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# taz.de -- Eierlikör im Selbstversuch: Glibber im Strohhalm, Aura im Mund
> Unser Autor taucht ein in die Welt des Eierlikörs, macht ihn sogar selbst
> und landet schließlich im Kopf von Markus Lanz. Wie konnte das passieren?
Bild: Eierlikör bringt Freude. Dem Autoren, aber auch diesem jungen Mann
Frucade oder Eierlikör? So lautete die rituelle Frage des Gesamtkünstlers
Hermes Phettberg an jeden Gast seiner „Nette Leit Show“ (mit der er,
nebenbei bemerkt, den bayerischen Limonadehersteller Frucade vor der
Pleite bewahrte und uns somit den Werbebefehl „die Fruchtigkeit spüren“
schenkte, aber das ist eine andere Geschichte).
Frucade oder Eierlikör: Es ist die unbeantwortbare Frage des Lebens. Ich
entscheide mich, trotz allem, immer wieder für den Eierlikör.
Einfach nicht totzukriegen ist das zähe Getränk aus dem Besten, was das
Huhn und die Lebensmittelchemie zu bieten haben. Seine Verortung ist nicht
ganz klar, immer klebt und hängt noch irgendwo ein Rest davon und trocknet
langsam zu Kristall. Abgelebt scheinbar, ein Relikt längst vergangener
Zeiten; Marktführer Verpoorten (Ei, Ei, Ei) hat, wie passend, seinen
Firmensitz im ewig finstern Bonn. Und doch ist die Nachfrage ungebrochen.
Das Glas, es ist leer und voll zugleich.
Symbolisiert Wodka-E die selbst beim „Feiern“ noch
selbstkontrollierend-perfektische Energie der neoliberalen
Leistungsgesellschaft, verkörpert Gin Tonic den bescheidenen Chic des
modernen Großstadtprekariats, so fließt Eierlikör irgendwo zwischen
Blümchenkaffee und Sahnetorte aus der Form.
## Geschichten von wildgewordenen Kaffeefeten
Hat Jägermeister in den Neunzigern mit Bravour den Imagewandel geschafft
und neue junge Säuferschichten angezogen, so scheitert Verpoorten seit
Jahrzehnten genau daran. Allenfalls ausgeflockt, als Bestandteil von
Ekel-Cocktails, ist der süße Saft in meinem Umkreis ein Begriff. Es werden
Geschichten erzählt von wildgewordenen Kaffeefeten, wo Sekt, Fanta,
Wurstwasser beigemischt und denaturierte Glibberstückchen durch den
Strohhalm gesogen werden.
Ich hingegen, ich mag Eierlikör sehr gern, sehe in ihm ein
Widerstandsmoment gegen das System und schätze seine umhüllende Aura im
Mund. Deshalb fresse ich erst mal 11,5 Pralinen, um in Stimmung zu kommen,
und bestelle mir anschließend im Internet einen speziellen Superalkohol aus
der DDR namens „Prima Sprit“: 70 Prozent, damit kann man Taufbecken
veröden.
Ich will ausbrechen aus der Passivität eines bloß empfangenden
Käufer-Konsumenten-Idioten. Ich will zum Eierlikör-Erzeuger aufsteigen! Und
muss dafür noch einige Supermarktgänge erledigen. Die Einkaufsliste habe
ich [1][von „Erichs Erbe]“, einem Internet-Kochportal mit Ost-Rezepten –
dort findet man auch Anleitungen für „Verlorene Eier“ und „Falsches Hirn…
(Spoiler: Rührei! Ob jemand wohl wirklich Rührei als Hirn hat, wird ein
Freund später fragen).
## Udo Lindenberg nannte ihn Feierlikör
Wo wir gerade bei Erich sind: Udo (Lindenberg) nennt ihn „Feierlikör“ und
trinkt ihn, obwohl trockener Alkoholiker, bei so mancher Gelegenheit,
schreibt Benjamin (von Stuckrad-Barre). Guildo (Horn) soll – Coolness! – in
den Neunzigern als Star auf sogenannten „Tanz-den-Heinz-Partys“ für
Verpoorten aufgetreten sein. Und Hermes (Phettberg), ja, den hatten wir ja
schon.
Wer Eierlikör machen will, muss dann wirklich rohe Eigelbe verrühren und
sich vor möglichen Zeugen fortwährend ob der Sinnhaftigkeit seines
Vorhabens erklären. Ansonsten geht es recht schnell: Prima Sprit,
Puderzucker, Vanille (wenn möglich, echte) hinzufügen, schließlich noch
Kaffeesahne – ein umstrittenes Unterfangen, schließlich entschied der
Europäische Gerichtshof Ende vergangenen Jahres, dass Eierlikör, der
Milchprodukte enthält, nicht Eierlikör heißen darf.
[2][Zwei Eierlikörfirmen hatten einander beklagt] und lobbyiert: eine aus
Senftenberg, die andere aus der Nähe von Magdeburg. Letztere benannte nach
dem Urteil ihr (milchhaltiges) Produkt trotzig in „EUerlikör“ um. Mitte
März schließlich beschloss das Europäische Parlament eine neue
Spirituosen-Verordnung, die diesen Sommer in Kraft treten könnte – Milch
darf fortan wieder rein.
Die Zutaten erhitzen, aber nicht zum Kochen bringen: fertig! Das Erzeugnis
riecht streng nach Apotheken-Feuerwasser, schmeckt aber vorzüglich. Ich
probiere noch alle möglichen Variationen: mit Rum, mit Wodka, mit Sahne,
mit Meersalz. Doch es bleibt dabei: „Prima Sprit“ und Kaffeesahne sind ein
unschlagbares Duo. So wie Gestalttherapie und Unsichtbarkeit oder
postmodernes Theater und Bildungsbürgerkinder.
## Den Nazis galt er als „kriegswichtig“
Ich schaue eine noch haltbare WDR-Dokumentation über die schon seit fünf
Generationen von der Familie Verpoorten geführte Firma Verpoorten und
lerne, dass dem aktuellen Firmenchef William ein vorgeschlagener Werbespot,
der das „Ausschlecken“ des Likörglases zeige, „zu dicht am Konsumenten“
gewesen sei. Der Betrieb habe, außerdem, den Nazis als „kriegswichtig“
gegolten, da der dicke Tropfen als Stärkung für Wehrmachtssoldaten
eingesetzt worden sei. Opas Urin ist also hochgradig giftig, DDR hin oder
her.
Andererseits wurde Eierlikör ursprünglich von indigenen Völkern Eierlikör
im Selbstversuch im Amazonasgebiet aus Avocados gemacht – das Eigelb
bildete nur den Ersatz für die damals noch schwer importierbare Frucht. Das
ideale Millennialgetränk also?
Die Flasche ist leer und ich überlege aus nicht restlos aufklärbaren
Gründen, meine Deutschlehrerin anzurufen, die rote Lederstiefel und einen
Doppelnamen trug, und sie zu fragen, warum das eigentlich immer nur Frauen
angekreidet wird, also das mit dem Doppelnamen, und ob sie die jungen Leute
nicht endlich mal hasst. Schließlich hat Eierlikör die Konsistenz eines
guten Buches, jedes Schreiben ist ein Schleimen. Stattdessen schaue ich
[3][eine Dokumentation über Hermes Phettberg] mit dem Titel „Der Papst ist
kein Jeansboy“ und dem schönen Satz: „In dieser Wohnung möchte ich zu Ende
stinken.“
Am nächsten Tag gibt es Kaffeekränzchen, Eierlikörtorte, Eierlikör und ein
warmes Bad. Auch dafür eignet er sich – die Haut wird gepeelt und gefettet,
gefärbt und gekuschelt zugleich. Drei Tropfen in die Ohrmuschel oder unters
Kinn zu reiben soll einer privaten Legende zufolge Glück und ein langes
Leben bringen, was Wissenschaftler bisher nicht wussten. Das ist auch der
Ort, von dem aus ich jetzt diesen Text hier verfasse und nebenher ein
bisschen in der Wand herumprokele. Da, jetzt, ist das Loch durchgebrochen
und ich sehe nach draußen.
Das ist jetzt wie in diesem einen Film, aber ich glaube, ich bin im Kopf
von Markus Lanz gelandet. Ich gieße etwas Eierlikör durch das Loch.
21 Apr 2019
## LINKS
[1] https://www.erichserbe.de/
[2] /Echt-nur-ohne-Milch-Eierlikoer/!5543472
[3] /Portraetfilm-ueber-Hermes-Phettberg/!5208360
## AUTOREN
Adrian Schulz
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