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# taz.de -- Der Anti-Corona-Feldzug: Wenn Gott dich liebt
> Plötzlich geht es religiös zu. Auf einem der bekanntesten Fotos von den
> „Coronademos“ hält eine Frau der Polizei ein riesiges Holzkreuz entgegen.
Bild: Die junge Frau mit dem Holzkreuz war ein beliebtes Fotomotiv
Zählen Sie noch oder beten Sie schon? Wenn das Robert-Koch-Institut meldet,
dass es im Mittel der letzten sieben Tage 18.338 [1][Corona-Neuinfektionen
pro Tag] gegeben habe und wenn das 1,2 Prozent weniger sind als eine Woche
zuvor; wenn aber gleichzeitig die Zahl der Tests um 13 Prozent abnimmt,
während die Zahl der durchgeführten Schnelltests steigt und auf den
Intensivstationen (Stand Donnerstag) 3.588 Coronapatient*innen und damit 13
Prozent mehr als vor einer Woche liegen, dann heißt das – ja, was
eigentlich?
Keine Ahnung, wie es Ihnen geht, aber ich komme da mit Zählen nicht mehr
weiter. Ich weiß nicht, was die Zahlengewitter, die täglich neu auf uns
niedergehen, eigentlich bedeuten. So ganz konkret. Ob etwa die Schule
weiter offen bleiben wird, obwohl bereits die Parallelklasse in Quarantäne
ist und damit auch einige LehrerInnen, die meine Kinder unterrichtet
hätten. Noch werden die entstehenden Minus-Stunden so gut es geht durch
Vertretungen ersetzt. Letzte Woche allerdings stieg die
Unterrichtsausfallkurve doch recht steil an. Und andere, düstere,
Rechnungen bieten sich ebenfalls an: Wenn der Verdienstausfall eines
Soloselbständigen mehr als 90 Prozent beträgt und die Prüfung des Anspruchs
auf Finanzhilfen 7 Tage dauert, wie lange reicht das Geld dann noch, ohne
dass Insolvenz oder Grundsicherung … Ach, lassen wir das.
Auch [2][in den USA scheinen sie inzwischen durch zu sein mit dem Zählen]:
Nicht nur in Georgia, wo nach erneuter Auszählung der Stimmen schon wieder
Joe Biden als Sieger herausgekommen ist, egal was Rudy Giuliani so
behauptet – sondern auch in South Dakota, wo die republikanische und
besonders Trump-treue Gouverneurin selbst angesichts einer
Corona-Infektionsrate von 60 Prozent ihrer Einwohnerschaft und horrenden
Todeszahlen nichts von staatlich verordneten Hygienemaßnahmen hält – und
alle Läden, Sportstadien und Kirchen offen lässt. Besonders die Kirchen.
Offenbar hoffen die Trump-Anhänger aus dem evangelikalen Milieu, gegen die
ablaufende Amtszeit ihres Idols anzubeten und das „China-Virus“ mit dem
Kruzifix zu bannen. So help me God.
Auch in Deutschland geht es plötzlich recht religiös zu. „Gott liebt Dich“
lassen großflächige Anzeigentafeln neuerdings mitten in der Berliner City
wissen. Und eins der meistverbreiteten Fotos von der
Anticoronamaßnahmendemo am Mittwoch zeigt eine Frau, die der Polizei am
Brandenburger Tor ein riesiges Holzkreuz entgegen hält. Der Glaube als
Widerstandssymbol, in einer Reihe mit Deutschlandflaggen und weißen
Friedenstauben auf himmelblauem Grund. Ähnliche Holzkreuze, nur weiß
angemalt, waren zuletzt beim sogenannten Marsch für das Leben von
Abtreibungs- und Sterbehilfe-gegnerInnen durch die Stadt getragen worden.
Drängt sich das Kreuz als religiöses Machtsymbol wieder zurück in den
öffentlichen Raum? Droht da ein fundamentalistischer Geist, den der Spiegel
geografisch in den „Bible Belts“ Erzgebirge und Stuttgarter Umland
verortet, das säkularisierte Herz der Berliner Republik zu besetzen?
Irritierender Weise bin ich diese Woche, in der das hastig durch den
Bundestag gepeitschte Infektionsschutzgesetz beschlossen wurde, mehrmals
wuchtigen Kruzifixen begegnet, die ostentativ an Autorückspiegeln,
Ohrläppchen und in einem Fall als Applikation auf einer Jacke durchs
Stadtbild getragen wurden.
Schon komisch, dass ausgerechnet Christen, die jeden Morgen zur besten
Sendezeit ihre Predigten im öffentlich-rechtlichen Radio verlesen dürfen,
für die der Staat die Kirchensteuer einzieht und die ihre Missbrauchstäter
erfolgreich vor den Nachstellungen staatlicher Behörden schützen können,
weil sich der Staat nicht traut, sich mit ihnen anzulegen: Wenn diese
religiöse Gruppierung sich jetzt zusammen mit selbsternannten Patrioten als
von einem wissenschaftsgläubigen Staatsapparat unterdrücktes Heer der
Widerständigen inszeniert. Muss man das ernst nehmen?
Zahlenmäßig spricht nicht viel für einen tatsächlich gestiegenen Einfluss
radikaler Christen: [3][Die beiden großen Kirchen verlieren stetig an
Mitgliedern], nicht nur in Deutschland. Absolut gesehen, sinken seit 2007
religiöse Bindungen weltweit: Einer 2019 veröffentlichten Studie der
amerikanischen ForscherInnen Pipp Norris und Ronald F. Inglehart zufolge
nahm in 43 von 49 untersuchten Ländern die Zahl der Menschen stark ab, die
von sich sagten, Gott spiele eine große Rolle in ihrem Leben; am stärksten
übrigens in den USA, in Chile, aber auch in der Türkei.
Mir scheinen die Kreuze, Flaggen und Tauben ja eher eine Art Lückenfüller
zu sein für eine konsum- und eventgetriebene Gesellschaft, der die Mitte
genommen wurde: Kultur- und Party-Events untersagt, Kundgebungen und Demos
digitalisiert. Was bleibt, als letztes Spektakel, ist der
Anti-Corona-Kreuzzug.
21 Nov 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Nina Apin
## TAGS
Glaube, Religion, Kirchenaustritte
Schwerpunkt USA unter Trump
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Evangelische Kirche
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Verschwörungsmythen und Corona
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Schwerpunkt Coronavirus
sexueller Missbrauch
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