Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Prozess um Messerstiche gegen Daniel H.: Brüchiger Frieden in Chem…
> Der Prozess um den tödlichen Angriff auf Daniel H. könnte Chemnitz wieder
> aufwühlen. Ein Freispruch ist nicht ausgeschlossen.
Bild: Mit dem Tod von Daniel H. begann letzten Sommer der Ausnahmezustand in Ch…
Chemnitz taz | Es ist dunkel geworden auf dem Neumarkt, als Barbara Ludwig
die Bühne betritt. Die Luft ist feucht und kalt, die Bürgermeisterin hat
ihren grauen Mantel mit Leopardenkragen zusammengezogen. Nun blickt die
SPD-Frau in die Gesichter von mehreren hundert Chemnitzern, viele von ihnen
halten Kerzen in den Händen. Gerade noch spielten Bläser, oben auf der
Empore von Ludwigs Rathaus. Nun ist es ganz still auf dem Platz, ja
andächtig.
Chemnitz feiert an diesem Dienstagabend im März sein jährliches
Friedensfest, in Gedenken an die Bombardierung der Stadt am Ende des
Zweiten Weltkriegs. Redner erinnern an die Millionen von Kriegstoten der
jüngeren Geschichte, halten Plädoyers für die EU, sprechen über Versöhnung
und Vergebung.
Dann nimmt sich Barbara Ludwig das Mikrofon. Die Bürgermeisterin spricht
über einen anderen Wunsch nach Frieden: den in ihrer Stadt. „Frieden in
dieser Stadt heißt für mich, dass wir es sind, die Frieden machen, alle
Bürger“, sagt Ludwig. Dass Menschen unterschiedlicher Einstellungen
miteinander auskämen, sich zuhörten, „mit Respekt, ohne Angst, ohne
Gewalt“. „Wir entscheiden“, schließt Ludwig, „ob es die Liebe ist, die…
antreibt, oder der Hass.“
Die Worte der Bürgermeisterin sind ein Appell, nach all dem, was in den
letzten Monaten passiert ist. Und diesmal applaudieren die Chemnitzer.
Ludwig tritt mit einem Lächeln ab. Nur eine Handvoll Polizisten begleitet
entspannt am Rande das Gedenken, es gibt keine Störungen. Es bleibt an
diesem Abend, an diesem Friedenstag, ruhig in Chemnitz. Endlich.
## Rechte dominieren Chemnitz noch immer
Aber der Frieden in Chemnitz ist brüchig. Und er wird ab Montag auf eine
neue Probe gestellt. Dann, wenn der Prozess um den Tod von Daniel H.
beginnt. Zwei Geflüchtete sollen den 35-jährigen Chemnitzer in der Nacht
des 26. August 2018 erstochen haben, nach einem Stadtfest. Es war die Tat,
die in Chemnitz alles veränderte und der Stadt Wochen des Aufruhrs
bescherte.
Rechte aus dem ganzen Bundesgebiet zogen nach dem Tod von Daniel H. durch
Chemnitz, zu Tausenden, immer wieder. Am Rande wurden Migranten
angegriffen, [1][wurde ein jüdisches Restaurant attackiert]. Der damalige
Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen bestritt, dass es Hetzjagden gab,
verstieg sich in wilde Theorien – und wurde am Ende in den Ruhestand
versetzt. Die Bundesregierung verschärfte Gesetze zu Abschiebungen. Und die
Bundesanwaltschaft hob eine mutmaßliche rechtsextreme Terrorzelle aus,
„Revolution Chemnitz“.
Wie sehr die Rechten die Stadt weiter dominieren, zeigte sich erst am
vergangenen Wochenende: Da huldigten Hooligans im Stadion des Chemnitzer FC
einem stadtbekannten, verstorbenen Neonazi, auch ein Stadionsprecher und
ein Torschütze machten mit, das Porträt des Rechten wurde auf der Videowand
eingeblendet. Wieder folgten [2][Tage der Negativschlagzeilen].
Und nun beginnt der Prozess zu der Tat, mit der im letzten Sommer der
Ausnahmezustand begann.
## Anklage mit Widersprüchen
Es ist Alaa S., der ab Montag vor Gericht steht. Ein Syrer, 23 Jahre alt,
drei Geschwister in Syrien. Im Frühjahr 2015 reiste er nach Deutschland.
Fotos zeigen ihn mit hochgegelten Haaren, posend, sportlich gekleidet.
Zuletzt arbeitete er in einem Friseursalon. Vorstrafen hat er keine.
„Gemeinschaftlichen Totschlag“ wirft ihm die Anklage vor. Ein weiterer
Tatverdächtiger, der Iraker Farhad R., ist bis heute flüchtig. Wird Alaa S.
verurteilt, drohen ihm viele Jahre Haft. Und Chemnitz könnte vielleicht
etwas abschließen.
Das aber ist längst nicht sicher. Denn die Anklage gegen Alaa S. ist nicht
ohne Widersprüche. Und Alaa S. bestreitet, etwas mit der Tat zu tun zu
haben. Seine zwei Anwälte wollen auf Freispruch verteidigen. Zwischendrin
waren es mal vier Verteidiger, die sich um den Syrer kümmerten. Weil die
Aufmerksamkeit für diesen Prozess enorm sein wird und der Druck auf das
Gericht ebenso.
Schon jetzt droht Protest. Dresden ist Pegida-Hochburg, die Bewegung
marschierte in Chemnitz mit, über Wochen skandalisierte sie den Todesfall.
Auch Martin Kohlmann, Anführer des rechtsextremen „Pro Chemnitz“, kündigt
an, dass einige Chemnitzer nach Dresden fahren werden. „Der Fall ist nicht
abgehakt“, sagt Kohlmann. „Weil keine Konsequenzen gezogen wurden.“ Gebe …
tatsächlich einen Freispruch, „würde das die Leute arg wütend machen“.
Die Verteidiger von Alaa S. hatten bereits vor Wochen beantragt, den
Prozess weder in Chemnitz noch überhaupt in Sachsen zu verhandeln. Dort sei
mit Ausschreitungen zu rechnen. Die Richter und Schöffen könnten nicht
angstfrei urteilen, auch sei nicht ausgeschlossen, dass sie selbst rechtes
Gedankengut teilten.
## Freispruch wäre schwierig für Chemnitz
Das Landgericht Chemnitz entschied darauf, [3][in Dresden zu verhandeln],
in einem Hochsicherheitssaal. Kohlmann, der Rechtsaußen, schimpft darüber:
„Man scheut den Kontakt mit der Chemnitzer Bevölkerung, die Öffentlichkeit
wird abgewürgt. Das sind Vorzeichen, wie das hier laufen soll.“
Barbara Ludwig, die Bürgermeisterin, blickt angespannt auf den Prozess. Vor
der Friedenskundgebung sitzt sie in ihrem Büro, ein fast steriler Raum, das
einzige Bild ein Plakat der Chemnitzer Rockband Kraftklub. „Ich hoffe, dass
mit dem Prozess die Umstände der Tat öffentlich werden“, sagt Ludwig. „Ich
hoffe aber noch mehr, für die Familie des Opfers, dass es eine Verurteilung
gibt, damit die Angehörigen Ruhe finden können.“ Und wenn es einen
Freispruch gibt? Ludwig schweigt einen Moment. „Dann würde es schwierig für
Chemnitz. Aber so wäre der Rechtsstaat.“
Es sind die Mutter von Daniel H. und seine Schwester, die als Nebenkläger
im Prozess sitzen werden. Daniel H. wurde in Chemnitz geboren, sein
kubanischer Vater musste noch vor dessen Geburt die DDR verlassen. Mit
seiner Herkunft habe es der 35-Jährige in Chemnitz nicht immer leicht
gehabt, erzählt ein Jugendfreund. Sanftmütig sei er gewesen, umgänglich,
stets gut gelaunt. Daniel H. wurde schließlich Tischler, arbeitete zuletzt
bei einer Hausmeisterfirma – und führte seit acht Jahren eine Beziehung mit
einer Frau, deren Sohn er mit großzog.
Daniel H.s Familie will nicht mit Medien reden. Für sie ist der Tod des
Sohns und Bruders immer noch unbegreiflich, heißt es von ihren Anwälten.
Der politischen Instrumentalisierung der Tat aber könnten sie nichts
abgewinnen. „Sie wollen nur die Wahrheit wissen, was in dieser Nacht
passierte“, sagt ein Anwalt. „Auch, damit sie irgendwie abschließen
können.“
## Tathergang immer noch unklar
Auch Daniel H.s Lebensgefährtin spricht nicht mit der Presse, auch sie
trauert. Liest man, was sie im Internet schreibt, klingt aber auch Wut mit.
Medien nennt sie eine „Schande“, die über den Tod von Daniel H.
Unwahrheiten berichteten. Politiker seien „Puppenspieler“. Sie teilt ein
Video, in dem die Messerstiche auf Daniel H. als „Staatsversagen“ angeklagt
werden. „Steht auf, aber friedlich“, schrieb sie kurz nach der Tat.
Was indes in der Nacht des 26. August geschah, ist bis heute nicht ganz
klar. Mehr als 100 Zeugen befragten die Ermittler. Aus ihrer Anklage, die
die taz einsehen konnte, ergibt sich folgendes Bild: Daniel H. hatte damals
mit Bekannten ein Stadtfest besucht. In der Nähe eines Döner-Imbisses sei
gegen 3.15 Uhr der heute flüchtige Farhad R. auf ihn zugekommen, habe ihn
nach einer „Karte“ gefragt, offenbar um damit Kokain zu schnupfen.
Auch der Iraker war schon länger an diesem Abend unterwegs – und als
aggressiv aufgefallen. Einen Mann hatte er laut Zeugen mit einem Messer
bedroht, andere als Nazis beschimpft, die er „ficken“ werde. Nun spricht
Farhad R. kurz mit Daniel H., der weist ihn ab: Er solle sich „verpissen“.
Der Iraker soll darauf mit einer Ohrfeige geantwortet, H. ihn zu Boden
geschubst haben. Beide hätten sich angeschrien.
Wegen des Gebrülls sei nun Alaa S. mit zwei Männern aus dem Döner-Laden
geeilt. Er habe mit Farhad R. gesprochen, beide seien auf Daniel H.
zugegangen, in Angriffshaltung. Daniel H. habe Alaa S. einen Faustschlag
verpasst. Darauf habe dieser den Nacken von H. umfasst und mit einem Messer
auf ihn eingestochen. Auch Farhad R. habe zugestochen. Auch H.s Bekannter
Dimitri M. wird schwer verletzt. Dann rennen Alaa S. und Farhad R. davon.
So lautet jedenfalls die Rekonstruktion der Ermittler.
## Alaa S. weist Anklage von sich
Klar ist: Daniel H. stirbt noch am Tatort. Fünf Messerstiche hatten ihn
getroffen, einer davon ins Herz, einer in die Lunge. Alaa S. wird nur zehn
Minuten nach der Tat von einer Polizeistreife festgenommen. Farhad R. ist
bis heute verschwunden. Er soll sich vier Tage nach der Tat mit seinem
Bruder aus Chemnitz abgesetzt haben, offenbar ins Ausland. Alaa S. indes
weist die Anklage von sich.
Er behauptet, er habe, nachdem er aus dem Döner-Laden gekommen sei, das
Geschehen nur aus der Ferne beobachtet. Verletzte habe er keine gesehen.
Dann habe er sich mit seinem Bekannten Yousif A. entfernt. Als die Polizei
kam, sei er aus Angst davongelaufen.
Tatsächlich gibt es nur einen Zeugen, der direkt gesehen haben will, dass
Alaa S. Messerstiche ausführte: ein Mitarbeiter des Döner-Imbisses. Der
aber beobachtete die Tat nur aus einiger Entfernung. Sprach er anfangs von
Stichbewegungen von Alaa S., sagte er später, es seien Schläge gewesen.
Auch fanden sich auf einem gefundenen Messer Blutspuren von Daniel H., aber
keine DNA von Alaa S. Der Hauptbelastungszeuge schilderte zudem, dass Alaa
S. blutverschmierte Hände gehabt habe. Zeugen, die den Syrer wegrennen
sahen, berichteten davon nichts.
## Stimmung ist aufgeladen
Dennoch sitzt Alaa S. bis heute in Haft. Die Angaben des
Hauptbelastungszeugen deckten sich mit den Stichverletzungen im Körper von
Daniel H., betonen die Ankläger. Zudem hätten auch andere Zeugen ausgesagt,
Alaa S. sei an der Auseinandersetzung mit Daniel H. beteiligt gewesen –
wenn auch sie keine Messerstiche sahen. Und Bekannte des Syrers hätten den
Hauptzeugen bedroht, seine Aussage zurückzuziehen. Alaa S. soll dagegen
überzeugt sein, freigesprochen zu werden. Er nehme die Situation gefasst,
heißt es.
Aber unter Rechten, in Chemnitz und weit darüber hinaus, ist das Urteil
längst gefallen. Im Internet veröffentlichten sie Alaa S.’ vollen Namen,
posteten Fotos von ihm. Als „Invasionsmoslem“ wird er dort bezeichnet, als
„Killer“. „So ein Arsch hat gleich vier Anwälte“, schrieb ein Nutzer
kürzlich. „Bitte holt mich ab und steckt mich mit ihm in eine Zelle.“
Die Kommentare zeigen, wie aufgeladen die Stimmung in Chemnitz weiter ist.
Zwar endeten Mitte Dezember die rechten Aufzüge, nach Monaten des
allfreitäglichen Protests mit bis zu 8.000 Teilnehmern. Nun aber zeigten
die Rechten im Stadion des Chemnitzer FC, dass sie nie weg waren. Und schon
Anfang März rief „Pro Chemnitz“ wieder zu einem Aufzug auf, rund 100
Anhänger kamen.
Zudem sind im Mai Kommunalwahlen in der Stadt, im Herbst dann
Landtagswahlen. Vieles spricht dafür, dass die Rechten davor wieder
aufdrehen. „Wir werden uns bemerkbar machen“, kündigt „Pro Chemnitz“-C…
Martin Kohlmann bereits an.
Im dritten Stock eines Backsteinhauses am Rande der Chemnitzer Innenstadt
hört man das mit Sorge. Anna Pöhl und André Löscher sitzen hier an einem
kleinen Holztisch in ihrem Büro, Mitarbeiter der sächsischen Opferberatung.
Zuletzt habe sich die Lage etwas beruhigt, sagt Löscher, raspelkurze Haare,
Tattoos. „Aber es gibt keine Entwarnung. Das Klima in der Stadt ist
vergiftet.“
## Vergiftetes Klima
Vor wenigen Tagen erst trugen Löscher und Pöhl ihre Zahlen für 2018
zusammen. 79 rechte Gewaltdelikte zählten sie, mit 114 Opfern – die
allermeisten nach dem 26. August. Im Vorjahr waren es 20 Taten. Neben dem
jüdischen Restaurant wurden ein türkisches und zwei persische attackiert.
Ein Tunesier wurde von vier Männern zusammengeschlagen, einem Iraner eine
Flasche an den Kopf geworfen, Frauen wurden Kopftücher runtergerissen. Und
bis heute sitzen die acht Männer in Haft, die sich als „Revolution
Chemnitz“ über Anschläge auf Politiker, Migranten und Linke austauschten
und bereits nach Waffen suchten.
Es seien die rechten Aufmärsche und die Debatte darum, welche die Gewalt
„salonfähig“ gemacht hätten, sagt Anna Pöhl, dunkle Zopffrisur, große
Ohrringe. „Die Enthemmung ist erschreckend. Und das Potenzial für neue
Ausschreitungen ist jederzeit da.“ Umso mehr, wenn es im Prozess gegen Alaa
S. einen Freispruch gäbe.
## Sommer 2018 hängt über allem
Auch Barbara Ludwig kennt die Zahlen der Opferberatung. „Es gibt die
Rechten und es gibt Gräben in der Stadt, das ist nicht zu leugnen“, sagt
die Bürgermeisterin. „Aber Chemnitz ist so viel mehr.“ Sind die Gräben
kleiner geworden seit dem Sommer? Ludwig hält inne. „Ich könnte das jetzt
einfach bejahen, aber so leicht ist es nicht. Fragen Sie mich in zwei
Jahren noch mal.“
Ludwig ist eine resolute Frau, eine einstige Lehrerin, modisch stets
extravagant, seit 2006 im Amt. Das vergangene Jahr war ihr schwerstes.
Chemnitz will sich eigentlich als Industriestandort profilieren, baut einen
Wissenschaftscampus auf, siedelt Start-ups an, will Europäische
Kulturhauptstadt 2025 werden. Gerade erst reiste Ludwig nach Tel Aviv, auch
um über eine Städtepartnerschaft zu reden. Aber über allem hängt nun der
letzte Sommer.
Vor zwei Wochen erst war Kanzlerin Angela Merkel da, zum zweiten Mal nach
der Messerattacke und den rechten Ausschreitungen, diesmal unangekündigt.
Ludwig ging mit ihr zum Spiel der lokalen Basketballer und in zwei der
angegriffenen Restaurants, das jüdische Schalom und das persische Safran.
Merkel versicherte, der Stadt helfen zu wollen. Und Ludwig verwies auf die
schlechte Bahnanbindung, die Kulturhauptstadtbewerbung, mögliche
Ansiedlungen von Behörden. „Es wäre wichtig, dass Worten Taten folgten“,
sagt die SPD-Frau.
## „Je mehr Gespräche, desto besser“
Es ist Ludwigs Daueraufgabe jetzt: der Versuch, das Bild von Chemnitz
wieder geradezurücken, die Gräben in der Stadt zu schließen – und irgendwie
Positives für Chemnitz herauszuholen, vielleicht auch gerade wegen der
letzten Monate.
„Die Stadt braucht einen großen Aufbruch, mal wieder“, sagt die
Bürgermeisterin. Ludwig forciert deshalb weiter die
Kulturhauptstadtbewerbung. Sie legte einen Sieben-Punkte-Plan vor: mehr
Videoüberwachung, mehr Präsenz des Ordnungsdiensts, mehr Förderung der
Universität, dem internationalen Schmelztiegel der Stadt.
Vor allem aber: mehr Bürgerbeteiligung, auch mit neuen Formaten. „Ich kann
nachvollziehen, wenn Leute eingeschliffene politische Prozesse hohl und
abstoßend finden“, sagt Ludwig. „Je mehr Gespräche, desto besser. Auch das
ist eine Lektion.“
800 Meter von Ludwigs Rathaus entfernt sitzt Martin Kohlmann im obersten
Stock eines Hauses, das nach Abbruch aussieht, in einem kleinen,
vollgestopften Büro. Er kommentiert Ludwigs Vorgehen mit einer Geste:
Blablabla. „Laberrunden, mit denen die Leute jetzt abgespeist werden. Das
Problem auf der Straße wird damit nicht gelöst.“
## Rechte Demos verlieren Zulauf
Die Innenstadt bleibe eine „No-go-Area“. Wegen des „Problempotenzials“,
wie der Rechtsextreme Geflüchtete nennt. Nur noch Sachleistungen sollten
diese bekommen, kein Geld mehr, findet Kohlmann. Dann werde kaum noch
jemand kommen, dann wäre „das meiste“ gelöst.
Kohlmann trägt in seinem Büro graue Plüschhausschuhe und weißes Hemd, für
den Besucher muss er erst einen Stuhl von Klamotten freiräumen. Auch auf
seinem Schreibtisch türmen sich Papierberge, dazwischen steht ein leeres
Bierglas. Es ist Kohlmanns Kanzlei, eigentlich arbeitet er als Anwalt.
Seit Jahren aber ist er auch rechter Redner und Stadtverordneter in
Chemnitz, erst für die „Republikaner“, dann für „Pro Chemnitz“. Auch
Letztere stuft der sächsische Verfassungsschutz seit Ende 2018 als
verfassungsfeindlich ein. Das sei ihm egal, sagt Kohlmann. „Jede anständige
Opposition wird überwacht.“
Seine Demonstrationen hätten zuletzt an Zulauf verloren, gesteht Kohlmann.
Es sei schwer, die Leute auf Dauer vom Sofa zu bekommen. Aber der
41-Jährige hat schon neue Pläne. Zuletzt stand er öfter in den Etagen unter
seinem Büro, verlegte Kabel, verputzte Wände: Kohlmann baut dort ein
„Bürgerbüro“ auf. Noch ist alles Baustelle.
## Die scheinbar einfachen Antworten
Aber ein fester Anlaufpunkt für seine Anhängerschaft soll es werden. Und
noch etwas hat Kohlmann vor: Bald werde „Pro Chemnitz“ mit „Bürgerstreif…
durch die Stadt ziehen, mit Westen und Bodycams. Dann wollen die
Rechtsextremen selbst für Ordnung sorgen.
Kohlmann ist jetzt eines der größten Probleme von Bürgermeisterin Ludwig.
Solange er keine Ruhe gibt, wird auch Chemnitz nicht zur Ruhe kommen. Als
„einen der kaltschnäuzigsten, gefährlichsten Rechtsradikalen dieser
Republik“, bezeichnet Ludwig den „Pro Chemnitz“-Chef. „Er hat die schei…
einfachen Antworten.“ Es sei nun an den Chemnitzern, zu entscheiden, ob sie
sich weiter von den Rechtsextremen instrumentalisieren ließen. „Oder ob sie
für das andere Chemnitz einstehen.“
Kohlmann indes lässt keinen Zweifel, dass er keine Ruhe geben will – und
den Ausnahmezustand für sich nutzen. 5,6 Prozent holte „Pro Chemnitz“ bei
der letzten Kommunalwahl. Nach all dem, was passiert sei, sollte seine
Partei bei der Wahl im Mai nun „zweistellig“ werden, sagt Kohlmann. Die
Ereignisse und die „Medienhetze“ hätte das Vertrauen in den Staat
kaputtgemacht. „Eine gute Konsequenz“, sagt der Rechtsextremist. „Der
Institution Staat sollte man grundsätzlich misstrauen.“
Die Opferberater André Löscher und Anna Pöhl sehen Kohlmanns Pläne dagegen
mit „sehr großer Besorgnis“. „Das birgt die Gefahr, dass sich alles wied…
hochschaukelt“, sagt Pöhl. „Es ist absehbar, dass es aus der Bürgerwehr
heraus rassistische Bedrohungen geben wird.“
## Haftbefehl politisch gewollt?
Auch Bürgermeisterin Ludwig will die neuen Provokationen nicht einfach so
geschehen lassen. Für Kohlmanns Bürgerbüro sei noch keine entsprechende
Nutzung beantragt. „Wir werden da ein sehr genaues Auge drauf haben“, sagt
die SPD-Frau. Gleiches gelte für die Bürgerwehren. „Die sollen in Wahrheit
destabilisieren, den Rechtsstaat unterlaufen und Machtfantasien aufleben
lassen.“
Wohin die aufgewühlte Stimmung in Chemnitz führt, das zeigt auch der Fall
Yousif A. Auch der Iraker war in der Nacht des 26. August in Tatortnähe,
rannte damals mit Alaa S. weg, wurde festgenommen. Auch sein voller Name
und seine Adresse wurden im Internet veröffentlicht, ebenso sein
Haftbefehl, den ein Justizwachtmeister an die rechte Szene durchgestochen
hatte. Drei Wochen saß Yousif A. in Haft.
Obwohl der Hauptzeuge den Ermittlern sagte, Yousif A. habe nichts gemacht,
und auch Alaa S. angab, der Iraker habe nur geschlichtet. Auch andere
Zeugen schrieben ihm keine Messerstiche zu, keine DNA-Spuren führten zu
ihm. [4][Schließlich wurde der Iraker freigelassen], die Ermittlungen
wurden eingestellt.
„Nichts lag gegen ihn vor, gar nichts“, schimpft noch heute dessen Anwalt
Ulrich Dost-Roxin. „Der Haftbefehl war politisch gewollt, um Ruhe in die
Stadt zu kriegen.“ Vor wenigen Tagen stellte Yousif A. nun Anzeige wegen
Rechtsbeugung und Freiheitsberaubung gegen den Staatsanwalt und den
Richter, der den Haftbefehl genehmigte. „Das darf nicht folgenlos bleiben“,
sagt Anwalt Dost-Roxin. Yousif A. lebt derweil an einem geheimen Ort,
geschützt von der Polizei.
Politischer Druck auf das Gericht? Bürgermeisterin Ludwig bestreitet das.
„Die Justiz ist unabhängig. Und sie ist jetzt genau der Ort, wo
Strafverfolgung stattfinden muss. Dort, nicht auf der Straße.“ Aber: Selbst
das Gericht spricht von einem „außerordentlich großen Interesse der
Öffentlichkeit“ an dem Prozess. Waren zunächst bis Ende Mai Termine
angesetzt, sind diese nun bereits bis Oktober verlängert. Stünde am Ende
tatsächlich ein Freispruch, gäbe es nur zwei Gewinner. Den Rechtsstaat. Und
Martin Kohlmann, der das wohl wieder als Futter für seine Hetze nehmen
würde.
Sonst aber gäbe es nur Verlierer. Der Tod von Daniel H. bliebe
unaufgeklärt. Ein Unschuldiger saß fast sieben Monate in Haft. Und Chemnitz
käme wieder nicht zur Ruhe.
17 Mar 2019
## LINKS
[1] /Anschlaege-in-Sachsen/!5543459
[2] /Nazi-Thomas-Haller-beim-Chemnitzer-FC/!5578087
[3] /Verfahren-wegen-Toetung-von-Daniel-H/!5574493
[4] /Toetungsdelikt-in-Chemnitz/!5536938
## AUTOREN
Konrad Litschko
## TAGS
Chemnitz
Rechtsextremismus
Sachsen
Lesestück Recherche und Reportage
Chemnitz
Schwerpunkt Rechter Terror
Chemnitz
Schwerpunkt Rechter Terror
Chemnitz
Chemnitz
Chemnitz
Chemnitz
Fußball
Schwerpunkt AfD
Antisemitismus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Rückzug von Chemnitzer Bürgermeisterin: Am Ende ein Schatten
Seit 13 Jahren regiert Barbara Ludwig in Chemnitz. Die rechten Unruhen
wurden ihre größte Herausforderung. Nun zieht sie sich zurück.
Rechtsextreme Anschläge geplant: Neonazi-Gruppe angeklagt
Acht Neonazis wollten als „Revolution Chemnitz“ wohl einen „Systemwechsel…
herbeiführen. Nun erhebt die Bundesanwaltschaft Anklage gegen sie.
Prozess um Messerattacke in Chemnitz: Zeuge gegen Staatsanwalt
Neue Wendung im Chemnitz-Prozess: Ein Zeuge will den Staatsanwalt
auswechseln lassen. Der Iraker saß zuvor ohne triftige Beweise in Haft.
Prozess gegen Neonazi: Vermummt in Chemnitz
Die Neonazi-Gruppe „Revolution Chemnitz“ soll Anschläge geplant haben. Ihr
mutmaßlicher Rädelsführer stand jetzt vor Gericht.
Chemnitz-Prozess auf der Kippe: Zentraler Zeuge verweigert Aussage
Im Prozess zur tödlichen Messerattacke in Chemnitz hält die Anwältin des
Angeklagten einen Freispruch für unausweichlich.
Tödliche Messerstiche in Chemnitz: Stadtfest soll 2019 nicht stattfinden
Im August wurde Daniel H. in Chemnitz am Rande des Stadtfests erstochen.
Dieses Jahr soll die Veranstaltung ausfallen, auch aus Imagegründen.
Prozessauftakt in Chemnitz: Freispruch nicht ausgeschlossen
Wer hat Daniel H. erstochen? Noch bevor der Prozess gegen den Angeklagten
am Montag losging, gibt es Fragen zur Gesinnung der Richter.
Kommentar Beisetzung in Chemnitz: Fußballfan und Nazi
In Chemnitz wird der Neonazi Thomas Haller beerdigt. Wer die Veranstaltung
als „privat“ bezeichnet, muss auf dem rechten Auge total blind sein.
Nazi Thomas Haller beim Chemnitzer FC: Mann fürs Grobe mit NSU-Kontakten
Das Gedenken an einen Neonazi im Chemnitzer Stadion sorgt immer noch für
Aufsehen. Doch wer war Thomas Haller?
Politischer Aschermittwoch von Pegida: Rechte Hetzer sind zerstritten
Ein von Pegida geplantes Plattformtreffen im sächsischen Nentmannsdorf wird
zur Poggenburg-Show. Die rechte Vernetzung scheiterte.
Statistik zu antisemitischen Straftaten: Erneut mehr Fälle in Sachsen
Seit Jahren zeichnet sich ein Anstieg antisemitischer Straftaten in Sachsen
ab. 2018 gab es 138 Fälle. Schwerpunkte waren Leipzig, Dresden und
Chemnitz.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.