# taz.de -- Verhältnis von Gläubigen zur Kirche: Katholisch sein macht mürbe | |
> Seit dem Missbrauchsskandal ist klar: In der Kirche gibt es kein Habitat | |
> der Gemütlichkeit. Aber ein Austritt würde die Lage eventuell | |
> verschlimmern. | |
Bild: Rein oder aus? Die Zeit des Durchwurschtelns ist vorbei | |
Manchmal frage ich mich, warum ich diesem Laden noch angehöre. Warum zahle | |
ich Kirchensteuer, als wäre nichts passiert, als hätte es keinen | |
Missbrauchsskandal gegeben und keine Glaubwürdigkeitskrise? Bin ich | |
masochistisch veranlagt? Strukturkonservativ? Bin ich fauler oder dümmer | |
als die Hunderttausende, die jedes Jahr der Kirche den Rücken kehren? | |
Ernsthaft, die Frage quält mich. So wie sie viele quält, die wie ich noch | |
dabei sind: Wie kann ich heute noch katholisch sein, wie einer Kirche | |
angehören, die bei unverändert hohem moralischem Anspruch an andere ihre | |
eigenen moralischen Grundsätze in der Vergangenheit allzu gerne verriet? | |
Einer Kirche, in der sexueller Missbrauch an Kindern [1][tausendfach | |
vorkam], stillschweigend geduldet, [2][vertuscht] und von einer | |
[3][repressiven Sexualmoral] auch noch begünstigt wurde. Einer Kirche, die, | |
obwohl die Welt nun schon seit Jahren um ihr schmutziges kleines | |
Missbrauchsgeheimnis weiß, sich immer noch nicht darauf einigen kann, | |
welche Lehren sie aus dem Ganzen ziehen soll. Die seitdem geistig wie | |
[4][paralysiert wirkt] und Strukturdebatten führt, denen kein vernünftiger | |
Mensch mehr folgen kann. Einer Kirche, die jedes Jahr mit der Zahl der | |
Kirchenaustritte ihren [5][Bedeutungsverlust routiniert-bedauernd zur | |
Kenntnis nimmt] – und sich dann weiter durchwurstelt. | |
Oft denke ich, ich muss hirnverbrannt sein, das nicht nur zu alimentieren, | |
sondern mich dieser Kirche auch auf eine mir selbst unverständliche Art | |
verbunden zu fühlen. Immerhin: Ich bin nicht allein. Es gibt noch andere | |
Katholiken, und irgendwie ähneln wir uns alle. Anders als viele | |
Protestanten, Konfessionslose und sonstige Nichtkatholiken meinen, sind | |
Katholiken keine Schafe. Die meisten von uns sind kritische Geister. | |
Insgeheim stellen wir uns alle die große katholische Sinnfrage. Sie gehört | |
zum Katholischsein dazu. Nur stellt sie sich in letzter Zeit öfter, lauter, | |
drängender. Denn mit jedem Skandal, jeder noch so kleinen Reformidee, die | |
von den immer gleichen konservativen Bremsern in der Bischofskonferenz oder | |
in Rom für unvereinbar mit der Lehre erklärt wird, bevor sie diskutiert | |
werden kann, wird der Riss zwischen der Kirche, wie sie ist, und der, die | |
wir uns wünschen, immer größer. | |
## Was würde aus der Kirche, ohne die kritischen Geister? | |
Katholisch zu sein zermürbt. Ständig ist man im Verteidigungsmodus. | |
Einerseits muss man einer ungläubiger werdenden Gesellschaft erklären, | |
warum man überhaupt an Gott glaubt. Und andererseits meint man, ständig | |
alles, was einen noch in dieser Kirche hält, gegen eine Institutionen | |
verteidigen zu müssen, die sich über Jahrhundert antrainiert hat, von oben | |
herab mit den Menschen zu reden, und sich umso verzweifelter an die Macht | |
klammert, je mehr ihr diese aus den Händen gleitet. | |
Jedes Jahr dasselbe: Wir Katholiken werden weniger. Als einer der | |
Übriggebliebenen denke ich an die, die Abschied nehmen, und empfinde Neid. | |
Wie können sie einfach so gehen, frage ich mich. Wie können sie so tun, als | |
hätten sie mit dieser Kirche nie etwas zu tun gehabt, als seien sie keine | |
getauften Christen? Wie sie würde ich mich auch gerne in ein Davor und ein | |
Danach spalten können. Doch der Katholizismus ist zu sehr Teil meiner | |
selbst. | |
Davon abgesehen: Was würde aus der Kirche, gingen alle kritischen Geister? | |
Wer würde dann den Bischöfen auf die Finger klopfen, sie freundlich, aber | |
bestimmt daran erinnern, dass sie Sterbliche sind und ihnen ihre | |
schwindende Macht nicht zu Kopf steigen soll? Die Atheisten etwa? | |
Wo waren die Atheisten denn, als es darum ging, den sexuellen Missbrauch | |
öffentlich zu machen? Von dumpfen Ressentiments abgesehen kam aus dieser | |
weltanschaulichen Ecke kaum ein aufklärerischer Beitrag von Belang. | |
Engagierte katholische Laien trieben die Aufarbeitung voran und verhindern | |
noch heute, dass die Bischöfe das Thema folgenlos zu den Akten legen. | |
## Der Kirchenaustritt taugt nicht zur Absolution | |
Zu katholischen Helden macht das uns Laien nicht. Auch wir haben Schuld auf | |
uns geladen. Wir erfreuten uns der Gemeinschaft, der schönen Lieder, der | |
Festlichkeit an Weihnachten und konnten oder wollten uns lange nicht | |
vorstellen, dass sich Priester an Kindern vergehen. Wir waren blind, weil | |
wir nicht den Mut hatten, zu sehen. Wir lästerten über den Bischof, | |
schimpften auf den Papst, wenn er wieder mal irgendeinen konservativen | |
Stuss von sich gab, und taten dabei stets so, als ginge die Institution uns | |
höchstens nebenbei etwas an. Als wäre der Katholizismus die Matrix, in der | |
wir es uns dauerhaft gemütlich machen können. | |
Seit der Missbrauchskrise ist klar: In dieser Kirche gibt es keine Habitate | |
der Gemütlichkeit, es gibt kein richtiges katholisches Leben in einer | |
sündig gewordenen Institution. Die Institution, das waren immer auch wir, | |
die wir in unserer Blindheit duldeten und bejahten. Wer diese Wahrheit | |
einmal akzeptiert hat, kann sich nicht mehr per Verwaltungsakt aus der | |
Verantwortung stehlen. Der weiß: Der Kirchenaustritt taugt nicht zur | |
Absolution. Er macht es nur leichter, sich selbst zu belügen. | |
Guten Gewissens kann man allerdings heute auch nicht mehr katholisch sein. | |
Gleichwohl ist es möglich, in der Kirche vielleicht irgendwann eine neue | |
Heimat zu finden, wenn man aus seinem schlechten Gewissen die richtigen | |
Konsequenzen zieht. Doch das ist ein langer, steiniger Pfad. | |
In den vergangenen Jahren gab es viele Momente, in denen ich glaubte, mich | |
so weit von der Kirche entfernt zu haben, dass ich den Weg zurück nicht | |
finde. Momente, in denen ich selbst kurz davor war, auszutreten. Dann | |
jedoch erkannte ich: Nicht ich hatte mich von der Kirche entfernt, sondern | |
meine Kirche von dem, was die Wahrheit der christlichen Botschaft für mich | |
persönlich ausmacht. Und ich ließ es zu, dass es so weit kam. Das ist das | |
Schmerzliche daran. | |
## Der monolithische Block gerät in Schwingungen | |
Gut katholisch ist es, zugegeben, nicht, so zu denken. Aber was heißt schon | |
„gut katholisch“? In der Formulierung schwingt der Anspruch der geweihten | |
Männer auf die Wahrheit mit. Dieser Anspruch gehört so sehr zu | |
Selbstverständnis der Hierarchie, dass Wahrheit und Macht untrennbar im | |
Katholizismus verwoben zu sein scheinen. Dabei jedoch wird gerne übersehen: | |
Der Machtanspruch der Hierarchen lebt vom stillen Einverständnis der | |
katholischen Masse, die offizielle Wahrheit zu akzeptieren. | |
Genau das können und wollen viele Laien jedoch nicht mehr. Sie gehen auf | |
die Barrikaden, buhen Priester aus, die Vergebung für Missbrauchstäter und | |
Nachsicht mit der Institution predigen, [6][bestreiken Kirchen], | |
demonstrieren für die [7][Gleichberechtigung der Frau] am Altar, fordern | |
die Abschaffung des Zölibats und eine Lockerung der katholischen | |
Sexualmoral. Dass die Laien dabei auch von ihrem schlechten Gewissen zum | |
Widerspruch gedrängt werden, entwertet den Protest nicht. Im Gegenteil: | |
Erst das schlechte Gewissen gibt ihm Kraft und Dauer. | |
Wer sensibel für seismologische Veränderungen ist, der spürt, wie der | |
monolithische Block (als solcher wirkt die katholische Kirche auf Outsider) | |
in Schwingung gerät. Wie sich unter der Oberfläche etwas bewegt, das die | |
Dinge langfristig mehr verändern könnte als die Reförmchen, die hier und da | |
angedacht, dann verwässert , dann begraben werden. | |
Nehmen wir die Bischöfe. Unter ihnen findet sich heute kaum noch einer, der | |
meint, den Menschen vorschreiben zu können, wie sie zu leben und zu lieben | |
haben. Über katholische Sexualmoral reden Bischöfe öffentlich am liebsten | |
gar nicht mehr. Oder wenn doch, dann mit Entschuldigungsgeste und | |
verkrampftem Gesicht, so als würden sie an der Lehre, die ihnen sauer | |
geworden ist, selbst mittlerweile am meisten leiden. | |
## Die Bischöfe an die geteilte Ohnmacht erinnern | |
In dieser Ohnmacht der Macht liegt die Chance auf Veränderung. Denn von der | |
Ohnmacht zur Handlung ist es nur ein Schritt. Er setzt voraus, dass die | |
Ohnmacht sich ihrer selbst bewusst wird. Viele Bischöfe spüren heute | |
bereits, dass die Zeit des Durchwurstelns eigentlich vorbei ist. Dass | |
irgendetwas geschehen muss, wenn der Katholizismus in der westlichen Welt | |
nicht vollends in der säkularen Versenkung verschwinden will. | |
Eine zündende Idee, wie das verhindert werden kann, hat die Hierarchie | |
bislang nicht. Der neuste Trend: Die ungläubige Gesellschaft soll | |
missioniert werden. Neuevangelisation heißt das Zauberwort der Stunde. Das | |
Prinzip dahinter ist so bequem wie altbekannt: Man redet über die anderen. | |
Sie sollen sich ändern, gläubiger und katholischer werden. | |
Dass man die Menschen so wieder in den Schoß der Kirche lockt, scheinen so | |
richtig aber nicht mal die zu glauben, die mit den immer gleichen Phrasen | |
bei anderen den Aufbruch im Glauben beschwören. Auch sie sind ohnmächtig, | |
tun jedoch so, als wären sie mächtig. | |
In diesem Moment kommen wir ins Spiel, die kritischen Katholiken. Wir | |
müssen die Bischöfe an unsere geteilte Ohnmacht erinnern, ihnen immer | |
wieder unsere Transparente unter die Nase halten, sie aus ihrer | |
Gemütlichkeitsecke herauszerren, sie daran hindern, zuerst sich und dann | |
uns zu belügen. Denn erst wenn man der Wahrheit über sich selbst ins Auge | |
schaut, wenn man sie annimmt und nicht nur als störendes Übel zu Kenntnis | |
nimmt, wenn die Reue aufhört, Routine zu sein, sondern tief empfunden wird, | |
ist der eigene Aufbruch möglich, den es braucht, um andere zu überzeugen. | |
So ehrlich muss Kirche zu sich sein. Sonst hat sie in dieser Welt nichts | |
verloren. | |
18 Aug 2019 | |
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## AUTOREN | |
Raoul Löbbert | |
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