# taz.de -- Erinnerung an den Kindertransport: Letzte und erste Besuche | |
> Eine Gruppe von Kindertransport-Überlebenden machte am Wochenende Station | |
> in Berlin. Im Abgeordnetenhaus wurde ihnen ein Empfang bereitet. | |
Bild: Der Kindertransport-Überlebende Ralph Mollerick im Gespräch mit Staatss… | |
„Meine Schwester sagte mir damals: Vergiss und beginn ein neues Leben!“ | |
Doch Ralph Mollerick hat nichts vergessen, auch nicht über 80 Jahre nachdem | |
ihn seine Eltern zusammen mit seiner älteren Schwester in den | |
Kindertransport gesetzt haben. Mollerick war eines der mehr als 10.000 | |
jüdischen Kinder, die 1938 und 1939 durch Zugtransporte nach Großbritannien | |
vor den Nazis gerettet werden konnten. | |
Am Freitag steht der 89-Jährige im prächtigen Speisesaal des Berliner | |
Abgeordnetenhauses und erzählt auf Englisch – die deutsche Sprache habe er | |
vergessen – davon, wie traumatisch es gewesen sei, im Dezember 1938 ohne | |
seine Eltern in ein fremdes Land fliehen zu müssen und nicht zu wissen, ob | |
er sie jemals wiedersehen würde. Nur einen kleinen Koffer mit Kleidung für | |
eine Woche habe er damals aus Deutschland mitnehmen können. | |
Der US-Amerikaner ist Teil einer Gruppe von vier dank Kindertransport | |
Überlebenden und 14 Kindern von Überlebenden – die sich als „zweite | |
Generation von Überlebenden“ verstehen. Auf Einladung des Vereins | |
Kindertransport Association (KTA) besuchen sie derzeit die Hauptstadt. | |
Berlin sei eine der Städte, die die „Kinder“ einst Zuhause nannten und die | |
sie jetzt – vielleicht zum letzten, in einigen Fällen aber auch zum ersten | |
Mal – besuchen würden, hatte Melissa Hacker, Präsidentin der KTA und | |
Organisatorin des Besuchs, der taz in der vergangenen Woche im Interview | |
erklärt. | |
In Wien begannen die BesucherInnen, die heute in verschiedenen europäischen | |
Ländern, den USA und Australien leben, ihre Zugreise am 1. Juli. Nach dem | |
Besuch in Berlin geht es am Montag weiter nach Amsterdam und schließlich | |
mit der Fähre nach Großbritannien, dem damaligen Fluchtweg folgend. „Es ist | |
nicht genau dieselbe Strecke, aber fast“, so Hacker. | |
Empfang im Berliner Parlament | |
Am Freitag empfingen der Präsident des Abgeordnetenhauses, Ralf Wieland | |
(SPD) sowie die Linksfraktion des Abgeordnetenhauses die | |
BesucherInnengruppe im Parlament. Auch Hannah Dannel vom Zentralrat der | |
Juden in Deutschland, Sigmount Königsberg von der Jüdischen Gemeinde zu | |
Berlin und Lisa Bechner von der Kindertransport Organisation Deutschland | |
sprachen bei der Veranstaltung. | |
Staatssekretärin Sawsan Chebli (SPD) vertrat den Berliner Senat und war | |
sichtlich betroffen, als Ralph Mollerick und andere ihre Schicksale | |
schilderten und mit den anwesenden Politiker*innen ins Gespräch kamen. „Es | |
ist ein großer Unterschied, ob man ein Buch aufschlägt und über solche | |
Schicksale liest, oder ob man den Menschen selbst begegnet“, sagte Chebli | |
der taz nach der Veranstaltung. „Obwohl ich mich schon lange mit der | |
Aufarbeitung des Holocaust beschäftige, hat mich das Gespräch mit | |
Betroffenen der ersten Generation sehr berührt“, so die Verantwortliche für | |
bürgerschaftliches Engagement und Internationales in Berlin. | |
Zuvor hatte Chebli die Gruppe auf Englisch willkommen geheißen. „Es ist | |
nicht selbstverständlich, dass wir Sie hier begrüßen dürfen. Ich weiß, dass | |
einige von Ihnen sich erst jetzt entscheiden konnten, nach Deutschland zu | |
kommen“, so die Staatssekretärin. Dass 40 Prozent der deutschen | |
Schüler*innen nicht mehr wüssten, wofür Auschwitz steht, sei bestürzend, | |
so die Politikerin. Sie selbst sei vor einigen Wochen mit Jugendlichen in | |
dem Konzentrationslager gewesen und finde nach wie vor, dass solche | |
Besuche für Schüler*innen verpflichtend sein sollten. | |
Chebli erklärte auch, dass ihr Einsatz für Aufarbeitung und Bildung | |
bezüglich der Schoah und den durch Flucht Überlebenden mit ihrer | |
persönlichen Erfahrung zu tun habe. „Denn ich wurde in Deutschland als | |
Tochter von palästinensischen Geflüchteten geboren“. | |
Auch Parlamentspräsident Wieland und Udo Wolf, Fraktionsvorsitzender der | |
Linken, betonten am Freitag in ihren Reden, wie wichtig es heute sei, an | |
die Schoah und das Schicksal der von den Nazis geretteten Kinder zu | |
erinnern und jedem Antisemitismus entgegenzutreten. „Ich leide darunter, | |
dass vor jüdischen Einrichtungen in Berlin Polizisten stehen müssen“, so | |
Wieland. | |
Erinnerung und praktische Solidarität heute | |
Wolf hob hervor, dass es nicht nur mit Worten aufzuklären gelte, sondern | |
man Menschen auf der Flucht auch mit praktischer Solidarität helfen müsse. | |
Zu einem Zeitpunkt, an dem Rechtspopulisten selbst aus dem Mittelmeer | |
geretteten Geflüchteten den Zugang nach Europa verwehren würden, sei es | |
besonders wichtig, dass Berlin sich der Bewegung der Solidarity Cities | |
angeschlossen hat, so der Linke-Politiker. | |
KTA-Präsidentin Hacker erklärte, dass praktische Solidarität mit | |
geflüchteten Kindern heute auch zu den Zielen der Kindertransport | |
Association gehöre. Ebenso forderte Monique Vajifdar, Überlebende der | |
zweiten Generation, gegen Ende des Empfangs zu übergreifendem Einsatz für | |
Geflüchtete auf: „Es war die Güte von Fremden, die damals den | |
Kindertransport möglich gemacht hat.“ | |
8 Jul 2019 | |
## AUTOREN | |
Stefan Hunglinger | |
## TAGS | |
Holocaust | |
Flucht | |
Rechtspopulismus | |
Abgeordnetenhaus | |
Sawsan Chebli | |
Schwerpunkt Tag der Befreiung | |
Antisemitismus | |
Schwerpunkt Mordfall Walter Lübcke | |
USA | |
Holocaust | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Mein Kriegsende 1945: „Ich dachte ja, sie leben noch“ | |
Zeitzeugen erinnern sich (Teil 17): Hanita Rodney überlebte, weil ihre | |
Eltern sie per Kindertransport nach England geschickt hatten. | |
Antijüdisches Pogrom vor 200 Jahren: „Hep! Hep!“, Neid und Niedertracht | |
Im August 1819 begann das „Hep-Hep“-Pogrom im Deutschen Bund. Die Mobs | |
wurden von Eliten bezahlt und lehnten die Gleichberechtigung von Juden ab. | |
Essay Flucht und Gewalt in Deutschland: Worauf wartet der Außenminister? | |
Fluchtursachen gibt es viele. Der Umgang damit war und ist oft skandalös. | |
Auch die heutige Flüchtlingspolitik trägt teils menschenverachtende Züge. | |
US-Debatte über Holocaust-Vergleich: Eine Frage des Framings | |
Kann man Abschiebelager mit Konzentrationslagern vergleichen? In den USA | |
ist darüber eine Diskussion entbrannt, auch unter Historiker_innen. | |
Gerettete Kinder besuchen Berlin: Die Rückkehr der „Glücklichen“ | |
Kindertransporte retteten 10.000 jüdische Kinder vor den Nazis. Melissa | |
Hacker organisiert nun für vier von ihnen eine Reise zu den Kindheitsorten. |