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# taz.de -- Prozessauftakt in Chemnitz: Freispruch nicht ausgeschlossen
> Wer hat Daniel H. erstochen? Noch bevor der Prozess gegen den Angeklagten
> am Montag losging, gibt es Fragen zur Gesinnung der Richter.
Bild: Plädiert auf unschuldig: Der Syrer Alaa S. soll im August 2018 Daniel H.…
Dresden taz | Alaa S. trägt weißes Hemd und Jackett, die Haare akkurat
gegelt und gescheitelt, als er in den Saal des Oberlandesgerichts Dresden
tritt. Und er trägt Handschellen. Der Gesichtsausdruck des 23jährigen ist
angespannt und regungslos, als sich die Kameras auf ihn stürzen, als die
Zuschauer hinter der Glaswand auf ihn starren. Aus Sicherheitsgründen war
der [1][Prozess eigens von Chemnitz nach Dresden] verlegt worden, in einen
Hochsicherheitssaal.
Für die Ankläger ist Alaa S. derjenige, der am 26. August 2018 in Chemnitz
mit einem Mittäter den 35-jährigen Daniel H. erstach. Es war die Tat, die
der sächsischen Stadt wochenlange rechte Aufzüge bescherte, Übergriffe auf
Migranten und eine bundesweite Debatte, die Verfassungsschutzchef
Hans-Georg Maaßen sein Amt kosteten.
Aber ist mit Alaa S. wirklich der Richtige angeklagt? Es gibt Fragezeichen.
Alaa S. sagt zu den Vorwürfen an diesem Tag nichts. Nur zu seinen
Personalien äußert sich der Geflüchtete, der im Frühjahr 2015 nach
Deutschland kam. In Syrien sei er geboren, 23 Jahre alt, gelernter Frisör.
Dann lässt er seine zwei Anwälte sprechen.
## Druck auf das Gericht
Und die schalten auf Offensive. Noch vor der Anklageverlesung fordern sie
Erklärungen von den Richtern und Schöffen, wo diese politisch stehen.
Nahmen sie an Kundgebungen in Chemnitz teil? Oder bei Pegida? Sind sie
Mitglieder der AfD? Wie stehen sie zur Flüchtlingspolitik? „Das ist doch
ein Witz“, ruft ein Zuschauer in den Saal.
Verteidigerin Ricarda Lang betont dagegen die „Politisierung“, die dieser
Fall erfahre. Schon vor dem Prozess hatte sie beantragt, diesen [2][ganz
aus Sachsen zu verlegen].
Nun verweist sie auch auf die Chemnitzer Bürgermeisterin Barbara Ludwig
(SPD), die der taz sagte, sie hoffe auf eine Verurteilung: Ein Freispruch
wäre Teil des Rechtsstaats, aber dann „würde es schwierig für Chemnitz“.
Bei all dem Druck, sagt Lang, müsse der Angeklagte wissen, ob er
unbefangene Richter vor sich habe.
Auch Staatsanwalt Stephan Butzkies hält einige der Fragen an die Richter
für berechtigt. Richterin Simone Herberger stellt den Antrag zurück.
Butzkies trägt darauf seine Anklage vor: Einen gemeinschaftlichen Totschlag
habe Alaa S. begangen.
## „physiologisch abenteuerlich“
Mit einem Mittäter, dem bis heute flüchtigen Iraker Farhad R., sei Alaa S.
nach einem Stadtfest am 26. August zufällig auf Daniel H. gestoßen, habe
nach einem Streit auf diesen eingestochen. Fünf Stiche hätten H. getroffen,
einer ins Herz, einer in die Lunge. Daniel H. verstarb noch am Tatort.
In der vollen Anklageschrift wird der Ablauf etwas klarer. Der Mittäter,
Farhad R., soll Daniel H. damals um eine „Karte“ gebeten haben, offenbar um
damit Kokain zu schnupfen. H. habe ihn abgewiesen. Es sei es zum
Handgemenge zwischen beiden gekommen. Erst dann sei Alaa S. aus einem
nahegelegenen Imbiss gestürmt und habe mit Farhad R. auf Daniel H.
eingestochen.
Frank Drücke, zweiter Anwalt von Alaa S., spricht dagegen von „eklatanten
Ungereimtheiten“ in der Anklage. So soll Alaa S. den Nacken von Daniel H.
gepackt, ihn mit dem Messer gestochen und mit dem Knie getreten haben,
gleichzeitig habe er von H. einen Faustschlag erhalten. „Physiologisch
abenteuerlich“, nennt das Drücke. Wie solle das möglich sein?
Es gebe auch keine DNA-Spur von Alaa S. am Tatort. Die Vorwürfe gegen ihn
blieben völlig „diffus“. Drücke beantragt die Einstellung des Verfahrens …
und die sofortiger Freilassung von Alaa S. „Unser Mandant ist unschuldig.“
## Zeuge spricht von Chaos
Der Syrer selbst hatte bereits vor Ermittlern die Messerstiche bestritten:
Er habe das Geschehen nur aus der Ferne beobachtet. Als die Polizei kam,
sei er aus Angst davongelaufen. Beamte hatten den Syrer kurz nach der Tat
festgenommen. Das Gericht hatte den Haftbefehl gegen Alaa S. zuletzt
verlängert.
Am Nachmittag ist es Dimitri M., der die Tatnacht aufhellen soll. Der
38-jährige Russlanddeutsche hatte mit Freunden damals seinen Bekannten
Daniel H. getroffen. Auch er wurde attackiert, mit Messerstichen in den
Rücken. Wie es ihm gehe? „Es geht“, sagt der LKW-Fahrer.
Zwei Männer hätten Daniel H. attackiert, einer mit einem Messer, der andere
mit Fäusten, vielleicht auch er mit einem Messer. Gesichter kann Dimitri M.
aber nicht sicher wiedererkennen. „Es war Chaos, alle haben geschrien.“
Staatsanwalt Butzkies schlägt vor, die Tat nachzustellen. Er legt sich wie
Daniel H. auf den Saalboden, Dimitri M. stellt die Messerstiche nach. Aber
M. zeigt auch, wo er sich während der Tat befand: Er geht mehrere Meter an
den Rand des Saals, sah also alles nur aus der Ferne. Die Fragezeichen in
der Anklage löst seine Aussage nicht auf.
## Angehörige wie versteinert
Im Gericht verfolgen nur wenige Rechte das Geschehen, tätowierte Männer mit
verschränkten Armen. Protest bleibt aus. Weiter vorne sitzen zwei Frauen:
Mutter und Schwester von Daniel H. Teils wie versteinert sitzen sie in der
Verhandlung, mit der Presse wollen sie nicht reden. Unbegreiflich sei ihnen
der Tod von Daniel H., sagte im Vorfeld einer ihrer Anwälte.
Daniel H. war in der Stadt geboren, arbeitete dort als Tischler, der
rechten Szene stand er fern. Mit der Politisierung der Tat könne die
Familie nichts anfangen, so der Anwalt. „Sie wollen nur die Wahrheit
wissen, was in dieser Nacht passierte.“
## Chemnitz kommt nicht zur Ruhe
Diese Wahrheit aber liefert der Prozessauftakt nicht. Bleibt die Beweislage
so unklar, scheint ein Freispruch tatsächlich nicht ausgeschlossen. Für
Chemnitz würde das eine neue Belastungsprobe bedeuten.
Bis heute kommt die Stadt nicht zur Ruhe. Erst am Montag zogen hunderte
Hooligans durch die Stadt, um einem verstorbenen Neonazi zu gedenken. Auch
das rechtsextremen „Pro Chemnitz“ kündigt neue Aktionen an. Bürgermeister…
Ludwig gesteht, dass es bis heute „Gräben“ in der Stadt gibt.
Im Prozess gegen Alaa S. stehen nun Wochen aufwändiger Indizienprüfung an.
Bis Ende Oktober sind Verhandlungstage angesetzt. Ob Chemnitz bis dahin zur
Ruhe kommt, bleibt fraglich.
18 Mar 2019
## LINKS
[1] /Prozess-um-Messerstiche-gegen-Daniel-H/!5577860
[2] /Verfahren-zu-Chemnitz-Totschlag/!5573386
## AUTOREN
Konrad Litschko
## TAGS
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