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# taz.de -- Essay Flucht und Gewalt in Deutschland: Worauf wartet der Außenmin…
> Fluchtursachen gibt es viele. Der Umgang damit war und ist oft skandalös.
> Auch die heutige Flüchtlingspolitik trägt teils menschenverachtende Züge.
Bild: Ein Schlauchboot der „Alan Kurdi“ neben einem Flüchtlingsboot
Außenminister Maas hat sich mit deutlichen Worten hinter [1][Carola
Rackete] gestellt, die Sea-Watch-Kapitänin, die mit 40 Menschen an Bord
gegen den Willen der italienischen Regierung, hier insbesondere des
[2][Hardliners Salvini], die aus dem Meer Geretteten an Land absetzte und
sich nun vor einem italienischen Gericht verantworten muss. Ich fühle mich
daran erinnert, wie die Bild-Zeitung einst titelte, „Wir sind Papst“, als
der Deutsche Joseph Ratzinger, Benedikt XVI., gewählt wurde. Jetzt sind wir
„Rackete“. Das ist natürlich gut, das ist fast so wie 2015, als die
Menschen mit Blumen die ankommenden syrischen Flüchtlinge begrüßten. Viele
Menschen spendeten Geld zur Unterstützung des juristischen Verfahrens, das
in Italien gegen Carola Rackete angestrengt wird. Wir sind die Guten.
Es ist eine brüchige und wahrscheinlich kurzlebige Allianz, die sich hier
zur Unterstützung der „Unsrigen“ bildet. Unvergessen sind die täglich
markigen Worte des Innenminister Seehofer gegen geflüchtete Menschen, deren
Abschiebung in angeblich sichere Länder und die Stigmatisierung der
Inanspruchnahme des Asylrechts, als handele es sich um einen
Straftatbestand.
Dem Kurs der Rücknahme von Asylrechtspositionen entsprach die Konzentration
auf islamistische Straftäter, Gefährder und was da sonst noch an
fragwürdiger Begrifflichkeit bemüht wurde, um Recht gegen das vermeintlich
„Fremde“ zu schaffen, bis hin zur Änderung des Einbürgerungsanspruchs im
Staatsangehörigkeitsgesetz, sodass von den Einzubürgernden nunmehr nicht
nur ihre Rechtschaffenheit, sondern auch ihre „Einordnung in die deutschen
Lebensverhältnisse“ zu verlangen sei. Es bestünden demnach also auch
„undeutsche“ Lebensverhältnisse, die dem Erwerb des Personalausweises … …
prüft der Beamte/die Beamtin die deutschen Lebensverhältnisse?
Jetzt hat sich die Stadt [3][Rottenburg] gemeldet. Sie will die Geretteten
aufnehmen. [4][Walter Lübcke], der Regierungspräsident von Kassel, der am
2. Juni dieses Jahres ermordet wurde, hatte seinerzeit nichts anderes
gemacht. Er war der Verpflichtung nachgekommen, sich um Schutz suchende
Menschen zu kümmern, die ins Land gekommen waren, die geflohen waren vor
Diktatur und Bürgerkrieg. In diesem Zusammenhang hatte er offenbar die
Gefühle der Rechtsextremisten verletzt, als er davon sprach, wer mit
solchen Wertvorstellungen nicht übereinstimme, dem sei es unbenommen,
Deutschland zu verlassen.
## Ideologische Zündeleien
Das ließen sie sich nicht sagen, denn sie sagen täglich in der Sprache
tödlicher Gewalt, wer ihrer Meinung nach nicht zu Deutschland gehört. Die
Liste der Getöteten rechter Gewalt ist lang und länger, als es die
staatlichen Behörden zugeben. Bisher haben diese Ermordeten kaum einen
Platz im öffentlichen Gedenken gefunden, außer dem Raum, den
zivilgesellschaftliche antifaschistische Initiativen immer wieder dafür
reklamieren. Wenn es gelingt, diese Räume zu behaupten, dann häufig eben
doch nur temporär. Marwa El-Sherbini, die vor zehn Jahren, am 1. Juli 2009
im Gerichtssaal in Dresden von einem Rechtsextremisten ermordet wurde, ist
einer der Menschen auf dieser langen Liste.
Es waren Journalist*innen und Initiativen, die ab den 90er Jahren begannen,
hier selbstständig zu recherchieren und die diese Liste fortschreiben. Die
Pogrome Anfang der neunziger Jahre in Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda und
an anderen Orten gegen geflüchtete Menschen und das Anzünden ihrer
Unterkünfte waren straffrei geblieben. Ideologisch gezündelt haben damals
wie heute nicht nur Leute wie der rassistische Salvini, Björn Höcke oder
Alexander Gauland, sondern auch die Distinguierten, die, die mit der Waffe
ihrer Eloquenz und Intellektualität Sätze verteilten, die wie Spieße im
demokratischen Selbstverständnis stecken blieben.
So hatte der Schriftsteller und Friedenspreisträger des Deutschen
Buchhandels Martin Walser die Berichterstattung über die Pogrome gegen die
Asylsuchenden als angeblich aufreißerisch moniert, und das war es, was den
Dichter umtrieb. Das eigentlich empörende Ereignis verschwand hinter einem
behaupteten Sekundärphänomen. Und – fuhr der Dichter fort: „Ich verschlie…
mich Übeln, an deren Behebung ich nicht mitwirken kann. Ich habe lernen
müssen, wegzuschauen.“
## Verfolgung bis zum Tod
In diesen Tagen reist die Kindertransport-Association, eine Gruppe von
jüdischen Menschen, durch Europa. Vier ihrer Mitglieder sind betagt, über
achtzigjährig. Sie waren auf die Kindertransporte geschickt worden, ihre
Eltern schrieben herzzerreißende Briefe an die ins Ungewisse geschickten
Kinder, unbegleitete kleine Kinder, größere Kinder, Einzelkinder,
Geschwister.
Zehntausende wurden in einer einmaligen Rettungsaktion, die seinerzeit nur
die Briten unterstützten, vor der Ermordung durch die Nazis gerettet. Sie
kommen jetzt in Begleitung ihrer Familien, der zweiten und dritten
Generation, zurück, um ihre Reise noch einmal nachzuvollziehen und um derer
zu gedenken, die nicht entkamen. Damals vor 80 Jahren. Ihre Stationen sind
Wien, Berlin, Amsterdam, Hoek van Holland, Harwich, London.
Man möchte aufatmen, wenn man mit ihnen zusammentrifft. Einfach weil sie
leben, weil sie am Leben Gebliebene sind. So wie einmal ein Archivar in
Berlin zu mir sagte, da bin ich aber froh. Er hatte mir die Akten meiner
Großeltern gezeigt, auf denen das Kürzel SM – „Sondermaßnahme“ – und…
Nummer vermerkt waren. Damit wurde bezeichnet, dass sie zur Deportation und
Ermordung vorgesehen waren. Ihre Namen waren in der Liste der ermordeten
jüdischen Bürger*innen aufgeführt. Aber meine Großeltern waren nicht
ermordet worden wie die anderen, sondern hatten überlebt. Oh, sagte der
Herr, dann vermerke ich das, dass kommt nicht oft vor, dass ich die Liste
korrigieren kann.
Die Kinder wurden auf die Flucht geschickt, weil sie jüdische Kinder waren
und rassistische Verfolgung bis zum Tod das Schicksal war, das ihnen durch
den nationalsozialistischen Staat angekündigt war. Mehr als siebzig Jahre
nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur findet rassistische
Verfolgung bis zum Tod in Deutschland von Staats wegen nicht statt. Aber
wir haben eine Liste von rassistisch Ermordeten.
## Bodenlose Vorgänge
Für diese Verbrechen verantwortlich ist ein selbst organisiertes Netzwerk.
Der [5][Verfassungsschutzbericht] spricht von etwa 24.000
Rechtsextremisten, davon etwa 12.100 gewaltbereiten Rechtsextremisten. Die
Getöteten des NSU sind ihre Opfer gewesen. Immer wieder haben die Anwälte
und Familienmitglieder der Nebenkläger im NSU-Prozess, der 2018 beendet
wurde, darauf hingewiesen, dass sie noch immer nicht wissen, warum ihre
Lieben getötet wurden und wer dabei Helfershelfer war, sie als Ziele
auszusuchen. Immer wieder wurde gefordert, die Ermittlungen auszuweiten und
das Netzwerk zu untersuchen.
Das ZDF hatte die sogenannte Todesliste oder 10.000er-Liste bekannt
gemacht, gefunden im Jahr 2011 im Brandschutt in Zwickau, nachdem die 2018
verurteilte NSU-Täterin Beate Zschäpe das Haus angezündet hatte. Walter
Lübckes Name und Adresse waren in der Zieldatensammlung des NSU
verzeichnet. Andere Namen und Institutionen sind ebenfalls hier zu finden.
Nachdem das sog. NSU-Trio nicht mehr aktionsfähig war und dessen zwei
weitere Mitglieder tot aufgefunden worden waren, starben zwischen 2012 und
2017 weitere Menschen an den Folgen rassistisch und rechtsextrem
motivierter Gewalttaten.
In Frankfurt am Main wurde [6][Seda Başay-Yıldız], die die Familie des
NSU-Opfers Enver Şimşek vor Gericht vertreten hatte, monatelang mit dem
Tode bedroht. Başay-Yıldız sagte: „Aus Sicht von Minderheiten ist es
natürlich auch bitter, dass neun Opfer mit Migrationshintergrund und 438
Prozesstage nicht den Anlass gegeben haben, eine solche Debatte
anzustoßen. Offensichtlich ist uns dies nicht gelungen, weil es sich um
migrantische Opfer gehandelt hat.“ Es steht nicht mehr nur zu befürchten,
dass Täter weiterhin frei herumlaufen und Straftaten begehen. Sie begehen
sie. Es geht dabei auch um die Frage, inwieweit staatliche Institutionen
daran Anteil haben.
Die Vorgänge in der hessischen Polizei sind offenbar bodenlos, und die
Aufhebung der Akteneinsichtssperre wäre jetzt das Mindeste, was getan
werden müsste. Die Untersuchung von Ermittlungs-, Verfassungsschutz- und
anderer affiner Behörden steht aus, und zwar durch eine unabhängige
Kommission. Was wird hier weiterhin verschlossen? In den NSU-Akten kommt
der Name des mutmaßlichen Mörders von Walter Lübcke vor. Die Ermittlungen
müssen nicht gegen einen Einzeltäter, sondern gegenüber einem Netzwerk
geführt werden. Worauf warteten die Behörden und die politisch
Verantwortlichen seit 2011?
## Was hat das mit Regierungshandeln zu tun?
Außenminister Heiko Maas hatte als Antwort auf die Ermordung Walter Lübckes
Demonstrationen gefordert. Nach der Festnahme von Carola Rackete hörten wir
von der „Rettung von Menschenleben als humanitäre Verpflichtung“. Was haben
diese Sätze mit Regierungshandeln zu tun? Worauf wartet der Außenminister?
Darauf, dass er sich mit Orbán und Salvini auf ein europäisches Asylrecht
einigt? Währenddessen kommen Tausende auf dem Balkan nicht weiter und
sitzen vor den Grenzen fest. Libyen ist derart gefährlich für Flüchtlinge,
dass der UNHCR Menschen nach Niger ausfliegen ließ.
Ein Flüchtlingslager in der Nähe von [7][Tripolis] wurde vor wenigen Tagen
von einer Bombe getroffen. Vielleicht gibt es dazu auch eine Verlautbarung,
eine mundvolle Erklärung. Heiko Maas könnte sich darum kümmern, dass
unbegleiteten Minderjährigen das Recht auf Eltern zugestanden wird, wie es
ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes vorsieht, aber von seinem Haus
werden weiter Ablehnungsbescheide verteilt. Da hätten dann
Wertevorstellungen eine Konkretion.
Darin müsste sich Regierungshandeln unterscheiden wollen von denen, die als
politische Ausleger der Rechten und Rechtsextremisten vor ihren
Schreibtischen und in Parlamenten sitzen, Anträge stellen, um als
Parlamentsvorführer Presse und Fans zu machen, politische Feinde mit
bürokratischen Mitteln zu überziehen, den Untergang zu prophezeien, Muslime
zu denunzieren oder Gutmenschen, die Leben retten und nicht wegschauen.
7 Jul 2019
## LINKS
[1] /Kapitaenin-Carola-Rackete/!5603951
[2] /Kapitaenin-Carola-Rackete/!5609301
[3] /CDU-Buergermeister-ueber-Seenotrettung/!5600097
[4] /Entwicklung-im-Mordfall-Luebcke/!5609215
[5] /Aktueller-Verfassungsschutzbericht/!5603730
[6] /Drohungen-gegen-Seda-Baay-Yildiz/!5607827
[7] /Bootsunglueck-vor-der-Kueste-Tunesiens/!5609612
## AUTOREN
Esther Dischereit
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Sea-Watch
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