Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Doku „24h Europe – The Next Generation“: Europa in Echtzeit
> Die Doku weitet den Blick der TV-Reihe auf das Europa der Millennials.
> Die Macher begleiten 60 junge Menschen 24 Stunden lang.
Bild: Die Drohnenpilotin und Designerin Lexie beie einem Wettbewerb in Frankrei…
Im Großen und Ganzen betrachtet, scheint der 5. September 2008 kein
besonders erinnerungswürdiger Tag zu sein. Weder innerhalb der
Weltgeschichte noch für Deutschland oder seine Hauptstadt. Trotzdem ist
dieser ganz normale Freitag in Berlin wahrscheinlich der bislang
bestdokumentierte der deutschen Fernsehgeschichte.
Es ist jener Tag, den Filmemacher Volker Heise und die Mitverantwortlichen
dazu auserkoren hatten, um mit 80 Drehteams und 316 Mitarbeitern innerhalb
von 24 Stunden mehr als 50 Protagonisten in ihrem Berliner Alltag zu
begleiten. Einige Promis sind dabei, wie Daniel Barenboim, Thomas de
Maizière, Kai Diekmann und Klaus Wowereit, aber hauptsächlich gewöhnliche
Menschen unterschiedlicher sozialer Hintergründe oder Ethnien, wie man sie
in den Stadtteilen Berlins eben überall finden kann.
„Mein Wunsch war es, einen Tag aufzubewahren, den man wahrscheinlich sonst
für immer vergessen hätte. Eine Zeitkapsel, die man in die Zukunft
schickt“, erinnert sich Heise heute an seinen Grundgedanken für das
Projekt, welches das Programmschema der Sender auf die Probe gestellt hat.
Sowohl Arte als auch der rbb strahlten die Echtzeit-Dokumentation [1][„24h
Berlin – Ein Tag im Leben“] 2009, auf den Tag genau ein Jahr später, über
24 Stunden hinweg ohne Unterbrechung aus – von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr am
Folgetag. Im Grunde also so etwas wie die Geburt des seriellen Binge
Watchings im deutschen Fernsehen.
Die Ausstrahlung sei ein „großartiger Erfolg“ gewesen, freute sich der rbb
damals, der mit dem Nonstop-Programm den damaligen Sendeschnitt von 6
Prozent auf durchschnittlich 10 und in Spitzenzeiten sogar auf 22 Prozent
heben konnte. Heise und Produzent Thomas Kufus erhielten im Anschluss viele
Auszeichnungen für die Idee und Umsetzung der monumentalen Dokumentation.
Und das Konzept wurde für ihre Produktionsfirma Zero One Film zum
Erfolgsrezept.
## Ein Statement vor der Europawahl
2014 wiederholten sie das Format [2][mit „24h Jerusalem“], und 2017 konnte
man „24h Bayern – Ein Tag Heimat“ im BR in Echtzeit verfolgen. Immerhin e…
gutes Jahr bevor CSU-Bundesinnenminister Horst Seehofer dem strittigen
„Heimat“-Begriff gleich ein ganzes Ministerium widmete. Welche politischen
Einblicke sich mit seiner Idee herstellen lassen können, habe er erst im
Laufe der Produktionsgeschichte erfahren, als er verstanden habe, „wie
tief man auf diese Weise in eine Stadtgesellschaft eintauchen kann“, so
Heise. „In Jerusalem habe ich gemerkt, wie man mit diesem Format diese
verschiedenen Schichten und Verzweigungen, die der Nahostkonflikt in sich
birgt, an einem spezifischen Ort über 24 Stunden hinweg erzählen kann.“
Mit „24h Europe – The Next Generation“ legen Initiator Heise und Produzent
Kufus das Prinzip nun zum vierten Mal auf und erweitern dafür die
Perspektive erneut. Zumindest geografisch, denn dieses Mal haben sie die
Gruppe ihrer Protagonisten eingeschränkt: Die neue Staffel begleitet 60
junge Europäer zwischen 18 und 30 Jahren 24 Stunden lang in ihrem Alltag.
Es gehe um „das Europa von morgen“, kündigt der Trailer an, das hier aus
Sicht der Millennials erzählt wird.
Die beteiligten Sender, allen voran Arte und die ARD, verstehen die
Ausstrahlung kurz vor der Europawahl auch als Statement, wie bei der großen
Pressevorführung Mitte März im Heimathafen Neukölln deutlich wird: Kritik
an Europa, Kritik an der EU und Abwanderungstendenzen wie der Brexit
stellen das „Projekt Europa“ immer stärker auf die Probe und scheinen die
junge und die alte Generation zu spalten.
## Zwölf Redakteure für sieben Sender aus fünf Ländern
Die Produktion selbst kann wieder mit Superlativen beeindrucken: 45
Filmteams aus 26 Nationen mit insgesamt 260 Teammitgliedern haben den 15.
und frühen 16. Juni 2018 festgehalten. Um die Sicht auf das junge Europa
nicht von einem solitären deutschen Standpunkt aus zu präsentieren, habe
man sich von Anfang an nach europäischen Mitstreitern umgeschaut und mit
Frankreich ein starkes Partnerland gefunden, erklärt Thomas Heise. Weitere
beteiligte Sender kommen aus Belgien, Tschechien und Finnland.
12 Redakteure hätten für sieben Sender aus fünf Ländern am Projekt
mitgewirkt, erklärt Arte-Redakteurin Claire Isambert. „Wir wollen ein
Zeitdokument kreieren und hoffen, dass dieses Programm in zehn, zwanzig
oder dreißig Jahren weiter einen großen Wert haben wird.“ Die Kommunikation
und die abgestimmte Umsetzung sei bei derart vielen Akteuren eine echte
Herausforderung gewesen: „Es war bunt, abenteuerlich – schon sportlich“,
ergänzt Isambert schmunzelnd.
Regisseurin Britt Beyer, die zusammen mit ihrem französischen Pendant
Vassili Silovic dieses Mal die künstlerische Leitung von Thomas Heise
übernommen hat, der diese Thematik lieber von jüngeren KollegInnen betreut
sehen wollte, empfindet die Zusammenarbeit der verschiedenen
Interessengruppen als produktiv: „Klar muss man bei einem so großen Projekt
aufeinander zugehen und Kompromisse machen. Die Auswahl der Protagonisten
und Geschichten hat im Gremium mit den Sendern und Produzenten
stattgefunden, was allerdings gut funktioniert hat.“
## Trends und Arbeitslosigkeit
Ausgehend von anfangs definierten „Megatrends Europa“ wie Urbanität,
Mobilität, Arbeitslosigkeit und Gender habe man in den verschiedenen
Ländern des geografischen Europas nach passenden Teilnehmern gesucht. Vier
davon sind auch bei der Präsentation im Heimathafen vor Ort.
Da ist die angehende Kinderchirurgin Verica aus Belgrad, die als Frau keine
Anstellung in ihrer Heimat findet und deswegen ins bayrische Schwandorf
gezogen ist. Der Kindergärtner Jannis aus Griechenland, der auf Lesbos in
einem Projekt einheimische und Flüchtlingskinder zusammenbringt. Die
Frauenrechtlerinnen Natalia und ihre Partnerin Marta aus Polen, die sich
mit ihrer Bewegung gegen eine Verschärfung des Abtreibungsrechts
erfolgreich gegen das Parlament durchsetzen konnten und der russischen Arzt
Nicolay, der sich in einem Aids-Zentrum für die Versorgung der
stigmatisierten HIV-Infizierten engagiert.
„Ohne Russland hätte eine solche Erzählung unserer Meinung nach nicht
funktioniert, selbst wenn nur ein Teil zum geografischen Europa gehört“, so
Beyer über die Auswahl der Länder für das Projekt. „Die Ukraine haben wir
aufgrund der Kriegssituation dazu genommen, die eine reale
Bedrohungssituation ist.“
Für die Macher sei es besonders wichtig gewesen, die Widersprüche in Europa
zu thematisieren, so Heise bei der Vorstellung: „Wir müssen dahin gehen, wo
es wehtut. Bei allen 24-Stunden-Projekten habe ich gesagt, dass wir auch
die mitreinnehmen müssen, die wir eigentlich nicht mögen. Die wir
vielleicht auch nicht wollen, aber sie sind eben auch Teil Europas. Es muss
auch schmerzen, wenn man über Europa erzählt.“
## Parallelen der Träume und Wünsche
Wie groß die Spannweite der erzählten Geschichten tatsächlich ist, zeigt
das aufwühlende Segment auf der norwegischen Insel Utøya, wo das Filmteam
Astrid, Mitglied der sozialdemokratischen Arbeiterpartei und Überlebende
des rechtsradikalen Terroranschlags vom 22. Juli 2011, begleitet.
„Ich wollte zu diesem Teil einen Antagonisten aufbauen, deswegen sieht man
als Gegenpol Almerigo in Italien, der dort für die neofaschistische Partei
Forza Nuova in Triest kandidiert“, so Beyer. „Dazwischen erzählen wir aber
auch ganz andere Geschichten, zum Beispiel von Bilal, der nach Deutschland
gekommen ist und eine Spenglerlehre macht oder einer jungen
Akrobatik-Weltmeisterin in Island.“
„Wir hoffen sehr, dass wir hier ein durchaus polarisierendes Programm auf
die Beine gestellt haben“, so Produzent Thomas Kufus zu den
Anschlussmöglichkeiten der Doku hinsichtlich aktueller
gesellschaftspolitischer Debatten. Was trotz aller schmerzlicher Einblicke
bei der Sichtung der beiden vorab gezeigten halbstündigen Ausschnitte auch
erkennbar wird, sind die Parallelen der Träume und Wünsche vieler
Protagonisten. Die schnellen Schnitte zwischen den zahlreichen Locations
und das allgemein zügige Erzähltempo machen die Ländergrenzen für die
Zuschauer ohnehin bald vergessen.
3 May 2019
## LINKS
[1] /!594071/
[2] /Echtzeit-Doku-aus-Israel/!5044527
## AUTOREN
Jens Mayer
## TAGS
Schwerpunkt Europawahl
Millennials
Europa
europawahl Kultur
TV-Dokumentation
Schwerpunkt Europawahl
europawahl Kultur
Europawahl
Frauen-WM 2019
Dokumentation
## ARTIKEL ZUM THEMA
Arte-Doku zum Jahr 1979: Beginn der Gegenwart
Die Islamische Revolution, Papst Johannes Paul II in Mexiko, Deng Xiaoping
in den USA und Margaret Thatcher im Wahlkampf. Arte reist nach 1979.
Episodenfilm „The Love Europe Project“: Von Helmut Kohl und Biene Maja
Berichte über die Europawahl füllen zurzeit die Medien. Neun
Regisseur*innen präsentieren im ZDF nun ihren fiktiven Beitrag über die EU.
TV-Duell zur Europawahl: Die EU im Nischensender
ARD und ZDF ist das TV-Duell der Spitzenkandidat*innen zu europäisch. Sie
bringen Geplauder zwischen Weber und Timmermanns – auf deutsch.
Wahl-O-Mat bekommt Konkurrenz: Erst swipen, dann wählen
Bisher konnte man sich mit dem Wahl-O-Mat über die Programme der Parteien
informieren. Pünktlich zur Europawahl gibt es eine Alternative.
Regisseur über Fußball-WM im TV: „Freude sichtbar machen“
Liveübertragungsregisseur Volker Weicker bemängelt das fußballerische
Niveau der WM. Die Regie müsse Aufmerksamkeit über andere Wege schaffen.
Thomas Kufus über „24h Bayern“: „Wie modern dieses Bayern ist“
Nun beginnt der Dreh für den dritten Dokumentarfilm aus der „24h“-Reihe.
Produzent Thomas Kufus über den Charakter von Regionen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.