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# taz.de -- Debatte Rot-Grüne Sozialreformen: Ihre Pläne haben etwas Unernstes
> SPD und Grüne profilieren sich mit linken Sozialstaatsreformen. Doch sie
> drücken sich um die Frage der Finanzierung herum.
Bild: Linke Sozialpolitik? Rot-Grün versucht nachzuziehen
Sozialdemokraten und Grüne profilieren sich gerade mit
Sozialstaatsreformen, die das Leben vieler Menschen verbessern würden. Die
SPD etwa plant eine Grundrente für Niedrigverdiener, die lange gearbeitet
haben – [1][und will Hartz IV durch ein Bürgergeld ersetzen]. [2][Das
Sanktionsregime würde abgeschwächt], Wohneigentum und Vermögen würden nicht
so schnell angetastet, das Arbeitslosengeld I soll für ältere Menschen
länger gezahlt werden.
Alle Ideen haben eines gemeinsam: Sie sind teuer. Doch über die
Gegenfinanzierung schweigen sich wichtige SPDler aus. In dem 15-seitigen
Sozialstaatspapier, das der SPD-Vorstand beschlossen hat, steht kein Wort
über das nötige Geld. Arbeitsminister Hubertus Heil taxiert allein für die
Grundrente Kosten von 4 bis 6,5 Milliarden Euro im Jahr – und verspricht
mit Finanzminister Olaf Scholz, „ein solides Modell zur Finanzierung
vorzustellen“. Leider entdeckt Scholz gleichzeitig ein 25-Milliarden-Loch
im Bundeshaushalt, weil sich der Aufwärtstrend der Wirtschaft verlangsamt.
Beides zusammen ergibt eine interessante Vorstellung von Solidität.
Die Grünen gehen sogar noch weiter. Die Fraktionsvorsitzende Katrin
Göring-Eckardt brachte das Kunststück fertig, der SPD [3][bei der
Grundrente vorzuwerfen], dass die Finanzierung nicht gesichert sei – und zu
verschweigen, dass die grüne Garantierente noch teurer wäre. Jene soll
bereits nach 30 statt nach 35 Versicherungsjahren gezahlt werden, der Kreis
der Begünstigten wäre deutlich größer.
Auch der grüne Abschied von Hartz IV würde mehr kosten. Anders als die SPD
will die Ökopartei die Regelsätze erhöhen. Das ist auch dringend nötig,
weil die derzeitigen Sätze für gesellschaftliche Teilhabe nicht ausreichen.
Aber der Aufschlag treibt eben die Kosten in die Höhe. Die grüne
Garantiesicherung schlüge laut Parteichef Robert Habeck mit 30 Milliarden
Euro pro Jahr zu Buche.
## Bloß nicht zu konkret werden
Auch Habeck, der sich gern dafür lobt, Forderungen „scharf zu stellen“,
bleibt lieber wolkig, wenn es um die Finanzierung geht. Er möchte
Steuerschlupflöcher schließen, wissend, dass dies ein Projekt für den
Sankt-Nimmerleins-Tag ist, weil dafür kaum erreichbare internationale
Abkommen nötig sind. Die Frage des Geldes ist aber keine Kleinigkeit. An
ihr entscheidet sich, ob die Konzepte eine Chance auf Realisierung haben.
Dass SPD und Grüne diese Frage auf Teufel komm raus vermeiden, ist keine
Gedankenlosigkeit, sondern Absicht.
Beide Parteien leiden am Steuertrauma der Bundestagswahl 2013. Damals zogen
sie mit exakt gerechneten Steuererhöhungen in den Wahlkampf, die vor allem
die obersten paar Prozent belastet hätten. Doch Union, FDP,
Arbeitgeberverbände und liberalkonservative Medien deuteten die Vorschläge
in eine Attacke auf Normalverdiener der Mittelschicht um. Mit der Wahrheit
hatte das wenig zu tun, aber die Kampagne wirkte.
Seitdem befinden sich SPD und Grüne in einer Angststarre. Bloß keine
Erhöhungen fordern, bloß nicht zu konkret werden, bloß nicht auffallen. Das
mag taktisch nachvollziehbar sein, weil mächtige Lobbys keine Umverteilung
von oben nach unten wollen. Außerdem lauern in der komplexen Materie reale
Probleme. Es ist schwierig, eine Grenze zwischen dem SPD wählenden
Produktionsleiter, dem Grün wählenden Chefarzt und den wirklich Reichen zu
ziehen.
Es wäre deshalb falsch, SPD und Grünen eine sture Wiederholung des
Wahlkampfs 2013 zu empfehlen. Aber ehrlich, gar mutig ist verdruckstes
Schweigen eben auch nicht. Darf, wer [4][„radikalen Realismus“]
(Grünen-Chefin Annalena Baerbock) proklamiert, einen zentralen Punkt
ignorieren? Das wäre intellektuell dann doch ein bisschen fragwürdig.
## Besteuerung vermeiden
Ein wenig mehr Kontur, ein paar mehr Zahlen wären schön – sozusagen ein
Mittelweg zwischen Trittin’scher Detailwut und Habeck’scher Unbestimmtheit.
Ohne mehr Geld im Steuersystem werden engagierte Sozialstaatsreformen nicht
zu machen sein. Wer den Sozialstaat umbauen will, kommt um die
Verteilungsfrage nicht herum. Wirklich mutig wäre es, wenn die Grünen den
zahlreichen Vermögenden unter ihren WählerInnen sagen würden, wie
privilegiert sie sind.
Umso grotesker wirkt es da, dass sowohl SPDler als auch Grüne beklagen,
dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht. Eine
harte, progressive Besteuerung von Erbschaften, eine Vermögensteuer und
höhere Spitzensteuersätze wären wirksame Hebel, um das zu verhindern. Weder
SPD noch Grüne sind aber willens, dies in die Hand zu nehmen.
Die SPD hat 2016 in der Großen Koalition [5][eine Erbschaftsteuerreform
beschlossen], die die Privilegien superreicher Unternehmerdynastien in
absurder Weise schützt. Und die Grünen verweisen zwar darauf, in ihrem
Programm eine Vermögensteuer zu fordern (auf Seite 194). Aber sie zeigen
kein Engagement, sie auch umzusetzen. Als die Grünen 2013 und 2017 über
eine schwarz-grüne und eine Jamaika-Koalition verhandelten, war ihre
Steuerpolitik das Erste, was in den Papierkorb wanderte.
Mangelnder Wille zeigt sich auch in der strategischen Planung. Mit der
Union werden SPD und Grüne ihre Sozialstaatsreformen nie umsetzen, dies
ginge nur in einer rot-rot-grünen Koalition. Eigentlich müssten beide
Parteien ein solches Bündnis gezielt vorbereiten. Doch auch hier herrscht
Apathie. Die Spitzenleute finden keine Gesprächsebene, zwischen Scholz,
Baerbock und einem Bernd Riexinger liegen Welten, nicht nur habituell.
Rot-rot-grüne Netzwerke wie die Denkfabrik werkeln ohne größeren Widerhall
vor sich hin. SPD und Grüne leiden an einer fortgesetzten Mitte-Fixierung.
Ihre Sozialstaatspläne haben deshalb etwas Unernstes. Sie klingen gut, sie
könnten sogar der Kern einer neuen Politik jenseits der Groko sein. Aber
dass beide Parteien dafür ernsthaft die Konfrontation wagen würden, glaubt
man dann doch nicht.
25 Feb 2019
## LINKS
[1] /Sozialstaatskonzept-der-SPD/!5572634
[2] /SPD-Politiker-ueber-Hartz-IV/!5569910
[3] /Grundrente-in-der-Kritik/!5570084
[4] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/annalena-baerbock-wir-brauchen-ei…
[5] /Reform-der-Erbschaftsteuer/!5342574
## AUTOREN
Ulrich Schulte
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