# taz.de -- Prozess um Messerstiche gegen Daniel H.: Brüchiger Frieden in Chem… | |
> Der Prozess um den tödlichen Angriff auf Daniel H. könnte Chemnitz wieder | |
> aufwühlen. Ein Freispruch ist nicht ausgeschlossen. | |
Bild: Mit dem Tod von Daniel H. begann letzten Sommer der Ausnahmezustand in Ch… | |
Chemnitz taz | Es ist dunkel geworden auf dem Neumarkt, als Barbara Ludwig | |
die Bühne betritt. Die Luft ist feucht und kalt, die Bürgermeisterin hat | |
ihren grauen Mantel mit Leopardenkragen zusammengezogen. Nun blickt die | |
SPD-Frau in die Gesichter von mehreren hundert Chemnitzern, viele von ihnen | |
halten Kerzen in den Händen. Gerade noch spielten Bläser, oben auf der | |
Empore von Ludwigs Rathaus. Nun ist es ganz still auf dem Platz, ja | |
andächtig. | |
Chemnitz feiert an diesem Dienstagabend im März sein jährliches | |
Friedensfest, in Gedenken an die Bombardierung der Stadt am Ende des | |
Zweiten Weltkriegs. Redner erinnern an die Millionen von Kriegstoten der | |
jüngeren Geschichte, halten Plädoyers für die EU, sprechen über Versöhnung | |
und Vergebung. | |
Dann nimmt sich Barbara Ludwig das Mikrofon. Die Bürgermeisterin spricht | |
über einen anderen Wunsch nach Frieden: den in ihrer Stadt. „Frieden in | |
dieser Stadt heißt für mich, dass wir es sind, die Frieden machen, alle | |
Bürger“, sagt Ludwig. Dass Menschen unterschiedlicher Einstellungen | |
miteinander auskämen, sich zuhörten, „mit Respekt, ohne Angst, ohne | |
Gewalt“. „Wir entscheiden“, schließt Ludwig, „ob es die Liebe ist, die… | |
antreibt, oder der Hass.“ | |
Die Worte der Bürgermeisterin sind ein Appell, nach all dem, was in den | |
letzten Monaten passiert ist. Und diesmal applaudieren die Chemnitzer. | |
Ludwig tritt mit einem Lächeln ab. Nur eine Handvoll Polizisten begleitet | |
entspannt am Rande das Gedenken, es gibt keine Störungen. Es bleibt an | |
diesem Abend, an diesem Friedenstag, ruhig in Chemnitz. Endlich. | |
## Rechte dominieren Chemnitz noch immer | |
Aber der Frieden in Chemnitz ist brüchig. Und er wird ab Montag auf eine | |
neue Probe gestellt. Dann, wenn der Prozess um den Tod von Daniel H. | |
beginnt. Zwei Geflüchtete sollen den 35-jährigen Chemnitzer in der Nacht | |
des 26. August 2018 erstochen haben, nach einem Stadtfest. Es war die Tat, | |
die in Chemnitz alles veränderte und der Stadt Wochen des Aufruhrs | |
bescherte. | |
Rechte aus dem ganzen Bundesgebiet zogen nach dem Tod von Daniel H. durch | |
Chemnitz, zu Tausenden, immer wieder. Am Rande wurden Migranten | |
angegriffen, [1][wurde ein jüdisches Restaurant attackiert]. Der damalige | |
Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen bestritt, dass es Hetzjagden gab, | |
verstieg sich in wilde Theorien – und wurde am Ende in den Ruhestand | |
versetzt. Die Bundesregierung verschärfte Gesetze zu Abschiebungen. Und die | |
Bundesanwaltschaft hob eine mutmaßliche rechtsextreme Terrorzelle aus, | |
„Revolution Chemnitz“. | |
Wie sehr die Rechten die Stadt weiter dominieren, zeigte sich erst am | |
vergangenen Wochenende: Da huldigten Hooligans im Stadion des Chemnitzer FC | |
einem stadtbekannten, verstorbenen Neonazi, auch ein Stadionsprecher und | |
ein Torschütze machten mit, das Porträt des Rechten wurde auf der Videowand | |
eingeblendet. Wieder folgten [2][Tage der Negativschlagzeilen]. | |
Und nun beginnt der Prozess zu der Tat, mit der im letzten Sommer der | |
Ausnahmezustand begann. | |
## Anklage mit Widersprüchen | |
Es ist Alaa S., der ab Montag vor Gericht steht. Ein Syrer, 23 Jahre alt, | |
drei Geschwister in Syrien. Im Frühjahr 2015 reiste er nach Deutschland. | |
Fotos zeigen ihn mit hochgegelten Haaren, posend, sportlich gekleidet. | |
Zuletzt arbeitete er in einem Friseursalon. Vorstrafen hat er keine. | |
„Gemeinschaftlichen Totschlag“ wirft ihm die Anklage vor. Ein weiterer | |
Tatverdächtiger, der Iraker Farhad R., ist bis heute flüchtig. Wird Alaa S. | |
verurteilt, drohen ihm viele Jahre Haft. Und Chemnitz könnte vielleicht | |
etwas abschließen. | |
Das aber ist längst nicht sicher. Denn die Anklage gegen Alaa S. ist nicht | |
ohne Widersprüche. Und Alaa S. bestreitet, etwas mit der Tat zu tun zu | |
haben. Seine zwei Anwälte wollen auf Freispruch verteidigen. Zwischendrin | |
waren es mal vier Verteidiger, die sich um den Syrer kümmerten. Weil die | |
Aufmerksamkeit für diesen Prozess enorm sein wird und der Druck auf das | |
Gericht ebenso. | |
Schon jetzt droht Protest. Dresden ist Pegida-Hochburg, die Bewegung | |
marschierte in Chemnitz mit, über Wochen skandalisierte sie den Todesfall. | |
Auch Martin Kohlmann, Anführer des rechtsextremen „Pro Chemnitz“, kündigt | |
an, dass einige Chemnitzer nach Dresden fahren werden. „Der Fall ist nicht | |
abgehakt“, sagt Kohlmann. „Weil keine Konsequenzen gezogen wurden.“ Gebe … | |
tatsächlich einen Freispruch, „würde das die Leute arg wütend machen“. | |
Die Verteidiger von Alaa S. hatten bereits vor Wochen beantragt, den | |
Prozess weder in Chemnitz noch überhaupt in Sachsen zu verhandeln. Dort sei | |
mit Ausschreitungen zu rechnen. Die Richter und Schöffen könnten nicht | |
angstfrei urteilen, auch sei nicht ausgeschlossen, dass sie selbst rechtes | |
Gedankengut teilten. | |
## Freispruch wäre schwierig für Chemnitz | |
Das Landgericht Chemnitz entschied darauf, [3][in Dresden zu verhandeln], | |
in einem Hochsicherheitssaal. Kohlmann, der Rechtsaußen, schimpft darüber: | |
„Man scheut den Kontakt mit der Chemnitzer Bevölkerung, die Öffentlichkeit | |
wird abgewürgt. Das sind Vorzeichen, wie das hier laufen soll.“ | |
Barbara Ludwig, die Bürgermeisterin, blickt angespannt auf den Prozess. Vor | |
der Friedenskundgebung sitzt sie in ihrem Büro, ein fast steriler Raum, das | |
einzige Bild ein Plakat der Chemnitzer Rockband Kraftklub. „Ich hoffe, dass | |
mit dem Prozess die Umstände der Tat öffentlich werden“, sagt Ludwig. „Ich | |
hoffe aber noch mehr, für die Familie des Opfers, dass es eine Verurteilung | |
gibt, damit die Angehörigen Ruhe finden können.“ Und wenn es einen | |
Freispruch gibt? Ludwig schweigt einen Moment. „Dann würde es schwierig für | |
Chemnitz. Aber so wäre der Rechtsstaat.“ | |
Es sind die Mutter von Daniel H. und seine Schwester, die als Nebenkläger | |
im Prozess sitzen werden. Daniel H. wurde in Chemnitz geboren, sein | |
kubanischer Vater musste noch vor dessen Geburt die DDR verlassen. Mit | |
seiner Herkunft habe es der 35-Jährige in Chemnitz nicht immer leicht | |
gehabt, erzählt ein Jugendfreund. Sanftmütig sei er gewesen, umgänglich, | |
stets gut gelaunt. Daniel H. wurde schließlich Tischler, arbeitete zuletzt | |
bei einer Hausmeisterfirma – und führte seit acht Jahren eine Beziehung mit | |
einer Frau, deren Sohn er mit großzog. | |
Daniel H.s Familie will nicht mit Medien reden. Für sie ist der Tod des | |
Sohns und Bruders immer noch unbegreiflich, heißt es von ihren Anwälten. | |
Der politischen Instrumentalisierung der Tat aber könnten sie nichts | |
abgewinnen. „Sie wollen nur die Wahrheit wissen, was in dieser Nacht | |
passierte“, sagt ein Anwalt. „Auch, damit sie irgendwie abschließen | |
können.“ | |
## Tathergang immer noch unklar | |
Auch Daniel H.s Lebensgefährtin spricht nicht mit der Presse, auch sie | |
trauert. Liest man, was sie im Internet schreibt, klingt aber auch Wut mit. | |
Medien nennt sie eine „Schande“, die über den Tod von Daniel H. | |
Unwahrheiten berichteten. Politiker seien „Puppenspieler“. Sie teilt ein | |
Video, in dem die Messerstiche auf Daniel H. als „Staatsversagen“ angeklagt | |
werden. „Steht auf, aber friedlich“, schrieb sie kurz nach der Tat. | |
Was indes in der Nacht des 26. August geschah, ist bis heute nicht ganz | |
klar. Mehr als 100 Zeugen befragten die Ermittler. Aus ihrer Anklage, die | |
die taz einsehen konnte, ergibt sich folgendes Bild: Daniel H. hatte damals | |
mit Bekannten ein Stadtfest besucht. In der Nähe eines Döner-Imbisses sei | |
gegen 3.15 Uhr der heute flüchtige Farhad R. auf ihn zugekommen, habe ihn | |
nach einer „Karte“ gefragt, offenbar um damit Kokain zu schnupfen. | |
Auch der Iraker war schon länger an diesem Abend unterwegs – und als | |
aggressiv aufgefallen. Einen Mann hatte er laut Zeugen mit einem Messer | |
bedroht, andere als Nazis beschimpft, die er „ficken“ werde. Nun spricht | |
Farhad R. kurz mit Daniel H., der weist ihn ab: Er solle sich „verpissen“. | |
Der Iraker soll darauf mit einer Ohrfeige geantwortet, H. ihn zu Boden | |
geschubst haben. Beide hätten sich angeschrien. | |
Wegen des Gebrülls sei nun Alaa S. mit zwei Männern aus dem Döner-Laden | |
geeilt. Er habe mit Farhad R. gesprochen, beide seien auf Daniel H. | |
zugegangen, in Angriffshaltung. Daniel H. habe Alaa S. einen Faustschlag | |
verpasst. Darauf habe dieser den Nacken von H. umfasst und mit einem Messer | |
auf ihn eingestochen. Auch Farhad R. habe zugestochen. Auch H.s Bekannter | |
Dimitri M. wird schwer verletzt. Dann rennen Alaa S. und Farhad R. davon. | |
So lautet jedenfalls die Rekonstruktion der Ermittler. | |
## Alaa S. weist Anklage von sich | |
Klar ist: Daniel H. stirbt noch am Tatort. Fünf Messerstiche hatten ihn | |
getroffen, einer davon ins Herz, einer in die Lunge. Alaa S. wird nur zehn | |
Minuten nach der Tat von einer Polizeistreife festgenommen. Farhad R. ist | |
bis heute verschwunden. Er soll sich vier Tage nach der Tat mit seinem | |
Bruder aus Chemnitz abgesetzt haben, offenbar ins Ausland. Alaa S. indes | |
weist die Anklage von sich. | |
Er behauptet, er habe, nachdem er aus dem Döner-Laden gekommen sei, das | |
Geschehen nur aus der Ferne beobachtet. Verletzte habe er keine gesehen. | |
Dann habe er sich mit seinem Bekannten Yousif A. entfernt. Als die Polizei | |
kam, sei er aus Angst davongelaufen. | |
Tatsächlich gibt es nur einen Zeugen, der direkt gesehen haben will, dass | |
Alaa S. Messerstiche ausführte: ein Mitarbeiter des Döner-Imbisses. Der | |
aber beobachtete die Tat nur aus einiger Entfernung. Sprach er anfangs von | |
Stichbewegungen von Alaa S., sagte er später, es seien Schläge gewesen. | |
Auch fanden sich auf einem gefundenen Messer Blutspuren von Daniel H., aber | |
keine DNA von Alaa S. Der Hauptbelastungszeuge schilderte zudem, dass Alaa | |
S. blutverschmierte Hände gehabt habe. Zeugen, die den Syrer wegrennen | |
sahen, berichteten davon nichts. | |
## Stimmung ist aufgeladen | |
Dennoch sitzt Alaa S. bis heute in Haft. Die Angaben des | |
Hauptbelastungszeugen deckten sich mit den Stichverletzungen im Körper von | |
Daniel H., betonen die Ankläger. Zudem hätten auch andere Zeugen ausgesagt, | |
Alaa S. sei an der Auseinandersetzung mit Daniel H. beteiligt gewesen – | |
wenn auch sie keine Messerstiche sahen. Und Bekannte des Syrers hätten den | |
Hauptzeugen bedroht, seine Aussage zurückzuziehen. Alaa S. soll dagegen | |
überzeugt sein, freigesprochen zu werden. Er nehme die Situation gefasst, | |
heißt es. | |
Aber unter Rechten, in Chemnitz und weit darüber hinaus, ist das Urteil | |
längst gefallen. Im Internet veröffentlichten sie Alaa S.’ vollen Namen, | |
posteten Fotos von ihm. Als „Invasionsmoslem“ wird er dort bezeichnet, als | |
„Killer“. „So ein Arsch hat gleich vier Anwälte“, schrieb ein Nutzer | |
kürzlich. „Bitte holt mich ab und steckt mich mit ihm in eine Zelle.“ | |
Die Kommentare zeigen, wie aufgeladen die Stimmung in Chemnitz weiter ist. | |
Zwar endeten Mitte Dezember die rechten Aufzüge, nach Monaten des | |
allfreitäglichen Protests mit bis zu 8.000 Teilnehmern. Nun aber zeigten | |
die Rechten im Stadion des Chemnitzer FC, dass sie nie weg waren. Und schon | |
Anfang März rief „Pro Chemnitz“ wieder zu einem Aufzug auf, rund 100 | |
Anhänger kamen. | |
Zudem sind im Mai Kommunalwahlen in der Stadt, im Herbst dann | |
Landtagswahlen. Vieles spricht dafür, dass die Rechten davor wieder | |
aufdrehen. „Wir werden uns bemerkbar machen“, kündigt „Pro Chemnitz“-C… | |
Martin Kohlmann bereits an. | |
Im dritten Stock eines Backsteinhauses am Rande der Chemnitzer Innenstadt | |
hört man das mit Sorge. Anna Pöhl und André Löscher sitzen hier an einem | |
kleinen Holztisch in ihrem Büro, Mitarbeiter der sächsischen Opferberatung. | |
Zuletzt habe sich die Lage etwas beruhigt, sagt Löscher, raspelkurze Haare, | |
Tattoos. „Aber es gibt keine Entwarnung. Das Klima in der Stadt ist | |
vergiftet.“ | |
## Vergiftetes Klima | |
Vor wenigen Tagen erst trugen Löscher und Pöhl ihre Zahlen für 2018 | |
zusammen. 79 rechte Gewaltdelikte zählten sie, mit 114 Opfern – die | |
allermeisten nach dem 26. August. Im Vorjahr waren es 20 Taten. Neben dem | |
jüdischen Restaurant wurden ein türkisches und zwei persische attackiert. | |
Ein Tunesier wurde von vier Männern zusammengeschlagen, einem Iraner eine | |
Flasche an den Kopf geworfen, Frauen wurden Kopftücher runtergerissen. Und | |
bis heute sitzen die acht Männer in Haft, die sich als „Revolution | |
Chemnitz“ über Anschläge auf Politiker, Migranten und Linke austauschten | |
und bereits nach Waffen suchten. | |
Es seien die rechten Aufmärsche und die Debatte darum, welche die Gewalt | |
„salonfähig“ gemacht hätten, sagt Anna Pöhl, dunkle Zopffrisur, große | |
Ohrringe. „Die Enthemmung ist erschreckend. Und das Potenzial für neue | |
Ausschreitungen ist jederzeit da.“ Umso mehr, wenn es im Prozess gegen Alaa | |
S. einen Freispruch gäbe. | |
## Sommer 2018 hängt über allem | |
Auch Barbara Ludwig kennt die Zahlen der Opferberatung. „Es gibt die | |
Rechten und es gibt Gräben in der Stadt, das ist nicht zu leugnen“, sagt | |
die Bürgermeisterin. „Aber Chemnitz ist so viel mehr.“ Sind die Gräben | |
kleiner geworden seit dem Sommer? Ludwig hält inne. „Ich könnte das jetzt | |
einfach bejahen, aber so leicht ist es nicht. Fragen Sie mich in zwei | |
Jahren noch mal.“ | |
Ludwig ist eine resolute Frau, eine einstige Lehrerin, modisch stets | |
extravagant, seit 2006 im Amt. Das vergangene Jahr war ihr schwerstes. | |
Chemnitz will sich eigentlich als Industriestandort profilieren, baut einen | |
Wissenschaftscampus auf, siedelt Start-ups an, will Europäische | |
Kulturhauptstadt 2025 werden. Gerade erst reiste Ludwig nach Tel Aviv, auch | |
um über eine Städtepartnerschaft zu reden. Aber über allem hängt nun der | |
letzte Sommer. | |
Vor zwei Wochen erst war Kanzlerin Angela Merkel da, zum zweiten Mal nach | |
der Messerattacke und den rechten Ausschreitungen, diesmal unangekündigt. | |
Ludwig ging mit ihr zum Spiel der lokalen Basketballer und in zwei der | |
angegriffenen Restaurants, das jüdische Schalom und das persische Safran. | |
Merkel versicherte, der Stadt helfen zu wollen. Und Ludwig verwies auf die | |
schlechte Bahnanbindung, die Kulturhauptstadtbewerbung, mögliche | |
Ansiedlungen von Behörden. „Es wäre wichtig, dass Worten Taten folgten“, | |
sagt die SPD-Frau. | |
## „Je mehr Gespräche, desto besser“ | |
Es ist Ludwigs Daueraufgabe jetzt: der Versuch, das Bild von Chemnitz | |
wieder geradezurücken, die Gräben in der Stadt zu schließen – und irgendwie | |
Positives für Chemnitz herauszuholen, vielleicht auch gerade wegen der | |
letzten Monate. | |
„Die Stadt braucht einen großen Aufbruch, mal wieder“, sagt die | |
Bürgermeisterin. Ludwig forciert deshalb weiter die | |
Kulturhauptstadtbewerbung. Sie legte einen Sieben-Punkte-Plan vor: mehr | |
Videoüberwachung, mehr Präsenz des Ordnungsdiensts, mehr Förderung der | |
Universität, dem internationalen Schmelztiegel der Stadt. | |
Vor allem aber: mehr Bürgerbeteiligung, auch mit neuen Formaten. „Ich kann | |
nachvollziehen, wenn Leute eingeschliffene politische Prozesse hohl und | |
abstoßend finden“, sagt Ludwig. „Je mehr Gespräche, desto besser. Auch das | |
ist eine Lektion.“ | |
800 Meter von Ludwigs Rathaus entfernt sitzt Martin Kohlmann im obersten | |
Stock eines Hauses, das nach Abbruch aussieht, in einem kleinen, | |
vollgestopften Büro. Er kommentiert Ludwigs Vorgehen mit einer Geste: | |
Blablabla. „Laberrunden, mit denen die Leute jetzt abgespeist werden. Das | |
Problem auf der Straße wird damit nicht gelöst.“ | |
## Rechte Demos verlieren Zulauf | |
Die Innenstadt bleibe eine „No-go-Area“. Wegen des „Problempotenzials“, | |
wie der Rechtsextreme Geflüchtete nennt. Nur noch Sachleistungen sollten | |
diese bekommen, kein Geld mehr, findet Kohlmann. Dann werde kaum noch | |
jemand kommen, dann wäre „das meiste“ gelöst. | |
Kohlmann trägt in seinem Büro graue Plüschhausschuhe und weißes Hemd, für | |
den Besucher muss er erst einen Stuhl von Klamotten freiräumen. Auch auf | |
seinem Schreibtisch türmen sich Papierberge, dazwischen steht ein leeres | |
Bierglas. Es ist Kohlmanns Kanzlei, eigentlich arbeitet er als Anwalt. | |
Seit Jahren aber ist er auch rechter Redner und Stadtverordneter in | |
Chemnitz, erst für die „Republikaner“, dann für „Pro Chemnitz“. Auch | |
Letztere stuft der sächsische Verfassungsschutz seit Ende 2018 als | |
verfassungsfeindlich ein. Das sei ihm egal, sagt Kohlmann. „Jede anständige | |
Opposition wird überwacht.“ | |
Seine Demonstrationen hätten zuletzt an Zulauf verloren, gesteht Kohlmann. | |
Es sei schwer, die Leute auf Dauer vom Sofa zu bekommen. Aber der | |
41-Jährige hat schon neue Pläne. Zuletzt stand er öfter in den Etagen unter | |
seinem Büro, verlegte Kabel, verputzte Wände: Kohlmann baut dort ein | |
„Bürgerbüro“ auf. Noch ist alles Baustelle. | |
## Die scheinbar einfachen Antworten | |
Aber ein fester Anlaufpunkt für seine Anhängerschaft soll es werden. Und | |
noch etwas hat Kohlmann vor: Bald werde „Pro Chemnitz“ mit „Bürgerstreif… | |
durch die Stadt ziehen, mit Westen und Bodycams. Dann wollen die | |
Rechtsextremen selbst für Ordnung sorgen. | |
Kohlmann ist jetzt eines der größten Probleme von Bürgermeisterin Ludwig. | |
Solange er keine Ruhe gibt, wird auch Chemnitz nicht zur Ruhe kommen. Als | |
„einen der kaltschnäuzigsten, gefährlichsten Rechtsradikalen dieser | |
Republik“, bezeichnet Ludwig den „Pro Chemnitz“-Chef. „Er hat die schei… | |
einfachen Antworten.“ Es sei nun an den Chemnitzern, zu entscheiden, ob sie | |
sich weiter von den Rechtsextremen instrumentalisieren ließen. „Oder ob sie | |
für das andere Chemnitz einstehen.“ | |
Kohlmann indes lässt keinen Zweifel, dass er keine Ruhe geben will – und | |
den Ausnahmezustand für sich nutzen. 5,6 Prozent holte „Pro Chemnitz“ bei | |
der letzten Kommunalwahl. Nach all dem, was passiert sei, sollte seine | |
Partei bei der Wahl im Mai nun „zweistellig“ werden, sagt Kohlmann. Die | |
Ereignisse und die „Medienhetze“ hätte das Vertrauen in den Staat | |
kaputtgemacht. „Eine gute Konsequenz“, sagt der Rechtsextremist. „Der | |
Institution Staat sollte man grundsätzlich misstrauen.“ | |
Die Opferberater André Löscher und Anna Pöhl sehen Kohlmanns Pläne dagegen | |
mit „sehr großer Besorgnis“. „Das birgt die Gefahr, dass sich alles wied… | |
hochschaukelt“, sagt Pöhl. „Es ist absehbar, dass es aus der Bürgerwehr | |
heraus rassistische Bedrohungen geben wird.“ | |
## Haftbefehl politisch gewollt? | |
Auch Bürgermeisterin Ludwig will die neuen Provokationen nicht einfach so | |
geschehen lassen. Für Kohlmanns Bürgerbüro sei noch keine entsprechende | |
Nutzung beantragt. „Wir werden da ein sehr genaues Auge drauf haben“, sagt | |
die SPD-Frau. Gleiches gelte für die Bürgerwehren. „Die sollen in Wahrheit | |
destabilisieren, den Rechtsstaat unterlaufen und Machtfantasien aufleben | |
lassen.“ | |
Wohin die aufgewühlte Stimmung in Chemnitz führt, das zeigt auch der Fall | |
Yousif A. Auch der Iraker war in der Nacht des 26. August in Tatortnähe, | |
rannte damals mit Alaa S. weg, wurde festgenommen. Auch sein voller Name | |
und seine Adresse wurden im Internet veröffentlicht, ebenso sein | |
Haftbefehl, den ein Justizwachtmeister an die rechte Szene durchgestochen | |
hatte. Drei Wochen saß Yousif A. in Haft. | |
Obwohl der Hauptzeuge den Ermittlern sagte, Yousif A. habe nichts gemacht, | |
und auch Alaa S. angab, der Iraker habe nur geschlichtet. Auch andere | |
Zeugen schrieben ihm keine Messerstiche zu, keine DNA-Spuren führten zu | |
ihm. [4][Schließlich wurde der Iraker freigelassen], die Ermittlungen | |
wurden eingestellt. | |
„Nichts lag gegen ihn vor, gar nichts“, schimpft noch heute dessen Anwalt | |
Ulrich Dost-Roxin. „Der Haftbefehl war politisch gewollt, um Ruhe in die | |
Stadt zu kriegen.“ Vor wenigen Tagen stellte Yousif A. nun Anzeige wegen | |
Rechtsbeugung und Freiheitsberaubung gegen den Staatsanwalt und den | |
Richter, der den Haftbefehl genehmigte. „Das darf nicht folgenlos bleiben“, | |
sagt Anwalt Dost-Roxin. Yousif A. lebt derweil an einem geheimen Ort, | |
geschützt von der Polizei. | |
Politischer Druck auf das Gericht? Bürgermeisterin Ludwig bestreitet das. | |
„Die Justiz ist unabhängig. Und sie ist jetzt genau der Ort, wo | |
Strafverfolgung stattfinden muss. Dort, nicht auf der Straße.“ Aber: Selbst | |
das Gericht spricht von einem „außerordentlich großen Interesse der | |
Öffentlichkeit“ an dem Prozess. Waren zunächst bis Ende Mai Termine | |
angesetzt, sind diese nun bereits bis Oktober verlängert. Stünde am Ende | |
tatsächlich ein Freispruch, gäbe es nur zwei Gewinner. Den Rechtsstaat. Und | |
Martin Kohlmann, der das wohl wieder als Futter für seine Hetze nehmen | |
würde. | |
Sonst aber gäbe es nur Verlierer. Der Tod von Daniel H. bliebe | |
unaufgeklärt. Ein Unschuldiger saß fast sieben Monate in Haft. Und Chemnitz | |
käme wieder nicht zur Ruhe. | |
17 Mar 2019 | |
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Konrad Litschko | |
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