# taz.de -- Rassismus in Sachsen: Wurzen ist überall | |
> In Nordsachsen werden Flüchtlinge attackiert, Linke verleumdet und Rechte | |
> steuern den Diskurs. Kommt Ihnen das bekannt vor? | |
Bild: Wurzen, Nordsachsen: Denkmal für die Gefallenen des 1. Weltkriegs am Bah… | |
WURZEN taz | Dietel ist nicht da. Kretzschmar erhält keinen Applaus. Röglin | |
kommt zum nächsten Programmpunkt. Drei Männer, ein Abend, eine | |
Geschichte, die ihren Anfang nimmt im Stadtrat Wurzen. | |
Man trifft sich im Plenarsaal. Helles Holz, dunkle Ölgemälde, viel Platz | |
nach oben. Aus drei Fenstern schaut man auf die Kirche mit ihrem weißen | |
Glockenturm, der weit über Wurzen hinausragt. Draußen schreien Schwalben | |
im Tiefflug. Gegen 18 Uhr füllen ältere Damen und Herren die drei | |
Stuhlreihen für Besucher, zwischen ihnen ein breiter Mann in Schlappen, | |
rotem Shirt und schwarz-goldenem Kragen: ein ehemaliger NPD-Stadtrat. | |
Oberbürgermeister Jörg Röglin, der Einzige an diesem Abend im Anzug, kommt | |
zu Punkt 11 der Tagesordnung. Auf die Liste gesetzt hat ihn Christoph | |
Dietel, Vorsitzender des Neuen Forums für Wurzen. Eine Bürgerbewegung, die | |
an die AfD erinnert, aber nicht die AfD sein will. In einer Petition | |
fordert Dietel die Streichung der Gelder für das „Netzwerk für | |
demokratische Kultur“ (NDK). Ein Verein, der sich um Geflüchtete kümmert | |
und die Zivilgesellschaft fördern möchte. | |
Dietels Vorwurf: Das Netzwerk für Demokratische Kultur erwecke bei | |
Einwanderern die falsche Idee, willkommen zu sein, und verleumde die | |
Wurzener: „Darüber hinaus ist der Verein im höchsten Maße für Wurzens Ruf | |
als BRAUNES HERZ DES MULDENTALS verantwortlich.“ Genau so steht es in der | |
Petition, die im Stadtrat ausliegt. | |
Alle 26 Abgeordneten – die AfD sitzt nicht im Stadtrat – recken grüne | |
Zettelchen nach oben. „Die Petition ist abgelehnt“, sagt Jörg Röglin, so | |
knapp und routiniert wie ein Richter beim Urteilsspruch. Jens Kretzschmar, | |
Stadtrat der Linken, geht zum Rednerpult, eine braune Box, hinter der er | |
fast verschwindet. Er ist ein schmaler Mann, keiner, der sich gern breit | |
macht. Die Petition richtet sich gegen ihn, Kretzschmar hat das NDK | |
gegründet. Er sagt: „Sie versuchen, Integration in unserer Stadt | |
schlechtzureden, und beschimpfen alle, die etwas damit zu tun haben. Ist | |
das Ihre Vorstellung von Kommunalpolitik?“ | |
Kretzschmar hält eine Rede ins Nichts. Dietel ist nicht aufgetaucht. So | |
ging das in letzter Zeit öfter in Wurzen. Christoph Dietel setzt die | |
Themen, sorgt für Aufregung, und wenn es losgeht, ist er nicht da. Müde | |
Gesichter bei den Abgeordneten. Kein Applaus. Zwei Stadträte klopfen leise | |
auf den Tisch. Die Versammlung kommt zum nächsten Punkt. Ein Abend, wie | |
bestellt und nicht abgeholt. | |
## Mit Nazis Haus an Haus | |
Wurzen, Landkreis Leipzig, Nordsachsen, im Juni 2018. Das sind Islamgegner, | |
nächtliche Aufmärsche vor Asylunterkünften und Hetze im Netz. Das sind | |
Flüchtlingshelfer und linke Aktivisten, die immer weiter an den Rand | |
gedrängt werden. Das sind Nachbarn, die seit 25 Jahren mit Nazis Haus an | |
Haus wohnen. Das sind drei Männer im Streit, um eine Stadt, ihre Bewohner | |
und den öffentlichen Diskurs. | |
Da ist Christoph Dietel, früher Bürgerrechtler, heute wieder auf der Straße | |
gegen das System. | |
Da ist Jens Kretzschmar, früher Punk, heute „Gutmensch“, noch immer am | |
Stören. | |
Da ist Jörg Röglin, früher glühender Sozialist, heute ein SPD-Mann, wie | |
eingeklemmt zwischen den Rändern. | |
Ihr Streit zeigt, was mit der gesellschaftlichen Mitte passiert, wenn die | |
konservativ-bürgerliche Mauer nach rechts zerbröselt, Politik immer lauter | |
wird und Freund-Feind-Denken den Dialog ersetzt. Es ist ein Streit, der | |
nicht nur in Wurzen tobt, nicht nur in Sachsen, sondern in ganz | |
Deutschland. In Wurzen haben sie nur früher damit angefangen. | |
Erinnerungen an die 1990er Jahre. In den ersten Jahren der neuen Republik | |
feiern Nazis die Sommersonnenwende im Umland und Führers Geburtstag mit | |
Partys im Jugendclub. Das Innenministerium von Sachsen und der | |
Verfassungsschutz sprechen damals von Wurzen als einer Hochburg des neuen | |
Rechtsextremismus. Von einem harten Kern aus 30 Neonazis und etwa 300 | |
Unterstützern. | |
Spricht man heute mit Wurzenern über diese Zeit, erzählen sie von jungen | |
Glatzen, die Streife fuhren. Um den Bahnhof rum, fünf Jungs in einem Auto, | |
der Baseballschläger immer dabei. Von Überfällen auf linke Kneipen und dem | |
Obdachlosen, dem sie im März 1996 mit einer Luftdruckpistole das linke Auge | |
rausschossen. | |
## „Multikulti Endstation“ | |
Die Glatzen von früher sind mittlerweile Geschäftsleute. In Wurzen | |
betreiben sie ein Sonnenstudio, eine Autowerkstatt und einen Versandhandel | |
für rechte Musik, der im aktuellen Bericht des Verfassungsschutzes Sachsen | |
als „einer der wichtigsten rechtsextremistischen Vertriebe im Freistaat | |
Sachsen“ gelistet ist. | |
Wurzen im März 2018: Rund 150 Männer und Frauen versammeln sich auf dem | |
Marktplatz. Die Leipziger Volkszeitung berichtet und druckt Bilder: An | |
einem Baum in der Mitte des Marktplatzes baumeln bunte Ostereier an kahlen | |
Ästen. Ein paar selbst gebastelte Pappschilder: „Heimatliebe ist kein | |
Verbrechen“. „Multikulti Endstation“. Vor einem Banner des Neuen Forums f… | |
Wurzen steht Christoph Dietel, ein kräftiger Mann mit hoher Stimme, die | |
sich überschlägt, wenn er sich aufregt, das Mikrofon in der rechten Hand: | |
„Wir wollen unsere Vaterstadt retten.“ Hinter ihm stehen seine Anhänger wie | |
eine Mauer. Applaus. | |
Im Februar 2018 hat Dietel das Neue Forum für Wurzen gegründet. Ein | |
lockeres Gebinde aus Geschäftsleuten, Handwerkern und Unternehmern. Die | |
beiden Kovorsitzenden sind die führenden Gastronomen der Stadt. Flankiert | |
wird Wurzens bürgerliche Mitte von NPD-Kadern und Rechtsextremen. Im März | |
stehen sie das erste Mal auf dem Marktplatz. Ende Mai laden sie zur | |
Bürgerstunde, unter Ausschluss der Presse. Auf Facebook hat die Seite 824 | |
Likes. | |
Der Name der Gruppe bezieht sich auf die Bürgerbewegung der DDR. Christoph | |
Dietel ist damals ganz vorn dabei, ein Bürgerrechtler der ersten Stunde. | |
Für die Meinungsfreiheit, gegen das System. Auch heute scharrt er wieder | |
Leute um sich, nur dieses Mal in einem anderen Lager: „Das, wogegen wir uns | |
’89 wehren mussten, war weniger gefährlich als das, was jetzt über uns zu | |
kommen droht. Es erfüllt sich der Urtraum des radikalen Islam, Europa zu | |
besitzen!“, warnt er im März auf dem Marktplatz von Wurzen. | |
Statt der SED jetzt also der Islam. Statt dem Ausländer an sich wie in den | |
Neunzigern die Wirtschaftsflüchtlinge, die sich in das deutsche | |
Sozialsystem einnisten. | |
Wurzen hat rund 4 Prozent Arbeitslosigkeit, die Häuser sind renoviert, von | |
den Balkonen hängen rote Geranien. Es gibt eine Schwimmhalle, ein | |
Kulturhaus, zehn Kindergärten, vier Grundschulen, mittwochs ist | |
Wochenmarkt. | |
## Steine, Pyros, gelockerte Radmuttern | |
2014 leben 152 Ausländer in Wurzen. Im September 2015 kommen die ersten | |
Geflüchteten. Asylsuchende aus Eritrea, Syrien und Afghanistan. Viele junge | |
Männer, unbegleitete Jugendliche, Familien. 250 auf rund 17.000 | |
Einheimische. Verschwindend im Vergleich zu anderen Städten und Landkreisen | |
der Republik und doch genug um wiederzubeleben, was lange als verschüttet | |
galt. | |
Im Februar 2016 demonstrieren etwa 100 Leute in der Innenstadt gegen | |
Asylmissbrauch. Eine Facebook-Seite kündigt die Gründung einer Bürgerwehr | |
an. Im Juni 2017 belagern rund 60 Personen ein Haus, in dem Geflüchtete | |
leben. Die Zeitung druckt Fotos: Es zeigt die Demonstranten in kurzen | |
Hosen, Bierflasche locker in der Hand. Freizeitparkstimmung, bis die | |
Polizei räumt. Anfang dieses Jahres gibt es eine Massenschlägerei zwischen | |
Deutschen und Flüchtlingen. Im Februar treten und schlagen zwei vermummte | |
Männer eine Frau aus Eritrea, schwanger im siebten Monat. Im April gibt es | |
einen vermutlich linksextremen Anschlag mit Buttersäure auf die beiden | |
Restaurants der Kovorsitzenden des Neuen Forums für Wurzen. | |
Und vor sechs Monaten lockern Unbekannte die Radmuttern am Auto von Jens | |
Kretzschmar, dem Gründer des NDK. | |
„Das war ja quasi ein Anschlag auf mein Leben“, sagt Kretzschmar, immer | |
noch empört. Das mit den Radmuttern merkte er erst, als er schon unterwegs | |
war. Seitdem steht sein Auto nur noch im Hof, nicht mehr auf der Straße. | |
Seit den 90er Jahren fliegen bei Kretzschmar hin und wieder Steine ins | |
Fenster. Einmal Pyros, beinahe wäre seine Wohnung abgebrannt. Seine | |
Haustüre wurde mit rechtsextremen Parolen plakatiert. „Früher war es | |
schlimmer“, sagt Jens Kretzschmar. Er ist mittlerweile ziemlich geübt | |
darin, Attacken auf sich herunterzuspielen. | |
Am Morgen nach der Stadtratssitzung sitzt Jens Kretzschmar im | |
Besprechungsraum seines Vereins. Ein weiter Raum, vollgestellt mit Büchern, | |
Schreibtischen, Kartons. Ein Durchgangszimmer, in dem der Durchgang | |
herrscht: Hi Jens. Guten Morgen. Hi Jens. Wie geht’s? Das Netzwerk, | |
gegründet Ende der 90er Jahre, ist ein Ort der Vermittlung zwischen Fremden | |
und Einheimischen und eine Art Watch-Blog der rechten Szene vor Ort. In | |
einer Chronik katalogisiert das Netzwerk alle Taten mit rechtsextremen | |
Hintergrund, seit 2003. Jens Kretzschmar ist Gründungsmitglied und sitzt im | |
Vorstand. | |
An diesem Morgen wirkt Kretzschmar ein bisschen müde, ein bisschen | |
unkonzentriert. Bevor er Fragen beantwortet, legt er lange Pausen ein. | |
Seine blauen Sneaker scharren unterm Tisch. | |
## Ein alter Diskurs in neuer Auflage | |
Über die Stadtratssitzung am vorigen Abend ist er nicht glücklich. „Ich | |
fühle mich ein bisschen alleingelassen“, sagt Jens Kretzschmar. Das sagt er | |
sehr vorsichtig. Er will sich nicht beklagen, nicht diejenigen vor den Kopf | |
stoßen, die sich engagieren, nicht die Stadtverwaltung ärgern. Nicht noch | |
mehr Angriffsfläche bieten als ohnehin schon. Kretzschmar, der Störenfried. | |
Der Extreme, der immer ein bisschen zu laut ist und mit dem man sich als | |
gemäßigte Person der Mitte lieber nicht gemeinmachen will. | |
Auf der Website des Neuen Forums heißt es: Kretzschmar und sein Verein | |
bauschten die Vorfälle in Wurzen auf, um an mehr Fördergelder zu kommen. | |
Die Geschichte geht so: Je mehr rechtsextreme Übergriffe, desto mehr | |
Fördergelder für seinen Verein. Desto mehr Steuergelder, die man den hart | |
arbeitenden Bürgern wegnimmt und Gutmenschen und Sozialschmarotzern | |
hinterherschmeißt. | |
Es ist eine Geschichte, die streut. In die Kneipen, die Straßen, die | |
Politik. Ein Wurzener Stadtrat erzählt vom schlechten Image der Stadt und | |
Kretzschmars übermäßigem Willen, alles ans Licht zu zerren. Das sei | |
schlecht für die Geschäfte. | |
Am Ende sind es vielleicht doch die gleichen Feinde wie früher, nur unter | |
neuen Namen. Wir gegen die. Ein alter Diskurs in neuer Auflage, der gut | |
funktioniert, nicht nur in Wurzen. | |
Rund 40 Prozent der Deutschen sind der Meinung, die deutsche Gesellschaft | |
werde durch den Islam unterwandert und jeder Vierte denkt: Die regierenden | |
Parteien betrügen das Volk. | |
## Der Mensch gewöhnt sich an alles | |
Innenminister Horst Seehofer schmunzelt über Abschiebungen an seinem | |
Geburtstag und spricht von „Asyltourismus“. Thilo Sarrazin schreibt schon | |
2010 von Kopftuchmädchen und der Eroberung Deutschlands durch die Türken. | |
Anfang dieses Jahres ist er einer der Erstunterzeichner der „Gemeinsamen | |
Erklärung 2018“. Eine Petition, aufgesetzt von namhaften Wissenschaftlern, | |
Publizisten und Künstlern, die vor den Gefahren der illegalen | |
Masseneinwanderung für Deutschland warnt. Rund 165.000 Menschen | |
unterschreiben. | |
Jens Kretzschmar ist in Wurzen aufgewachsen, als Kind war er treuer | |
Sozialist. Im Winter 1989 ging er trotzdem auf die Straße. Da war er 16 und | |
fuhr mit Freunden nach Leipzig. Nach der Wende trugen seine alten | |
Fußballfreunde plötzlich Glatzen und wollten Ausländer und Linke kloppen. | |
Andere waren mit dem Aufbau von verlorenem Wohlstand beschäftigt und hatten | |
keine Zeit für Politik. Kretzschmar wurde Punk, organisierte Konzerte und | |
Demos gegen rechts. | |
Es gibt einen berühmten Satz des ehemaligen sächsischen | |
Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf: „Die Sachsen sind immun gegen | |
Rechtsextremismus.“ Das war nach der Jahrtausendwende, damals war es wieder | |
ruhig geworden. Doch bereits in den wilden Neunzigern sagte der | |
Bürgermeister von Wurzen: „Bei uns gibt’s keine Rechten.“ Das sei natür… | |
Quatsch gewesen damals, sagt Kretzschmar. „Weg waren die Nazis nie, hat nur | |
keiner mehr hingeschaut.“ Der Mensch gewöhnt sich an alles, auch an die | |
Nazis von nebenan. | |
Kommt man im Bahnhof Wurzen an, Gleis 2, und nimmt die Treppen nach unten | |
in den Fußgängertunnel, läuft man an einem kleinen Gedicht vorbei, | |
hingekritzelt an die Tunnelwand. Ein Vierzeiler von Joachim Ringelnatz, | |
dem berühmtesten Sohn Wurzens. | |
„Viel passiert zu allen Zeiten / in der Welt der Kleinigkeiten. / Stimmt | |
bald ernst und stimmt bald heiter.– / So, nun blättre, bitte, weiter.“ | |
Spricht man mit Wurzenern über die Übergriffe auf Geflüchtete, sagen sie: | |
Schlimm, aber woanders ist es doch genauso. Sie sagen: Das sind doch nur | |
Jugendliche, die aneinandergeraten. Oft geht es in diesen Gesprächen um den | |
Einzelfall, selten um das Ganze: die rechten Strukturen in Wurzen, die | |
ungestört wuchern konnten. | |
## Streetwoker, Skatepark, Bürgerfragestunden | |
„Wir können die ja nicht aus unserer Stadt jagen“, sagt Jörg Röglin, der | |
Oberbürgermeister von Wurzen. Er meint die Glatzen von früher, die jetzt | |
Geschäftsleute sind. Seit 2008 ist Röglin Oberbürgermeister von Wurzen, | |
SPD-Mitglied seit der letzten Bundestagswahl, Anzugliebhaber. Er sitzt in | |
seinem Büro hinterm Schreibtisch. Die Wände sind hellblau, im Blau seiner | |
Augen. Während Röglin seine ersten Sätze spricht, tippt er auf seinem | |
Mobiltelefon herum. Er hat es nicht eilig, schon wieder über die Probleme | |
seiner Stadt zu sprechen. | |
Röglin, 48, und Kretzschmar, 45, sind beide sind in Wurzen aufgewachsen. | |
Während Kretzschmar im Herbst ’89 auf die Straßen geht, ist Röglin Soldat | |
der Nationalen Volksarmee, ein unbeirrbarer Sozialist. Die Wende: eine | |
persönliche Enttäuschung. Er geht in eine Nachbargemeinde, studiert | |
Informationstechnik, kehrt zurück nach Wurzen und wird Oberbürgermeister. | |
Die Stadt ist seine Westentasche, er kennt alle. | |
Über die Vorfälle in seiner Stadt, die Übergriffe auf Geflüchtete, sagt | |
Röglin: Wir haben ein Problem, aber das haben andere Städte auch. Dass man | |
immer auf Wurzen zeige, das findet er ungerecht. Über das Netzwerk für | |
Demokratische Kultur, Kretzschmars Verein, sagt Röglin: Die machen wichtige | |
Arbeit. Er sagt aber auch: Die tragen zur Frontenbildung bei. Und die will | |
Röglin auf keinen Fall. Deswegen kommt er jetzt auf die gesellschaftliche | |
Mitte Wurzens zu sprechen. Auf diejenigen, die es lieber ruhig haben, die | |
keinen Ärger wollen. Weder von rechts noch von links. | |
Röglin erzählt von Unternehmern, die sich um Praktikanten und Auszubildende | |
aus Eritrea und Afghanistan kümmern. Von Arbeitskreisen und | |
Bürgerfragestunden zum Thema Integration. Er erzählt von seinem Besuch beim | |
Bürgermeister von Bautzen, der Ähnliches mit seiner Stadt erlebt. Von den | |
Streetworkern, die die Jugendlichen von der Straße holen sollen, vom | |
Skatepark, der gerade gebaut wird. | |
Man kann Röglin nicht vorwerfen, er sei untätig. Nur, was er nicht sagt: | |
Der Plan für den Skatepark, die Bemühungen um die Jugend, gibt es seit den | |
1990er Jahren. Schaut man in diese Zeit zurück und dann ins Heute, auf den | |
Marktplatz von Wurzen, auf dem die Mitglieder des Neuen Forums ihre | |
Schilder schwingen, auf die Übergriffe, drängt sich die Frage auf, ob | |
Jugendarbeit wirklich reicht. | |
Zwei Männer dieser Geschichte suchen die Öffentlichkeit. Dietel taucht | |
unter. | |
## Dietel schreit, eine halbe Stunde lang | |
Über den Gründer des Neuen Forums für Wurzen und seine Beweggründe etwas | |
herauszufinden, ist schwierig. Einladungen der Stadt und des NDK lehnt er | |
ab. Auf die Anfragen der taz meldet er sich nicht zurück. | |
Jens Kretzschmar kann sich nicht an einen jugendlichen Dietel erinnern, | |
nicht als Punk und nicht als Glatze. Er kennt ihn erst, seitdem Dietel ihn | |
zum Ziel gemacht hat. Der ehemalige Pfarrer von Wurzen erinnert sich dunkel | |
daran, einen Christoph Mike Dietel als Konfirmanden betreut zu haben. Ein | |
alter Freund Dietels sagt, dass er als Bausoldat diente, irgendwann nach | |
Leipzig zog und am theologischen Seminar studierte. Er erzählt von einem | |
mutigen jungen Mann, der gegen die SED rebellierte. | |
Es ist auch dieser Freund von früher, der andeutet, dass Dietel Schlimmes | |
mit der Stasi erlebte. Überprüfen lässt sich das nicht. Angesichts von | |
Dietels Position in der Bürgerrechtsbewegung ist es vorstellbar. Was nach | |
der Wende mit dem mutigen jungen Mann passierte und wann er die Abbiegung | |
auf den Wurzener Marktplatz genommen hat, darüber kann man nur spekulieren. | |
Nach dem Gespräch mit dem Freund von früher meldet Dietel sich doch, am | |
Telefon. Er schreit und klagt an. Eine halbe Stunde lang. Kretzschmar nennt | |
er „das Vieh“. Er warnt: „Wir merken, dass Deutschland zugrunde geht!“ … | |
fordert: „Niemand soll auf unsere Kosten leben.“ Auf die Frage, warum er | |
einem persönlichen Gespräch aus dem Weg ging, sagt er: „Uns interessiert | |
nicht, was Sie über uns denken.“ Dietel verabschiedet sich mit diesen | |
Worten: „Schreiben Sie doch, ich bin ein Nazi. Mir egal.“ | |
Die Geschichte von Dietel, Kretzschmar und Röglin, der drei Männer und | |
ihrer Stadt, ist keine spektakuläre. Es gibt nicht viel zu sehen. So ist | |
das immer bei Verschiebungen. Meistens bemerkt man sie erst, wenn es zu | |
spät ist. Wie bei Häusern, die plötzlich Risse bekommen. So ist das auch in | |
Wurzen, wo eine rechtspopulistische Minderheit den Rest der Stadt vor sich | |
her treibt und den öffentlichen Diskurs übernimmt. Wo diejenigen, die | |
dagegen protestieren, an den Rand gedrängt werden. Wo die Mitte verstummt. | |
## Angst macht klein | |
Es sind nicht die Wendeverlierer, die auf dem Wurzener Marktplatz stehen. | |
Es sind Restaurantbetreiber, Selbstständige und Handwerker. Menschen, denen | |
es nicht schlechter geht als in anderen Orten Deutschlands und deren Ängste | |
sie trotzdem auf die Straße treiben. Die Angst davor, das Erarbeitete zu | |
verlieren. | |
Eine Angst, die so klein macht, dass für Solidarität mit anderen kein Platz | |
mehr ist. Was zählt, ist die eigene Gruppe. So ist das auf dem Marktplatz | |
von Wurzen, dem Altmarkt von Dresden, im Osten Deutschlands genauso wie im | |
Westen. Wir gegen die. Deutschland den Deutschen. Alles wie früher. | |
Im Stadtrat Wurzen, mit Blick auf den weißen Glockenturm, eröffnet Jens | |
Röglin die Bürgerfragestunde. Der ehemalige NPD-Stadtrat in | |
Schwarz-Rot-Gold, ein schwerer Klotz, schleppt sich ans Mikrofon. Wie es | |
mit der Verkehrsberuhigung vorangeht? Er habe Angst um die Kinder. Und dann | |
ist da noch was: „Die ausländischen Mitbürger spielen Fußball am Busbahnhof | |
und verkaufen Drogen im großen Stil.“ Röglin zieht die Augenbrauen nach | |
oben. Er sieht genervt aus. Müde sagt er: „Da können Sie sich an die | |
Polizei wenden.“ Kretzschmar seufzt, ganz still. | |
29 Jul 2018 | |
## AUTOREN | |
Gesa Steeger | |
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