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# taz.de -- Debatte Grundrente und Altersarmut: Leistungsdenken scheitert
> Die von Arbeitsminister Heil geplante Grundrente soll für mehr
> Gerechtigkeit sorgen. Aber sie schafft neue Ungerechtigkeiten. Und: Sie
> ist zu gering.
Bild: Viele Menschen müssen fürchten, sich im Alter nicht mal mehr eine Cola …
In der von Arbeitsminister Hubertus Heil angestoßenen Debatte über die
Rente ist Gerechtigkeit ein zentraler Begriff. Das ist gewagt. Denn gerade
bei der Rente zeigt sich die enorme Spaltung der Gesellschaft: Jemand, der
40 Jahre zum Mindestlohn Vollzeit arbeitet hat, bekommt etwas mehr als 500
Euro Rente im Monat. Topmanager wie der frühere VW-Chef Winterkorn erhalten
dank zusätzlicher Betriebsrente im Ruhestand mehr als sechsmal so viel – am
Tag. Der Staat, als Anteilseigner von VW aber vor allem als
Steuergesetzgeber, muss für Balance sorgen.
Immerhin: Heils Vorschläge [1][zielen auf die Menschen am ganz unteren Ende
der Einkommensskala]. Der Sozialdemokrat will die „Grundrente“ aus
Steuermitteln finanzieren, so dass Gutbetuchte wenigstens theoretisch
mitzahlen. Menschen [2][mit mindestens 35 Beitragsjahren] in der
gesetzlichen Rentenversicherung sollen künftig einen Zuschlag zur Rente
bekommen, wenn die weniger als 896 Euro beträgt.
Dieser Zuschlag würde RentnerInnen etwas über die Grundsicherung heben, die
heute inklusive Wohngeld bei im Schnitt knapp 796 Euro liegt. Eine echte
Verbesserung ist, dass Heil keine Bedürftigkeitsprüfung vorsieht. Wer heute
als GeringverdienerIn Geld in eine private Rentenversicherung steckt,
bekommt die Auszahlung auf die Grundsicherung angerechnet – was viele mit
Recht als sehr ungerecht empfinden. Denn Grundsicherung bekommt heute nur,
wer wirklich nichts mehr hat.
Wer 40 Jahre zum Mindestlohn gearbeitet hat, soll künftig 961 Euro Rente im
Monat bekommen, davon gehen Beiträge für die Krankenkasse ab. Künftige
GrundrentnerInnen würden rund 60 Euro mehr erhalten als heutige
BezieherInnen von Grundsicherung. Das ist nicht nichts. Aber das nimmt
niemandem die Angst vor Altersarmut.
## Wie erarbeitet man sich Wertschätzung?
„Es geht um tüchtige Menschen, die sich nach einem Leben voller Arbeit eine
ordentliche Rente verdient haben“, sagt Heil. Das sei eine Frage des
„Respekts“ vor der „Lebensleistung“.
Aber was ist mit denen, die nur auf 34 Jahre und 11 Monate bei den
relevanten Zeiten kommen oder weit darunter bleiben? Sind die nicht tüchtig
gewesen, auch wenn sie Kinder erzogen oder Menschen gepflegt haben, ohne
dafür Rentenansprüche gesammelt zu haben? Und die Kranken, die gern mehr
gearbeitet hätten?
In einem sind sich Heil, seine Widersacher aus dem konservativ-liberalen
und seine VerteidigerInnen aus Wohlfahrtsverbänden und Gewerkschaften
fatalerweise einig: „Jemand, der jahrzehntelang hart gearbeitet hat, hat
das Recht, deutlich mehr zu bekommen als jemand, der nicht gearbeitet hat“,
lautet das Credo. Das gilt als gerecht. Aber wieso eigentlich?
Wer so argumentiert, verkennt: Arbeit zu haben ist hier und heute ein
Privileg. Ja, die Wirtschaft boomt. Unternehmen suchen händeringend
Fachkräfte – aber nur bestimmte. Die Leute müssen jung und gesund, passend
gebildet, flexibel und mobil sein. Wer einen Makel hat, hat Pech – und den
hat jedeR spätestens mit 50. Dann sind es noch 17 Jahre bis Rentenbeginn.
Ein „Makel“ ist häufig schon die Existenz eines Kindes – von chronischen
Krankheiten oder anderen Kalamitäten gar nicht erst zu reden. Unternehmen
zahlen lieber „Ausgleichsabgaben“, als einen Schwerbehinderten
einzustellen.
Früher gab es in Unternehmen sogenannte Schonarbeitsplätze. Die waren für
jene, die sich für den Betrieb kaputtgeschuftet hatten und die Zeit bis zur
Rente überbrücken mussten. Heute gibt es für diese Leute Hartz IV – und
später eine mickrige Rente. Sie gehören zu den Millionen Arbeitslosen, die
abgeschrieben werden und von denen etliche nicht einmal mehr in der
Statistik auftauchen. Wo bleibt der Respekt vor diesen Menschen? In
Deutschland gibt es kein Rechtsanspruch auf Erwerbsarbeit. Der Markt
entscheidet, ob man seine Arbeitskraft gegen Ansprüche auf die Rente
eintauschen kann, nicht der oder die Einzelne. Dabei zeigt die Explosion
der Jobs im Niedriglohnsektor, dass viele sich lieber unter Wert verkaufen
als arbeitslos zu sein.
Dem Sozialdemokraten Heil, seinen WidersacherInnen, aber auch
GewerkschafterInnen ist offenbar nicht klar: Wer den Job verliert, macht
keine Flasche Sekt auf. Absagen auf Bewerbungen werden nicht gefeiert,
sondern von den Betroffenen mit Trauer, Selbstzweifeln oder Resignation zur
Kenntnis genommen. Die allermeisten Menschen empfinden es als Strafe,
arbeitslos zu sein. Diejenigen, die sich nach 50 erfolglosen Bewerbungen
noch immer ins Rennen um einen Job begeben, verdienen das
Bundesverdienstkreuz – und keine Geringschätzung. Sie können sich nicht nur
wenig leisten. Ihnen fehlt oft ein soziales Umfeld, aus dem sie Anerkennung
beziehen. Sie zusätzlich mit Minirenten zu bestrafen und zu erklären, sie
seien selbst dran schuld, ist zynisch. Denn eben das ist die Botschaft des
Fingerzeigs auf jene, die jeden Tag aufstehen und arbeiten und deshalb mehr
Rente verdienten.
Gerechtigkeit bei der Rente ist ohne Gerechtigkeit in der Gesellschaft
nicht möglich. Höhere Löhne bringen auch höhere Renten. Viele Menschen mit
niedrigen und mittleren Einkommen blicken mit großer Furcht aufs Alter,
weil ihnen klar ist, dass sie dann finanziell Probleme bekommen. Die
drastischen Rentenkürzungen unter Rot-Grün aus dem Jahr 2002 werden die
voll treffen, die in den kommenden Jahren in Rente gehen. Die private
Altersvorsorge, deren staatliche Förderung Rot-Grün eingeführt hat, ist
gescheitert. Sie bringt angesichts der niedrigen Zinsen nicht genug
Rendite, und viele haben zudem einfach kein Geld dafür.
Das richtige Mittel gegen Altersarmut ist eine staatliche, deutlich über
der Armutsgrenze liegende Mindestrente für alle, auch für die, die keine
langen Versicherungszeiten haben. Jede Grenze, jede Zugangsbarriere muss
dem als Willkür erscheinen, der nicht darüber kommt. Und: Die
Lebensleistung eines Menschen spiegelt sich nicht in seinen
Rentenansprüchen.
18 Feb 2019
## LINKS
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## AUTOREN
Anja Krüger
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