| # taz.de -- Reden über die US-Wahl: Kommafehler aushalten | |
| > USA-Kritik ist ja eigentlich schon lange ein urdeutscher Volkssport. | |
| > Jetzt kann man, bei allem Ärger über Trump, wieder darüber staunen. | |
| Bild: Trump-Fans in Pennsylvania | |
| Endlich, endlich ist diese US-Wahl entschieden. Die Spannung ließ sich ja | |
| kaum noch aushalten. Und das Ganze war glücklicherweise vorbei, bevor das | |
| ZDF noch kuriosere USA-Experten aus der Requisitenkiste holen konnte. | |
| Donnerstagabend durften ja nun schon Thommy Gottschalk und ein deutscher | |
| Landmaschinenhersteller mit US-Staatsbürgerschaft das geheime Wesen ihrer | |
| Wahlmitbürger erklären. | |
| Gut, ich hätte abschalten oder Netflix gucken können, selbst schuld, aber | |
| Sie wissen ja, wie das ist, wenn man in den Abgrund schaut. Dieser Abgrund, | |
| aus dem – ja, leider nicht nur im Late Night Talk – derzeit ständig Fetzen | |
| des Wehklagens hochwehen: Buhuhuu und mimimi, wie dumm sind sie, diese | |
| komischen Trump-Wähler. Wie naiv? Man versteht sie einfach nicht. Vor allem | |
| nicht hier, in Deutschland, wo wir schließlich die Friedensbewegung und den | |
| Atomprotest erfunden haben. | |
| Gut, okay, wir fanden hier starke, laute, schlimme Männer auch mal ganz | |
| schick – aaaber! Das ist lange her, und seitdem haben wir uns gespalten – | |
| in die paar Trottel, die das – mehr oder minder heimlich – immer noch tun, | |
| und die große Gruppe der Erleuchteten. Wir haben’s gecheckt, uns kann | |
| keiner mehr was. | |
| Verstehen Sie mich nicht falsch, auch mir ging dieser Typ, der ein bisschen | |
| wie ein volltrunkenes Kleinkind durch die ersten vier Jahre seiner Amtszeit | |
| getorkelt war, ziemlich auf die Nerven. Nicht nur weil er Kinder von ihren | |
| Eltern trennte, dem Klima vor die Füße kotzte und sein Land wissentlich | |
| Corona zum Fraß vorgeworfen hatte. Sondern unter anderem deshalb, weil er | |
| alles besser weiß. Besser als die Medien, die immer so dumm recherchieren, | |
| besser als seine Berater und ganz sicher besser als seine Frau, die eh nie | |
| was sagen darf, sowieso. | |
| Aber Besserwisserei nervt mich bei allen anderen deshalb nicht weniger. | |
| Weil immer Verachtung dahintersteht. Geil, der Depp, der Andere, weiß das | |
| nicht, denkt dies nicht, fühlt jenes nicht. Und immer geht’s dabei ein | |
| bisschen darum, sich zu vergewissern, dass man selbst auf der richtigen | |
| Seite steht. Wer nicht weiß, wo die ist, ist halt naiv. | |
| Lange dachte ich, naiv sind vor allem die, die glauben, dass es nur eine – | |
| gute und schöne – Wahrheit gebe. Aber vielleicht war das naiv von mir. | |
| Ziemlich wahrscheinlich sogar, sonst würde ich mich jetzt nicht so wundern. | |
| USA-Kritik ist ja eigentlich schon lange ein urdeutscher Volkssport, fast | |
| noch beliebter als unsere Königsdisziplin, die Israelkritik, nur dass wir | |
| Erstere nicht so nennen, vermutlich weil wir heimlich doch ein bisschen | |
| Schiss vor Big Daddy haben. | |
| Oder falls Biden gewinnt, dann aber auch wieder nicht unseren hohen | |
| moralischen Ansprüchen genügt. Jedenfalls, so klingt es für mich in den | |
| ganzen Lamenti mit, kann es doch nicht sein, dass die, von denen wir nach | |
| dem völligen Zusammenbruch unserer eigenen Zivilisation überhaupt erst | |
| Anstand gelernt haben, jetzt doch tatsächlich zum zweiten Mal … diesen | |
| unanständigen Mann wählen. (Noch viel weniger geht natürlich, dass die, die | |
| wir nahezu ausgelöscht haben, sich heute selbst verteidigen wollen.) | |
| Aber was wundere ich mich, ich bräuchte weder das ZDF noch Wahlen eines | |
| Bruderstaates, um mir Schlaumeiereien anzuhören. Die gibt’s ja gern auch | |
| ganz personalisiert. Als Frau ist man dafür ohnehin dankbare Empfängerin, | |
| ich kann die Stunden Lebenszeit nicht zählen, in denen Männer mir Dinge | |
| erklärt haben, die ich nie wissen wollte. Sorry, was du gestern beim | |
| Hintergrundgespräch mit Minister X gehört hast, interessiert mich genauso | |
| wenig wie dieses ellenlange Kapitel über Bismarck, das du dir letzte Nacht | |
| ins Hirn gedreht hast. | |
| Das ganze Elend kriegen aber natürlich nicht nur Frauen ab. Meinem | |
| israelischen Freund streichen die Schwestern auf der Station zum Beispiel | |
| gern die Kommafehler in seinen Arztbriefen an. Dafür ist trotz Überstunden | |
| Zeit. | |
| Denn darum geht’s ja überhaupt: Finde den Fehler. Und dann korrigier ihn. | |
| Schnell! | |
| Es nervt. Ich will hier nicht behaupten, dass ich nie besserwisserisch war | |
| oder bin. Aber ich verrate Ihnen zum Schluss ein Geheimnis: Fehler, | |
| Schwächen, ob nun von der Größe eines Kommas oder einer markanten | |
| Wissenslücke, rühren mich bei anderen wahnsinnig an. Klar, sagen Sie jetzt | |
| – weil ich mich dann stärker, schlauer, schöner fühlen kann. Nö. Ich fühl | |
| mich dann halt als Mensch unter Menschen. | |
| Gut, für die politische Analyse hilft das jetzt nicht – aber der hilft es | |
| auch nicht, sich endlos zu echauffieren. Was immer hilft: So weit es geht, | |
| die Beweggründe der Anderen (Sie wissen schon, der Trottel) zu verstehen – | |
| und den unerklärlichen Rest muss man halt akzeptieren. | |
| 6 Nov 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Ariane Lemme | |
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