# taz.de -- Expertin über Schulfach Politische Bildung: „Die Themen liegen a… | |
> Klima, Diskriminierung, Identitätsfragen: In Berlin gibt es jetzt das | |
> Fach Politische Bildung. Warum das nötig ist, erklärt | |
> Politikdidaktik-Professorin Sabine Achour. | |
Bild: Das Interesse an politschen Themen ist da: Fridays-for-Future-Demo gegen … | |
taz: Frau Achour, ab dieser Woche wird an Berliner Sekundarschulen neu das | |
Fach Politische Bildung unterrichtet. Die Stunden dafür müssen die Fächer | |
Geschichte, Ethik und Erdkunde abgeben. Sie haben den Berliner Senat bei | |
der Entscheidung beraten. Warum geht die Stärkung des Politikunterrichts | |
zulasten der anderen gesellschaftswissenschaftlichen Fächer? | |
Sabine Achour: Zunächst muss man sagen, dass es an Berliner Sekundarschulen | |
politische Bildung schon vorher gab – nicht als eigenes Fach, sondern | |
integriert in das Fach Geschichte. Es wurde halt so gut wie nicht | |
unterrichtet. Mit der Folge, dass Berlin so ziemlich das einzige Bundesland | |
ohne politische Bildung im Unterricht war. Richtig ist, dass nun mit der | |
Einführung der politischen Bildung als eigenes Schulfach die Stundenzahl | |
für die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer nicht erhöht wurde. Das | |
spiegelt zwei Probleme wider: erstens, dass seit den Pisa-Studien andere | |
Fächergruppen mit Stunden gestärkt – die gesellschaftswissenschaftlichen | |
Fächer hingegen vernachlässigt und häufig reduziert worden sind. Und | |
zweitens, dass die Unterrichtszeit nun mal endlich ist. | |
Sehr zum Unmut der Geschichts-, Erdkunde- oder Ethiklehrer*innen, wie man | |
die Tage aus Berliner Lehrerzimmern hört. | |
Es ist tatsächlich eine Herausforderung für die Schulen. Der Berliner Senat | |
macht ja keine genauen Vorgaben bei der Umsetzung, sondern überlässt die | |
Lösung jeder einzelnen Schule. Das ist Fluch und Segen. Zum einen erlaubt | |
es den Schulen, eigene Schwerpunkte zu setzen. Zum anderen ist die | |
Situation an manchen Sekundarschulen so, dass sie schon jetzt eine Art | |
Gesellschaftswissenschaften unterrichten. Der Geschichtslehrer unterrichtet | |
auch Erdkunde, der Erdkundelehrer auch Ethik. Da heißt es: Das passt schon | |
irgendwie. Nun kommt halt noch Politische Bildung hinzu. Bei | |
naturwissenschaftlichen Fächern wäre so etwas in dieser Altersstufe | |
undenkbar. Auch daran sieht man, dass die Gesellschaftswissenschaften | |
zwanzig Jahre lang keine allzu große Wertschätzung erfahren haben. | |
Sind Geschichts- oder Ethiklehrer*innen Ihrer Ansicht nach qualifiziert, | |
Politische Bildung zu unterrichten? | |
Ich weiß von Fortbildungsanfragen an unser Institut, dass viele Kollegien | |
verunsichert sind, wie genau in dem neuen Schulfach unterrichtet werden | |
soll – und was das für die übrigen Fächer heißt. Andererseits gibt es hier | |
in Berlin zwischen den Fächern Geschichte und Politische Bildung eine große | |
Nähe, weil Politik- und Geschichtskolleg*innen häufig beides über viele | |
Jahre unterrichtet haben. Viele Schulen haben ausgebildete | |
Politiklehrer*innen für das Fach Geschichte angestellt. | |
Dennoch klagen viele Schulleiter*innen, dass sie zu wenige oder gar keine | |
ausgebildeten Politiklehrer*innen an der Schule haben. | |
Es ist tatsächlich eine merkwürdige Situation. An sich gibt es in Berlin | |
keinen Mangel an nachkommenden Politiklehrer*innen. Mein Lehrstuhl für | |
Politikdidaktik an der FU ist deutschlandweit eine der größten Didaktiken. | |
Jedes Jahr schließen zwischen 80 und 150 Lehramtsstudierende im Fach | |
Politik ab. Allerdings glaube ich, dass in der Vergangenheit viele in | |
andere Bundesländer gegangen sind. Dass man in dem Fach unterrichten kann, | |
in dem man unterrichten will, und darüber hinaus noch verbeamtet wird, ist | |
natürlich ein gutes Lockmittel. | |
Sie kommen in einer Studie für die Friedrich-Ebert-Stiftung zu dem Schluss, | |
dass der Politikunterricht in Sekundarschulen schlechter ist als an | |
Gymnasien. Warum ist das so? | |
In Berlin gehen manche Sekundarschüler*innen nach der zehnten Klasse von | |
der Schule, ohne überhaupt je Politikunterricht bekommen zu haben. Dabei | |
liegen die Themen gerade wirklich auf der Straße. [1][Klima und | |
Nachhaltigkeit] natürlich. Aber auch Diskriminierung, Digitalisierung, | |
ungleiche Teilhabe oder Identitätsfragen. Das sind politische Themen, die | |
in der Lebensrealität gerade von Schüler*innen in Berlin eine große Rolle | |
spielen, auch wenn sie so nicht im Lehrplan stehen. | |
Da steht zum Beispiel „Partizipation“, aber das allein ist noch kein Thema. | |
Wenn wir das Fach ernst nehmen, braucht es einen komplett anderen | |
Unterricht. Momentan ist es so, dass sich niemand dafür zuständig fühlt, | |
mit Jugendlichen aus bildungsfernen Schichten darüber zu reden, was ihnen | |
so auf Facebook oder YouTube begegnet. Wenn wir diese Schüler*innen mit | |
politischen Themen erreichen wollen, müssten wir genau das aber tun. | |
Ist das überhaupt möglich mit nur einer Schulstunde in der Woche? | |
Ich kann verstehen, dass es im Schulalltag nicht leicht ist. Der Unterricht | |
im Fach Politische Bildung ist natürlich sehr anspruchsvoll: Er soll auf | |
aktuelle Debatten eingehen, dafür existiert aber zeitgleich kein | |
didaktisiertes Material. Die Lehrkräfte müssen es selbst schnell für | |
verschiedenen Klassen und Themen konzipieren. Andererseits bekommt die | |
politische Bildung derzeit so viel Aufmerksamkeit wie lange nicht. | |
Ich hoffe, dass die Schulen Freiräume für die Politiklehrer*innen schaffen | |
und sich noch stärker für die vielen außerschulischen Angebote öffnet, die | |
es in Berlin gibt. Es müssen sich aber die Lehrer*innen aller Fächer mit | |
einbringen. Wenn es etwa einen Amoklauf an einer Schule in den USA gibt, | |
wäre es schön, wenn am nächsten Tag auch der Mathelehrer seine erste | |
Stunde dazu nützt, um auf die Gefühle der Schüler*innen einzugehen. | |
Angenommen, alle Lehrkräfte wären tatsächlich sensibilisiert und | |
qualifiziert, um über Ausgrenzung, Pluralismus oder Meinungsfreiheit zu | |
reden. Reicht das, damit aus Schüler*innen Demokrat*innen werden? | |
Zur Demokratiebildung gehört natürlich weit mehr, als Siebtklässler*innen | |
eine Stunde in der Woche im Fach Politische Bildung zu unterrichten. Dazu | |
gehört auch, [2][wie eine Schule mit Rassismus, Mobbing, Antisemitismus | |
oder auch den AfD-Portalen umgeht]. Da muss das gesamte Lehrerkollegium in | |
der Lage sein, demokratiebildend zu wirken. | |
Aber auch Fragen der Unterrichtskultur oder Mitbestimmungsrechte der | |
Schüler*innen an ihrer Schule spielen hier eine Rolle. Diese Fragen müssen | |
meiner Ansicht nach wieder stärker in der Lehramtsausbildung thematisiert | |
werden, und zwar nicht nur in Berlin. Momentan liegt in der allgemeinen | |
Pädagogik der Fokus mehr auf – den ebenso wichtigen Themen – | |
Klassenmanagement, Sprachbildung oder Inklusion. Schule ist aber ein | |
Lernort für Demokratie. Und dafür müssen Lehrer*innen ausgebildet werden. | |
Und zwar wie? | |
In Berlin versuchen wir über das Projekt Demos Leben, finanziert vom | |
Bildungssenat, entsprechende Wahlmodule und Studienangebote für | |
Lehramtsstudierende an der FU und HU wieder zu implementieren. Dabei merken | |
wir auch, wie schwierig es aufgrund der engen Studienstrukturen ist, solche | |
Angebote für alle Studierenden anzubieten. Momentan erreichen wir damit | |
vielleicht 15 Prozent der Studierendenschaft. Und dann wäre es natürlich | |
wichtig, wenn Demokratiebildung auch in die Fachdidaktik der anderen Fächer | |
mit aufgenommen würde. Momentan ist das noch nicht der Fall. | |
Es gibt auch Kritik am Konzept der politischen Bildung. Manche Lehrer*innen | |
sprechen von einer neuen Form von Staatsbürgerkunde … | |
Für mich ist auffällig, dass hier verschiedene Trends zusammenfallen: die | |
deutliche Diskursverschiebung nach rechts und eine Schwächung der | |
politischen Bildung in den letzten 20 Jahren. Meine These wäre, dass das | |
kein Zufall ist. Wenn einige nun von Staatsbürgerkunde sprechen, zeigt das | |
nur deutlich, dass das Verständnis für politische Bildung gänzlich fehlt. | |
Es geht gerade nicht um autoritäre Erziehung und das Abnicken von | |
Staatsstrukturen. Sondern um Emanzipation und Mündigkeit. Politische | |
Bildung will Menschen zu kritischer Partizipation befähigen. | |
8 Aug 2019 | |
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## AUTOREN | |
Ralf Pauli | |
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