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# taz.de -- Trauern in Coronazeiten: Das beste Rezept zum Weiterleben
> Süßes hilft gegen die Trauer, besonders wenn man es gemeinsam zubereitet.
> Nur dass es mit „gemeinsam“ aktuell nicht so leicht ist.
Bild: Gemeinsames Helva-Kochen lindert den Schmerz der Trauernden
„Ab 40 lernt man den Tod kennen“, meinte meine Freundin Daniela vor
etlichen Jahren mal zu mir. Sie war bereits über 40, ich war damals Ende 20
und dachte, was für ein schöner Spruch. Und auch: Ob er seine Berechtigung
hat? Und jetzt, in den 40er Jahren angekommen, kann ich ihr nur
beipflichten.
In diesem Jahr habe ich den Tod mehrmals aus nächster Nähe erleben können,
und es ist eine neue Form des Sammelns: Eindrücke, Gerüche, Sätze, Wörter,
Blicke, die einen weiter im Leben begleiten und die man hervorholen kann,
wenn man mit den Verbliebenen zusammensitzt und die Trauer irgendwie
mitträgt und dann auch wieder nicht. Weißt du noch, der Himmel, wie schön
und rot er war, einen Tag zuvor …?, fragte ich letztens eine Freundin, die
frisch trauerte, und wirklich, sie konnte sich erinnern und wir mussten
beide an diesen schönen Abendhimmel denken; vielleicht auch, weil er
Hoffnung versprach und das Gegenteil am nächsten Tag eintrat.
## Trauer und Umarmen
Auf meiner ersten Beerdigung in diesem Jahr stand ich vor der Moschee und
wunderte mich darüber, dass es schneit, ausgerechnet zu einer Zeit, als man
den Frühling schon fast riechen konnte. Gewundert hatte ich mich auch über
die vielen Menschen vor der Moschee, die ihre Toten zum letzten Mal sehen
wollten, alles unter strengen [1][Corona-Auflagen] zwar, aber es war
unwirklich und berührend zugleich. Wie wir plötzlich die anfangs
ungewohnten Mund-Nasen-Masken trugen und ich im Vorfeld lange überlegte, ob
ich die Trauernden umarmen sollte. Dann wurden wir nur zu fünft in den Hof
der Moschee gelassen und draußen standen viele kleine solcher Grüppchen und
die Menschen weinten oder umarmten sich. Die Frage mit dem Umarmen hatten
die anderen Gäste da also schon geklärt.
Berührungen, alles, was einem sonst immer half, auch wenn die Worte
fehlten, war nicht abrufbar und ich behalf mich mit dem unbeholfenen
Rumstreicheln am Oberarm, aber das wirkte auch nur so semioptimal, weil man
schon innerlich die Arme ausgebreitet hatte.
So unwirklich wie dieses Szenario schien, so nah waren einem die Menschen
in ihrer Trauer. Man kannte ihre Namen nicht, na und? Trotzdem murmelten
wir dieselben Gebete oder taten zumindest so, die gleichlautenden
Beleidsbekundungen und die gleichen Dankesworte fielen. Und wie unwirklich
war es eigentlich, dass man sich statt zitronig duftendem Kolonya
Desinfektionsmittel in die Hände schüttete? Fast schon lustig war das.
Einzig das Ende war anders: Nun mussten wir uns auf der Straße
verabschieden und die Trauernden mit der Trauer allein lassen, weil niemand
mehr nach dem Moscheebesuch mit den anderen essen gehen konnte – war ja
alles zu – oder zumindest auf einen Tee in die Wohnung der Trauernden. Ich
verkroch mich wie alle anderen wieder in die eigene Bude, was wirklich
gegen alles spricht, wenn jemand aus dem Freundeskreis gestorben und die
Trauer groß ist.
Es soll ja Menschen geben, die sehr gut allein sein können damit, die sich
den Schmerz nehmen und betrachten und ihn allein verarbeiten und, äh,
weiterleben. Das ist sehr, sehr bewundernswert. Dann gibt es aber Menschen,
die brauchen den Schutz der anderen, derjenigen, die wissen, was da auf
einen zukommt in den nächsten Tagen, weil sie es selbst schon erlebt haben
oder einfach nur, weil sie zuhören und da sein wollen oder Essen
vorbeibringen.
## Gemeinsames Helvakochen
All das klappt gerade nicht oder nicht so gut. Alles ist eingeschränkt und
der Schmerz ist nach wie vor da. Seltsam, aber jetzt habe ich den Sinn von
bestimmten Ritualen wie dem gemeinsamen Helvakochen verstanden.
Im Haus der Trauernden ist es stets voll, tagelang. Man kommt, sitzt und
weint. Oder man teilt die Trauer auf, indem die Nachbarinnen und
Freundinnen sich nach der Beerdigung in die Küche stellen und die Helva aus
Grieß und Wasser und Zucker zusammenrühren.
Haben die nichts Besseres zu tun?, habe ich mich oft als Kind gefragt, weil
es mir unsinnig erschien, nach der Beerdigung sich an den Herd zu stellen
und heulend eine halbe Stunde lang im Topf zu rühren? Das langsame Rösten
des Grießes in Butter macht, dass die ganze Nachbarschaft durch den Duft
weiß, dass nun die Trauerspeise auf dem Herd kocht, und jeder, der mag,
kommen und davon essen kann.
Wie tröstend dieser Geruch ist, wenn man ihn kennt, und wie schön der
Gedanke, dass jeder an dem Schmerz und an dem Süßen teilhaben kann, wenn er
will. Überall wo Helva in Erinnerung an die Verstorbenen aus Grieß oder
Mehl zubereitet wird, und das ist von Armenien über den Iran bis nach
Bosnien und in der entsprechenden Diaspora der Fall, ist Trauer kein
individueller Akt, sondern eine kulinarische Übereinkunft, die sagt, du
bist nicht allein. Schon dieses Wissen hilft, weil der Tod nun mal da ist
und Rituale trösten können, ohne Zweifel.
13 Dec 2020
## LINKS
[1] /Rekord-an-Corona-Neuinfektionen/!5737305
## AUTOREN
Ebru Tasdemir
## TAGS
Kolumne Der rote Faden
Islam
Beerdigung
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