# taz.de -- Pflegewissenschaftler über Pflegekräfte: „Es fehlen über 100.0… | |
> Pflegewissenschaftler Michael Simon erklärt, warum Bremens | |
> Bundesratsinitiative für eine andere Personalplanung in den | |
> Krankenhäusern wichtig ist. | |
Bild: Wie viel Personal benötigt wird, sollte am Pflegebedarf gemessen werden | |
taz: Herr Simon, seit Anfang des Jahres gibt es Untergrenzen dafür, wie | |
viel Pflegepersonal einzelne Stationen im Krankenhaus vorhalten müssen. | |
Warum verbessert das die Situation für Pflegekräfte und Patient*innen | |
nicht? | |
Michael Simon: Zum einen sind die Untergrenzen zu niedrig angesetzt. Sie | |
fordern nur eine Minimalbesetzung, das steht so auch in der Verordnung. | |
Wenn eine Pflegekraft zehn oder zwölf Patienten versorgen muss, kann von | |
bedarfsgerechter Besetzung nicht die Rede sein. Hinzukommt, dass die | |
Verordnung Pflegefachkräfte und Hilfskräfte zusammenfasst. | |
Das heißt? | |
Für eine Intensivstation, auf der laut Verordnung eine Schwester tagsüber | |
2,5 Patienten betreuen soll, heißt das beispielsweise, dass es rechtlich | |
zulässig ist, wenn eine Altenpflegehilfskraft mit einjähriger Ausbildung | |
mehrere schwerstverletzte, beatmete Patienten versorgt. Das wird | |
hoffentlich kein Krankenhaus so machen, aber es verdeutlicht, was von | |
dieser Verordnung zu halten ist. | |
Sind die Intensivstationen unterschiedlicher Kliniken denn vergleichbar? | |
Nein, das ist ein weiterer Kritikpunkt. Man kann nicht denselben Wert für | |
Intensivstationen kleiner Landkrankenhäuser und für Universitätskliniken | |
vorgeben. Ich halte das für vollkommen unsachgemäß. | |
Was schlagen Sie stattdessen vor? | |
Es muss ein Verfahren entwickelt werden, das die notwendige | |
Personalbesetzung anhand des individuellen Pflegebedarfs der Patienten | |
ermittelt. | |
Wie genau soll das aussehen? | |
Ein eigenes Instrument gibt es gegenwärtig nicht, unsere Kommission hat nur | |
grundsätzliche Empfehlungen ausgesprochen. Aber es gibt ein Verfahren, das | |
sowohl Pflegeverbände als auch die Gewerkschaft Ver.di und Initiativen für | |
mehr Personal im Krankenhaus als Orientierung vorschlagen: die | |
Pflegepersonalregelung, kurz PPR. | |
So eine Regelung gab es schon mal? | |
Ja, sie wurde 1993 eingeführt, aber 1997 gleich wieder abgeschafft. In | |
vielen Krankenhäusern wird sie allerdings noch angewendet. | |
Wie sieht die Regelung aus? | |
Vereinfacht gesagt, wird definiert, welche Tätigkeiten oder | |
Tätigkeitskomplexe benötigt werden, um die Pflege eines Patienten | |
fachgerecht durchzuführen, und wie viel Zeit dafür benötigt wird. Das | |
Verfahren addiert diese Zahlen und so wird deutlich, wie viel | |
Pflegepersonal notwendig ist. | |
Das klingt nach hohem administrativen Aufwand. | |
Dieses Gerücht wurde vielfach gestreut. Die Pflegekräfte, die damit | |
arbeiten und gearbeitet haben, wissen aber, dass das nicht stimmt. Gute | |
professionelle Pflege muss nicht nur gut geplant, sondern auch dokumentiert | |
werden. Das ist der administrative Teil, der unerlässlich ist. Diese | |
Pflegedokumentation kann ohne zusätzlichen Aufwand mit der Erfassung der | |
PPR verbunden werden. So wurde es auch in den 1990er-Jahren gehandhabt. | |
Wenn es so einfach ist, warum wurde dann nicht erneut darauf | |
zurückgegriffen? | |
Das müssen Sie Herrn Spahn oder die zuständigen Beamten im | |
Gesundheitsministerium fragen. Möglicherweise spielt eine Rolle, dass eine | |
Wiedereinführung der PPR einen Mehrbedarf ergeben würde, der weit über dem | |
liegt, was zurzeit von der Politik diskutiert wird. | |
Sie haben diese Zahl im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung berechnet. | |
Ja, ich habe so eine Berechnung durchgeführt und [1][das Ergebnis war, dass | |
gegenwärtig deutlich über 100.000 Vollzeitstellen fehlen.] | |
Könnte denn die alte Pflegepersonalregelung einfach wieder aufgenommen | |
werden? | |
Nein, sie stammt aus den 1990er-Jahren und muss modernisiert werden. Das | |
dauert natürlich. Als Vorbild für die Entwicklung eines zeitgemäßen | |
Verfahrens könnte ein Projekt dienen, das für ambulante Pflegedienste und | |
Pflegeheime gerade abgeschlossen wurde. Für diese Einrichtungen wurde der | |
gesetzliche Auftrag zur Entwicklung eines Verfahrens erteilt und auch das | |
dafür notwendige Geld bereitgestellt. | |
Was rechtfertigt diesen Aufwand? | |
Es würden nicht irgendwelche Zahlen „gewürfelt“, sondern mit | |
wissenschaftlichen Methoden ermittelt. Und im Gegensatz zu den Daten, die | |
für die Untergrenzen erhoben wurden, wären sie keine einfache Abbildung des | |
Ist-Zustandes. Eine Abbildung des Ist-Zustandes reproduziert nur die | |
bestehende Unterbesetzung. | |
Bis das neue Verfahren entwickelt worden ist, müssen wir mit den viel | |
kritisierten Untergrenzen leben? | |
Ich denke, die Rahmenbedingungen sind durch das | |
[2][Pflegepersonal-Stärkungsgesetz] deutlich verbessert worden. Durch das | |
Gesetz haben die Krankenhäuser einen Anspruch auf Finanzierung ihrer | |
tatsächlichen Personalbesetzung erhalten. Das muss zwar mit den Kassen | |
verhandelt werden, aber so könnten die Kliniken auch schon in der | |
Zwischenzeit Personal aufstocken. Es gibt ja auch eine ganze Reihe | |
Kliniken, die die alte PPR noch anwenden. Das würde sicherlich bereits | |
Verbesserungen bringen. | |
Selbst wenn Kliniken einstellen wollen: Pflegekräfte zu finden ist oft | |
schwierig. | |
Allerdings: Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Um den Beruf | |
attraktiver zu machen, braucht es eine bessere Personalbesetzung. Die kann | |
man aber nicht gewährleisten, wenn das Personal nicht verfügbar ist. Es | |
gibt gegenwärtig die „Konzertierte Aktion Pflege“. Die wird demnächst | |
Vorschläge vorlegen, wie der Pflegeberuf insgesamt attraktiver gemacht | |
werden könnte. | |
Es braucht aber auch kurzfristige Verbesserungen, um zu verhindern, dass | |
noch mehr Pflegekräfte ihren Beruf aufgeben. | |
Richtig, die Situation muss kurzfristig verbessert werden. Und ich denke, | |
wenn es nicht genug Personal gibt, dann muss die Arbeitsbelastung reduziert | |
werden, indem die Patientenzahlen reduziert werden. Viele werden sich noch | |
an die Kinderintensivstation der Medizinischen Hochschule Hannover | |
erinnern. [3][Die hat vor einiger Zeit Aufsehen erregt, weil dort wegen | |
Personalmangel Betten gesperrt wurden]. Der zuständige Oberarzt hat damals | |
sehr ausführlich dargelegt, dass die Station diesen Weg schon lange | |
beschreitet, weil sie es für unverantwortlich hielten, Patienten | |
aufzunehmen, wenn nicht genug Personal vorhanden ist. Ich finde auch, das | |
ist verantwortungsbewusstes Handeln. | |
4 Jun 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.boeckler.de/pdf/p_fofoe_WP_096_2018.pdf | |
[2] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/sofortprogramm-pflege.html | |
[3] /Folgen-des-Pflegekraeftemangels/!5538335 | |
## AUTOREN | |
Marthe Ruddat | |
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