Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Vom Glück der Geschmacks-Surprise: Unbekannt am Schleimhautrand
> Wir meinen zu wissen, wie die Dinge schmecken. Doch manchmal kommt es
> anders. Besser! Eine Reise ins kulinarische Unterbewusstsein.
Bild: Manchmal ist Senf im Berliner. Der Jackpot aber wäre Rosenkohl!
Das Übliche: „Schmeckt nach Mango!“ – „Wär ja auch schlecht, wenn nic…
„Wie?“ – „Na, wenn es nicht nach Mango schmecken würde. Da ist doch
schließlich Mango drin!“ – „Was sagst du da?“ – „Na, wär doch sch…
wenn das jetzt nach Topinambur schmecken würde, obwohl da Mango drin ist.“
– „Ja. Das stimmt wohl.“
Gespräche dieser Art begleiten mich seit frühester Kindheit besonders beim
Essengehen. Schließlich ist Essengehen für die meisten Menschen die
Gelegenheit, mit Zutaten und Zubereitungsweisen in Berührung zu kommen, die
sie sonst nicht kennen oder verwenden, weil sie sich für gewöhnlich lieber
nach Schema F (wie Fressen) zu sättigen pflegen.
Der allgemeine Trend hin zur Kontrolle und zur Kontrolle der Kontrolle hat
die Lebensmittelbranche als eine der ersten erfasst. Nahrungsproduktion
(zum Glück) und Nahrungskonsumtion (zum größten Bedauern) sind die am
stärksten geregelten, die erwartbarsten Lebensbereiche der Gegenwart.
In dieser Welt der Langeweile, in der jeder alles kennt, beglückt es schon,
wenn ein Essen mal besonders gut oder wenigstens besonders schlecht
schmeckt, denn dann hat man was erlebt. Am besten aber: wenn es anders
schmeckt als das Bekannte. Überraschend. Das suchen viele genau beim
Essengehen, beim Hey-mal-was-Neues, das zuverlässig von der Leier des
Ach-ist-ja-so-ähnlich-wie-das-da-neulich geschluckt zu werden droht.
Um diese gewünschte Überraschung geht es mir allerdings nur am Rande. Mich
interessiert vielmehr die ungewünschte, echte: die Überraschung, mit der
man nicht rechnet. Nur scheinbar eine Tautologie, in Wahrheit undenkbar.
Der Augenblick, in dem sich aus dem vermeintlich Altbekannten das Innerste
stülpt und in einem wohligen Schreck explodiert. Nur: Wie erreiche ich ihn,
wenn ich schon nicht Essengehen gehe? Wo finde ich so was im Alltag?
## Wodkamilch in der Müslischüssel
Denkbar sind Partyscherze: Wodka in der Milch und das böse Erwachen am
nächsten Morgen über der Müslischüssel. Oder: das erste Mal Orangensaft und
Zahnpasta zusammen. Ich lebe für solche Momente, ich zehre von ihnen,
selbst wenn sich derartige Gelegenheiten nur alle paar Schaltjahre bieten.
Denn es ist das alte Problem der abendländischen Philosophie. Wie kann ich
eine wirkliche Negation denken? Einen Genuss, frei von Kontrolle? Ein
radikal Anderes.
Zurück zu Schema F also: Fressen und Gefressenwerden. Dort fühlt man sich
am sichersten – ist also auch für Überraschung am anfälligsten. Jeder hat
eigene Mittel, um dieses Schema zu füllen, um über den Tag zu kommen.
[1][Krawallgesicht Žižek] gestand neulich in der FAS, am liebsten
Dosensuppe mit Würstchen zu futtern, noch über dem Kochtopf, als der
ideal-zeiteffizienten Energiepampenverschlingung irdisch am nahsten
kommenden Nährstoffverkörperung.
Bei mir sind es Nudeln mit Soße. So wie ich immerzu dieselben Lieder höre
und immerzu dieselben Wege durchs dystopisch-cleane Frankfurt am Main
schreite, esse ich immerzu Nudeln. Dabei versuche ich allerdings, jeweils
denjenigen der billigen Standard-Pfade zu beschreiten, der gerade am
unausgetretensten ist. Spaghetti fallen (außer bei Gruppenzwang) schon mal
raus. Bleiben – für 39 Cent im Supermarkt, das ist die Bedingung bei
Frankfurter Mieten – Fusilli und Penne, im Rewe zusätzlich „Gemelli“, au…
wenn ich das für eine Erfindung zur Simulation von Produktvielfalt halte,
aber andererseits, was ist schon keine Erfindung?
## Geleeartig rasender Stillstand
Bei den Soßen gibt es im Ultralow-Preissegment (79 Cent pro Glas) „Napoli“,
„Basilikum“ und „Arrabbiata“, neulich auch mal „gegrilltes Gemüse“,
heruntergesetzt, das scheint wohl ein (übersättigter?) Trend zu sein. Der
ewige Pesto-Kampf „rot“ gegen „grün“ soll mit zäher Macht durch Zutat…
Paprika, Mascarpone, Zucchini, bald vielleicht noch Eiersalat
diversifiziert werden, aber da sind wir ja schon bei den edleren Marken und
bei über einem Euro pro Soße und es ist, wie gesagt, Frankfurt und nicht
Unna. Dort, also in Unna, könnte man kulinarische Verwirrungen und
Köstlichkeiten Tag für Tag für wenig Geld erwerben, und man schwebte unter
und über die Welt, dass es seine himmlische Art hätte; doch lebt man
realiter, wie zum wiederholten Male gesagt, in Frankfurt, und muss sich
also mit den kleinen messianischen Verschiebungsmomenten zufriedengeben,
die sich im geleeartig rasenden Stillstand auftun oder nicht auftun.
Auch in dieser Hinsicht hat mich die Kombination Nudel plus Soße nicht im
Stich gelassen. Neulich hatte ich mir – statt wie immer „Napoli“ – aus
Unachtsamkeit „Arrabbiata“ gekauft und erhitzt und gegessen und, nun ja, es
war fabelhaft. Meine Nüstern haben gebrannt, da musste beinahe die
Feuerwehr kommen. Alles war rot und scharf, gleichzeitig dieser angenehme
Geschmack von alter Schrankschublade. Wichtiger, als dass „Arrabbiata“ kam,
war dabei, dass ich „Napoli“ erwartet hatte. So etwas kann man nicht
planen. Aber es passiert. Man muss sich treiben lassen.
An der Schwelle zwischen geplanter und ungeplanter Essensüberraschung
befindet sich ein von mir „Synergie der vergessenen Reste mit über diese
Reste hinausgehenden Effekten“ getauftes Konzept. Die Süß-salzig-Spirale
ist ja schon etwas länger vom System annektiert und salziges Karamell auch
in Deutschland der Knüller, also erwartbar. Wenn man jedoch Kekse isst, ihr
Geschmack nach einiger Zeit aus dem Bewusstsein verflogen ist, sich
gleichwohl noch ausreichend viele Kekspartikel in der Mundhöhle befinden
und man sich nun unvermittelt und nichtsahnend Oliven reinstopft, ist das
verschlungener als jeder schöne Traum.
## Vergessene Reste, ein Hauch von vorhin
In der Rührschüssel Mund ergeben sich die dollsten Kombinationen.
Ratatouille und Buttercreme. Lachs und Lebkuchen. Wassermelone und Anchovis
(damit kann man Taufbecken veröden). Der Trick ist, dass es Reste sein
müssen, vergessene Reste, ein Hauch von vorhin. Sonst gerät man, ohne
vorher „Kochtopfbrand“ sagen zu können, zack, in den Überbietungswettbewe…
jener Ekelvermischer des Gewöhnlichsten, die in jeder größeren Runde vor
allem junger Menschen plötzlich aufhorchen lassen.
„Ich esse gerne Nutella mit Salami, voll lecker“, heißt es dann, oder „K…
mit Marmelade“, „gezuckerte Paprika“, „Fleischwurst mit Magerquark“. …
bisschen so wie die um erwartete Erschreckung buhlenden Erzählungen
rekordverdächtiger Wohnungsmieten in A+-Metropolen, die Max Goldt in einem
Text, dessen Titel mir leider im Moment nicht mehr einfällt, anführt, womit
wir wieder bei meinen Strategien der Alltagsverpfadung angelangt wären.
Ich bezahle übrigens 8.000 Euro im Monat, und wenn die Miete noch teurer
wird, was ich insgeheim begehre, werde ich den ganzen Tag nur noch
eingelegte Salzgurken essen. In jedem zweimillionsten Glas schwimmt eine,
die nach Vanillepudding schmeckt. Man braucht nur Geduld.
8 Sep 2019
## LINKS
[1] /!t5020795/
## AUTOREN
Adrian Schulz
## TAGS
Essen
Schmecken
Überraschung
Alkohol
Essen
Ernährungswissenschaft
## ARTIKEL ZUM THEMA
Eierlikör im Selbstversuch: Glibber im Strohhalm, Aura im Mund
Unser Autor taucht ein in die Welt des Eierlikörs, macht ihn sogar selbst
und landet schließlich im Kopf von Markus Lanz. Wie konnte das passieren?
Zu Besuch beim Black Food Festival: Transhumanismus für Mensch Meier
Es ist aktivkohlegefärbt, instagrammable und schmeckt gar nicht speziell:
schwarzes Essen. Was sagt der Trend über unsere Gesellschaft aus?
Kochtrend „Foodpairing“: Die Nase isst mit
Lachs und Lakritze können ziemlich beste Freunde sein. Beim Foodpairing
schaffen ungewöhnliche Kombis geschmackliche Sensationen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.