auf, ob | |
| Jugendarbeit wirklich reicht. | |
| Zwei Männer dieser Geschichte suchen die Öffentlichkeit. Dietel taucht | |
| unter. | |
| ## Dietel schreit, eine halbe Stunde lang | |
| Über den Gründer des Neuen Forums für Wurzen und seine Beweggründe etwas | |
| herauszufinden, ist schwierig. Einladungen der Stadt und des NDK lehnt er | |
| ab. Auf die Anfragen der taz meldet er sich nicht zurück. | |
| Jens Kretzschmar kann sich nicht an einen jugendlichen Dietel erinnern, | |
| nicht als Punk und nicht als Glatze. Er kennt ihn erst, seitdem Dietel ihn | |
| zum Ziel gemacht hat. Der ehemalige Pfarrer von Wurzen erinnert sich dunkel | |
| daran, einen Christoph Mike Dietel als Konfirmanden betreut zu haben. Ein | |
| alter Freund Dietels sagt, dass er als Bausoldat diente, irgendwann nach | |
| Leipzig zog und am theologischen Seminar studierte. Er erzählt von einem | |
| mutigen jungen Mann, der gegen die SED rebellierte. | |
| Es ist auch dieser Freund von früher, der andeutet, dass Dietel Schlimmes | |
| mit der Stasi erlebte. Überprüfen lässt sich das nicht. Angesichts von | |
| Dietels Position in der Bürgerrechtsbewegung ist es vorstellbar. Was nach | |
| der Wende mit dem mutigen jungen Mann passierte und wann er die Abbiegung | |
| auf den Wurzener Marktplatz genommen hat, darüber kann man nur spekulieren. | |
| Nach dem Gespräch mit dem Freund von früher meldet Dietel sich doch, am | |
| Telefon. Er schreit und klagt an. Eine halbe Stunde lang. Kretzschmar nennt | |
| er „das Vieh“. Er warnt: „Wir merken, dass Deutschland zugrunde geht!“ … | |
| fordert: „Niemand soll auf unsere Kosten leben.“ Auf die Frage, warum er | |
| einem persönlichen Gespräch aus dem Weg ging, sagt er: „Uns interessiert | |
| nicht, was Sie über uns denken.“ Dietel verabschiedet sich mit diesen | |
| Worten: „Schreiben Sie doch, ich bin ein Nazi. Mir egal.“ | |
| Die Geschichte von Dietel, Kretzschmar und Röglin, der drei Männer und | |
| ihrer Stadt, ist keine spektakuläre. Es gibt nicht viel zu sehen. So ist | |
| das immer bei Verschiebungen. Meistens bemerkt man sie erst, wenn es zu | |
| spät ist. Wie bei Häusern, die plötzlich Risse bekommen. So ist das auch in | |
| Wurzen, wo eine rechtspopulistische Minderheit den Rest der Stadt vor sich | |
| her treibt und den öffentlichen Diskurs übernimmt. Wo diejenigen, die | |
| dagegen protestieren, an den Rand gedrängt werden. Wo die Mitte verstummt. | |
| ## Angst macht klein | |
| Es sind nicht die Wendeverlierer, die auf dem Wurzener Marktplatz stehen. | |
| Es sind Restaurantbetreiber, Selbstständige und Handwerker. Menschen, denen | |
| es nicht schlechter geht als in anderen Orten Deutschlands und deren Ängste | |
| sie trotzdem auf die Straße treiben. Die Angst davor, das Erarbeitete zu | |
| verlieren. | |
| Eine Angst, die so klein macht, dass für Solidarität mit anderen kein Platz | |
| mehr ist. Was zählt, ist die eigene Gruppe. So ist das auf dem Marktplatz | |
| von Wurzen, dem Altmarkt von Dresden, im Osten Deutschlands genauso wie im | |
| Westen. Wir gegen die. Deutschland den Deutschen. Alles wie früher. | |
| Im Stadtrat Wurzen, mit Blick auf den weißen Glockenturm, eröffnet Jens | |
| Röglin die Bürgerfragestunde. Der ehemalige NPD-Stadtrat in | |
| Schwarz-Rot-Gold, ein schwerer Klotz, schleppt sich ans Mikrofon. Wie es | |
| mit der Verkehrsberuhigung vorangeht? Er habe Angst um die Kinder. Und dann | |
| ist da noch was: „Die ausländischen Mitbürger spielen Fußball am Busbahnhof | |
| und verkaufen Drogen im großen Stil.“ Röglin zieht die Augenbrauen nach | |
| oben. Er sieht genervt aus. Müde sagt er: „Da können Sie sich an die | |
| Polizei wenden.“ Kretzschmar seufzt, ganz still. | |
| 29 Jul 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Gesa Steeger | |
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