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# taz.de -- Arbeitsausbeutung: Eine „Präsentation des Grauens“
> Viele Überstunden, wenig Verdienst: In kaum einer Branche trifft das mehr
> zu als im Gastgewerbe. Berlin gehört zu den Spitzenreitern.
Bild: Viele Überstunden, wenig Pausen: Die Arbeitsbedingungen im Gastgewerbe s…
Seit sechs Jahren arbeitet Ruth, die nur ihren Vornamen in der Zeitung
lesen möchte, in einem Hostel in Mitte. In den ersten Jahren habe sie oft
auf einer Matratze in der Gästetoilette übernachtet, erzählt die
Rezeptionistin, weil sich der Nachhauseweg nach der Spät- und vor der
Frühschicht nicht lohnte. Viele Überstunden, keine Pause, der Druck, auch
an freien Tagen zu arbeiten, wenn jemand krank wird – einer aktuellen
Auswertung zufolge sind Ruths damalige Arbeitsbedingungen prototypisch für
die 112.000 Beschäftigten im Berliner Gastgewerbe. Eine „Präsentation des
Grauens“ nannte Matthias Günther, Leiter des Eduard-Pestel-Instituts für
Systemforschung, deren am Donnerstag vorgestellte Erkenntnisse.
Im Auftrag der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) hat das
Institut vor allem Zahlen zu Überstunden zusammengetragen. Demnach fielen
2017 in der Branche bundesweit 27,5 Millionen Überstunden an, knapp 45
Prozent davon unbezahlt. Berlin gehört neben Hamburg sowohl bei den
gesamten Überstunden wie auch den unbezahlten zu den Spitzenreitern.
Das seien Zahlen, wie man sie sonst nur von hochbezahlten Jobs kenne, in
denen Überstunden quasi mit eingepreist seien, so Günther. Im Tourismus-,
Hotel- und Gaststättengewerbe, in dem über 50 Prozent der Arbeitsplätze
Minijobs seien und von den Vollzeitbeschäftigen mehr als die Hälfte weniger
als 2.000 Euro brutto verdiene, sei das ein „unhaltbarer Zustand“, so
Günther.
Die Folgen der unattraktiven Arbeitsplätze: Immer weniger Ausbildungsplätze
würden besetzt, immer mehr Beschäftigte flüchteten in andere Branchen, so
NGG-Vorsitzender Zeitler. „Die Arbeitgeber versuchen den Personalmangel
durch immer mehr Ausdehnung der Arbeitszeiten zu kompensieren – ein
schwerer Fehler“, sagt er.
## Arbeitszeit bis zu 13 Stunden
Tatsächlich fordert etwa der Präsident des Arbeitgeberverbands der Branche,
Guido Zöllick, eine „Reform des lebensfremden Arbeitszeitgesetzes“. Noch
mehr Flexibilität und zulässige Arbeitszeiten bis zu 13 Stunden statt der
bisherigen 10 Stunden stehen zur Debatte.
Im Moment erscheint aber fast nebensächlich, was im Arbeitszeitgesetz
steht. „Ein Berliner Betrieb hat die Chance, einmal in 400 Jahren
kontrolliert zu werden, also quasi gar nicht“, sagt Günther vom
Pestel-Institut. Angesichts der Tatsache, dass im Hotel- und
Gaststättengewerbe mehr als 80 Prozent der Beschäftigten in
Kleinstbetrieben arbeiten, in der Regel ohne Betriebsrat und
Gewerkschaftsanbindung, ist auch der Einfluss der NGG vergleichsweise
gering. „Wir brauchen uns nicht einzubilden, da einen Ordnungsfaktor
darzustellen“, sagt Guido Zeitler. Die Gewerkschaft setzt deshalb nun auf
eine Plakatkampagne unter dem Motto „10 Stunden sind genug“ zur Bestärkung
der Beschäftigten.
Bei der Rezeptionistin Ruth hat das schon vor vier Jahren funktioniert, als
sie und ihre KollegInnen „den einzigen Hostel-Betriebsrat Deutschlands“
erkämpften. Für Überstunden gibt es jetzt Zuschläge, zu Extraschichten kann
nur verpflichtet werden, wer auf einer Freiwilligenliste steht. Dem Betrieb
habe das nicht geschadet, im Gegenteil: „Die Leute gehen viel lieber zur
Arbeit und die Online-Ratings sind sogar gestiegen.“ Und auf der
Gästetoilette muss Ruth schon lange nicht mehr übernachten.
27 Jun 2019
## AUTOREN
Manuela Heim
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Spanien
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