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# taz.de -- Wissenschaftlerin über Altersarmut: „Frauen ziehen den Kürzeren…
> Alleinstehende Städterinnen haben ein hohes Risiko, im Alter zu verarmen.
> Wie sie damit umgehen, erklärt Armutsforscherin Irene Götz.
Bild: Kostenlose Freizeitgestaltung: Dame mit Vögelchen im Englischen Garten
taz: Frau Götz, Sie haben für Ihr Buch Frauen porträtiert, die zwischen 60
und über 80 Jahre alt sind und im reichen München existenziell bedroht
leben. Eine Frau erzählt, sie nehme kostenlos Kohlrabiblätter aus
Supermärkten mit, um damit zu kochen. Eine andere heizt im Winter nur noch
ein Zimmer. Haben Sie damit gerechnet, dass Altersarmut unter Frauen
hierzulande so drastische Züge annimmt?
Irene Götz: Nein. Ich war bis dato eher der Meinung, dass das Einzelfälle
sind. Als ich dann aber gelesen habe, dass nach Zahlen des Deutschen
Gewerkschaftsbunds mehr als 70 Prozent der Frauen in Bayern mit ihrer Rente
unterhalb der Armutsgefährdungsgrenze liegen, dachte ich, na gut, diese
ganzen Menschen müssen irgendwo sein.
Sie schreiben, Armut im Alter sei oft unsichtbar. Wie haben Sie die Frauen
gefunden?
Armut ist ein schambesetztes Tabu, weshalb das nicht so einfach war. Drei,
vier Jahre lang haben wir Protagonistinnen gesucht. Wenn man von
FlaschensammlerInnen absieht, können Sie Altersarmut kaum an
Äußerlichkeiten festmachen. Sie erkennen sie zum Beispiel selten an der
Kleidung. Viele Frauen aus mittleren Schichten kaschieren ihre Situation
sehr gut.
Wir haben uns dann an Institutionen wie Nachbarschaftshilfen oder
Kleiderkammern gewandt und dort nach und nach Vertrauen zu
Gesprächspartnerinnen aufgebaut. Ich habe auch gelernt, worauf ich achten
muss, um Altersarmut zu erkennen.
Worauf denn?
Sie müssen schauen, wer Hilfe aufsucht. Oder wenn Sie, wie wir es durften,
in die Wohnungen der Frauen eingeladen werden, sehen Sie, dass die Möbel
geschont werden, aber sehr abgenutzt sind. Und im Alltag müssen Sie auf
Details in Gesprächen achten.
Eine Frau aus unserem Team bekam zu Weihnachten plötzlich einen Brief ihrer
Großmutter, Geschenke seien leider gestrichen. Unsere Mitarbeiterin ist aus
allen Wolken gefallen, weil sie immer dachte, ihre Großmutter sei eine gut
situierte Frau.
Gab es Lebensgeschichten, die Sie besonders berührt haben?
Fast alle auf ihre Weise. Viele Schicksale sind tragisch. Eine Frau, die 43
Jahre lang als Altenpflegerin gearbeitet hat und zuletzt die Leiterin der
Einrichtung war, hat alleinerziehend zwei Töchter großgezogen und schlief
seit Jahren auf einem Klappbett im Flur einer Tochter, weil sie sich keine
Wohnung mehr leisten konnte. In der Obdachlosenstatistik taucht sie damit
nicht auf, das ist verdeckte Obdachlosigkeit.
Eine Frau war früher Kosmetikberaterin im Kaufhaus und verkauft jetzt
Straßenzeitungen, eine andere telefoniert mit 68 Jahren im Akkord im
Callcenter. Viele Frauen aus dem Bürgertum, vor allem wenn sie im Alter
allein leben, knapsen. Interessant war, dass diejenigen, die uns dann
eingeladen haben zu sprechen, auch wirklich Auskunft geben wollten. Die
Frauen haben uns ihre Leben, ihre Probleme gezeigt, damit sie öffentlich
werden.
Das Einkommen der Porträtierten bewegt sich zwischen 148 Euro Rente plus
Grundsicherung und 1.170 Euro plus Minijob. Würden Sie sagen, für die
Frauen geht es ums nackte Überleben?
Ja. Ganz sicher etwa bei der Frau mit den 148 Euro, einer
hochqualifizierten Spätaussiedlerin, die in den 1970ern als Bauingenieurin
nach Deutschland kam. Sie hat allein ein krankes Kind großgezogen und hier
nie mehr richtig beruflich Fuß gefasst. Nun kommen eigene Krankheiten dazu:
Bei ihr müsste eine Linse im Auge ersetzt werden. Mit der
Standardbehandlung der Kasse lässt sich das nicht machen.
So geht es sowohl ums Überleben als auch um eine enorme Einschränkung der
Lebensqualität. Andere Frauen stehen zwar nicht vor dem Verhungern, müssen
aber mit Sonderangeboten billigster Art über die Runden kommen. Von
gesunder Ernährung ist das weit entfernt. Und ein gutes Leben ist es auch
nicht.
Viele Frauen interpretieren ihre Situation als persönliches Versagen. Ist
dem so?
Von eigener Schuld zu sprechen, ist fast zynisch. Darin, dass Frauen
durchschnittlich weniger als 60 Prozent der Rente der Männer bekommen,
spiegeln sich die Verhältnisse. In den 1960er Jahren etwa galt es im
Bürgertum noch als Stigma, wenn die Frau arbeiten musste. Viel Bildung
wurde selten in sie investiert, und wenn sie gearbeitet hat, dann oft
Teilzeit oder in Berufen wie Verkäuferin, die nun nicht genügend Rente
bringen.
Viele Frauen waren und sind stark familienorientiert, für so etwas waren
die Männer nicht zuständig. Brüche in Lebensläufen wie Scheidungen sind ein
hoher Risikofaktor und waren in den 70er und 80er Jahren noch enormere
Einschnitte als heute. Die Frauen mussten von vorn beginnen, waren die
Vorreiterinnen, die sich emanzipiert haben, oft von sehr patriarchalen
Ehemännern. Aber auf lange Sicht haben sie den Kürzeren gezogen.
Worauf läuft das hinaus?
Auf ein Horrorszenario. Eine Frau aus unserer Studie hat eine kleine
Eigentumswohnung, im Haus dürfen aber keinesfalls größere Reparaturen
anfallen, weil sie die nicht bezahlen könnte. Einen Kredit bekäme sie nicht
mehr. Ihr droht, die Wohnung verkaufen, Grundsicherung beantragen und
umziehen zu müssen, aber möglicherweise nichts mehr zu finden.
Geld, das für die eigene Hochaltrigkeit gedacht war, brauchen viele Frauen
so schon jetzt auf. Das macht sie hochgradig verwundbar und ängstlich.
Spielt es eine Rolle in Bezug auf Armut, ob die Frauen einen
bildungsbürgerlichen Hintergrund haben?
Ja. Allen fehlt ökonomisches Kapital, aber diejenigen, die soziales oder
kulturelles Kapital haben, sind im Vorteil. Eine bekommt manchmal
Theaterkarten geschenkt, eine andere von ihren Kindern ein Tablet, mit dem
sie sich über Umsonst-Angebote informiert. Neben Netzwerken sind
Fertigkeiten entscheidend: Kann sie Nachhilfe geben, kann sie vor
Weihnachten Backaktionen machen, für die ihr dann jemand den Balkon
streicht?
Das ist Tauschwirtschaft.
Das sind auch Nachkriegsstrategien, da wird generationenspezifisches Wissen
genutzt: einkochen, hauswirtschaften, stricken. Zudem hilft tauschen, das
Stigma Schwarzarbeit zu umgehen. Zuverdienst wird ja sofort mit der
Grundsicherung verrechnet, beim Ehrenamt gibt es wenigstens Pauschalen. Das
ist ein politisches Problem.
Was müsste sich ändern?
Abgesehen davon, dass die Grenze, bis zu der hinzuverdient werden darf,
deutlich steigen müsste, muss das Rentensystem reformiert werden. Die
Absenkung der Rentenniveaus in den letzten Jahrzehnten und die Forderung,
privat vorzusorgen, hat die soziale Spaltung im Alter vorangetrieben. Wer
nichts hat, kann auch nicht vorsorgen. Die Absenkung der Renten muss also
nicht nur gestoppt werden, die staatlichen Renten müssen steigen. Der
Vorstoß der SPD zur Grundrente ist da zwar gut, reicht aber nicht.
Weil viele Frauen unter der Grenze von 35 Beitragsjahren bleiben?
Ja. Unser Rentensystem berücksichtigt Frauen, die nicht erwerbstätig waren,
kaum. Auch die Mütterrenten sind nur kleine Kompensationen. Und es ist ein
ganz unguter Diskurs, wenn, wie derzeit, überlegt wird, ob Frauen, die nur
Teilzeit gearbeitet haben, von der Grundrente überhaupt Gebrauch machen
dürfen.
Man müsste also das Rentensystem konsolidieren, indem alle Gruppen
einzahlen, und dies auf Basis höherer Löhne. Zukünftig müssen ergänzend
mehr Steuern in die Rentenkasse. Würde beispielsweise das
Ehegattensplitting abgeschafft und der Spitzensteuersatz für Superreiche
erhöht, gäbe es mehr Geld für die Rentenkasse.
Mieten zu bezahlen dürfte auch mit höheren Renten schwierig werden.
Ältere Frauen sind, wenn sie allein in Städten leben, armutsgefährdet. Das
liegt vor allem am Wohnungsmarkt. Man kann den Frauen nicht sagen, zieht
mal alle um – diejenigen, die das zwangsläufig machen und am Stadtrand oder
noch weiter draußen landen, vereinsamen und schaffen die Wege zu ihren
ÄrztInnen nicht mehr. Wir brauchen sozialen Wohnungsbau und Reformen, die
die Mieten in den Griff bekommen. Sonst wird Altersarmut zu einem
Massenphänomen.
Ist absehbar, wie sich die Situation für Frauen entwickelt, die heute
zwischen 30 und 50 Jahre alt sind?
Für die große Gruppe der Babyboomer, die jetzt älter als 50 sind, wird es
katastrophal, wenn jetzt nicht umgesteuert wird. Die Frauen dieser
Generation sind zwar zunehmend erwerbstätig, aber oft in Teilzeit. Das geht
in Zukunft nicht mehr. Die Frauen – und Männer – also, die jetzt zwischen
30 und 50 sind, müssten auf die Straße gehen, für Lohngleichheit kämpfen
und dafür sorgen, dass Arbeit anders aufgeteilt wird. 35-Stunden-Woche für
alle, dafür gleichmäßige Verteilung von Erwerbs- und Care-Arbeit.
Es sind zum einen strukturelle Reformen nötig, um die Rente im System der
Umlage noch auszahlen zu können. Und es braucht einen Bewusstseinswandel
bei Frauen und Männern, dass die Idee der Eineinhalb-Ernährer-Familie nicht
mehr greift. Ich vermute, dass sich da noch was tut.
Warum?
Die heute alten Frauen legen eine unglaubliche Duldsamkeit an den Tag. Sie
fühlen sich nicht als Opfer, sie wurschteln sich mit viel Findigkeit
irgendwie durch und wollen niemandem zur Last fallen. Das ist wohl auch
eine Generationenfrage.
Die heutigen Rentnerinnen sind die Nachkriegsgeneration, die von Anfang an
mithelfen und verzichten musste. Vererbter Besitz war nach dem Krieg
seltener, so dass sie von klein auf mit wenig zurechtkommen mussten und
eine Bescheidenheitshaltung entwickelt haben. Ich vermute, dass die
nächsten Generationen nicht so duldsam sind.
Hoffentlich nicht.
Hoffentlich gehen wieder ein paar mehr auf die Straße – einerseits. Auf der
anderen Seite entdeckt gerade auch die AfD die Rentendiskussion.
Populistisch lässt sich immer viel versprechen. Die nächste Generation muss
aufpassen, dass das an dieser Stelle nicht kippt.
4 Mar 2019
## AUTOREN
Patricia Hecht
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Susanne Neumann
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