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# taz.de -- Sozialdemokraten rücken nach links: Mit Leib und Seele SPD
> Die SPD scheint sich mit sich selbst zu versöhnen. Sie will endlich Hartz
> IV überwinden und blinkt links. Was folgt auf die jetzige Euphorie?
Bild: Kevin Kühnert glaubt noch an das Gute in seiner Partei: Die „Stimmung�…
Zum Überschwang neigt Juso-Chef Kevin Kühnert wirklich nicht. Gerade
deshalb ist interessant, wie er den aktuellen Gefühlszustand der SPD
beschreibt. Die Stimmung? Kühnert lächelt.
Er erlebe gerade eine „beseelte Partei“, sagt er. Ehemals frustrierte
Ex-SPDler schickten ihm Fotos ihrer unterzeichneten Mitgliedsanträge und
schrieben darunter: Jetzt könnten sie ja wieder eintreten. Ein Genosse hat
dem Juso-Chef gesagt, er habe seit langem zum ersten Mal mit
Arbeitskollegen gerne über die SPD gesprochen – weil er sich nicht mehr
schämen müsse.
Kühnert sitzt in einem dieser Besprechungsräume im Willy-Brandt-Haus, die
eng wirken, obwohl sie groß sind. Dritter Stock neben der Kaffeeküche,
ovaler Tisch, schwere Stühle, Fenster zum überdachten Innenhof. Kühnert,
29, obligatorischer Kapuzenpulli und Jeans, lehnt sich entspannt im Stuhl
zurück. „Die Stimmung ist nicht gekünstelt gut, sondern tatsächlich gut.“
Viel Erleichterung sei zu spüren gewesen in der vergangenen Woche. „Weil
man gemerkt hat, man kann noch was.“
Kühnert sagt „man“, und er meint die Sozialdemokratie. Am Montag hat
[1][der SPD-Vorstand eine Sozialstaatsreform beschlossen]. Ein neues
Bürgergeld soll Hartz IV ersetzen. Das Sanktionsregime für Arbeitslose soll
entschärft, das Arbeitslosengeld I für ältere Menschen länger gezahlt
werden.
## Genossen loben sich auf Twitter
Alles wird weicher, harte Abstürze werden abgefedert. Die SPD, die
[2][gerne an sich selbst, an der Groko und an der Welt leidet], rückt nach
links. Seither wirkt sie wie ausgewechselt. Es ist, als hätte jemand das
Fenster aufgerissen, als ströme kühle, sauerstoffreiche Luft herein. Selbst
Sigmar Gabriel und Exkanzler Gerhard Schröder, die in Interviews
stänkerten, werden schulterzuckend zur Kenntnis genommen. Sollen sie
motzen, die alten Männer.
Genossen laufen mit geschwellter Brust durch Berlin-Mitte, lächeln in
Kameras, loben sich auf Twitter. In der Sitzung der Bundestagsfraktion
herrschte am Dienstag Hochstimmung. Die Abgeordneten, sagt ein nüchterner
SPD-Spitzenmann, seien „wie auf Droge“. Auch Jan Korte,
Fraktionsgeschäftsführer der Linkspartei, findet, dass die
SozialdemokratInnen „voll drauf“ seien. Er klingt fast ein bisschen
neidisch.
Das Stakkato der miesen Nachrichten, die schrecklichen Umfragen, die
Aussicht, bei der Europawahl einzubrechen und bei den ostdeutschen Wahlen
in Brandenburg, Sachsen und Thüringen sowieso: All das scheint vergessen.
Die SPD wirkt ganz bei sich. Doch wie nachhaltig sind solche Glücksgefühle?
Kann die SPD wirklich das Thema Hartz IV hinter sich lassen, das ihr wie
ein Schatten folgte?
Mit der SPD und ihren Gefühlen ist es ja so eine Sache. Das Stimmungshoch
[3][erinnert an den Schulz-Hype Anfang 2017]. Damals folgte der Absturz auf
dem Fuße. So schlimm muss es dieses Mal nicht kommen. Aber die SPD neigt
emotional zu Extremen – entweder manisch oder depressiv. Sogar der leichte
Anstieg in Umfragen von 15 auf 17 Prozent gilt manchen schon als Zeichen,
dass es nun wieder bergauf geht.
## Es ist kompliziert
Dabei birgt das allseits gefeierte Konzept für den Sozialstaat 2025
Widersprüche. Die SPD regiert, stellt den Arbeitsminister – und muss
liefern. Die Union aber geht auf Blockade. Auch wirtschaftspolitisch will
die Union eher weg von dem moderaten Merkel-Kurs. Der Wirtschaftsliberale
Friedrich Merz verfehlte die Mehrheit auf dem CDU-Parteitag nur knapp.
Vor dem Groko-Spitzentreffen am Mittwoch nannte CSU-Chef Markus Söder die
Rentenpläne der SPD „toxisch“. Unionsfraktionschef Ralf Brinkhaus
schimpfte, die SPD wolle einen „Nanny-Staat“. Wichtiger noch: Auch der
Arbeitnehmerflügel der Union hält Änderungen bei Hartz IV für überflüssig.
Die Verlängerung des Arbeitslosengelds I auf bis zu drei Jahre, ein
Herzstück der SPD-Ideen, sei „das völlig falsche Zeichen“, sagte
CDU-Arbeitsmarktexperte Peter Weiß. Das klingt nach: kein Millimeter für
die euphorische SPD.
Aber es ist kompliziert. Bei der SPD ist der Protest der Schwarzen zum Teil
eingepreist, mehr noch: willkommen. Schließlich sind sich alle
SpitzengenossInnen einig, dass die Partei ihr Profil jenseits der
Regierungslogik schärfen müsse, um zu überleben. Es sei ein „Geschenk“,
dass man im Moment die Soli-Abschaffung der Union für die oberen 10 Prozent
neben die eigene Sozialagenda stellen könne, sagt Kühnert. „Die SPD muss
Futter horten.“ Man brauche im nächsten Wahlkampf Themen. Und diese dürfe
man nicht völlig neu erfinden, sie müssten den Leuten schon bekannt sein.
[4][Dass die Union Hartz IV beerdigen würde], damit rechnet in der
SPD-Führung niemand. Sie wird ihren Ehrgeiz [5][wohl auf die Grundrente
fokussieren]. Denn die steht im Koalitionsvertrag. Wer 35 Jahre gearbeitet
hat, soll rund 100 Euro im Monat mehr bekommen als jene, die weniger oder
gar nicht gearbeitet haben.
## Vertrag ist Vertrag
Davon würden zu drei Viertel Frauen profitieren – und viele im Osten.
SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil will die Reform – Kosten geschätzt um die
6 Milliarden Euro pro Jahr – ohne weitere Bedingung wie Prüfung der
Bedürftigkeit zahlen. Das Problem: Im Koalitionsvertrag steht das
Gegenteil. Nur wer wirklich arm ist, soll die Grundrente bekommen.
Daran kann der schöne SPD-Plan scheitern. Doch die SPD, die neuerdings
einen partnerschaftlichen Staat fordert, darf eigentlich nicht nachgeben.
Kühnert, der erklärte Groko-Gegner, ist ein Player im Machtgefüge der SPD.
Er hat die wichtige Arbeitsgruppe mit geleitet, die den
Sozialstaatskompromiss in wochenlangen Verhandlungen geschnürt hat. Die
Zeiten, in denen die Jusos für linkes, aber folgenloses Genörgel zuständig
waren, sind vorbei. Einen „Dealbreaker“ nennt er die Bedürftigkeitsprüfun…
„Sie ist das zementierte Misstrauen des Staats“, sagt der Juso-Chef. „Weil
sie unterstellt, alle Bürger wollten permanent nur Geld abgreifen.“
Doch Vertrag ist Vertrag. Und die Union wird der SPD im Wahljahr 2019 nicht
freiwillig Geschenke mit Schleifchen überreichen. Dennoch haben die
Genossen, besonders die im Osten, die Hoffnung nicht aufgegeben.
Sozialdemokraten erzählen gern, wie Horst Seehofer neulich im
Innenausschuss die Grundrente lobte. Carsten Schneider, parlamentarische
Geschäftsführer der SPD Fraktion, glaubt, dass der Koalitionsvertrag
dehnbar ist. So wie schon bei öffentlich geförderten Jobs für
Langzeitarbeitslose. Eigentlich sollten die laut SPD-Union-Kontrakt nur den
Mindestlohn bekommen – doch Arbeitsminister Heil setzte durch, dass die nun
Tarif bekommen.
## Glaubwürdigkeitsproblem der SPD
Das gilt Schneider als Blaupause für die Grundrente. Und zweitens: Auch die
Mütterrente, für die sich vor allem die CSU stark machte, wird ohne
Bedingung gezahlt. Vor allem aber hofft Schneider, dass die Union begreift,
dass die SPD „bei der Grundrente die Mehrheit der Wähler auf ihrer Seite
hat“. Die Entscheidung über die Grundrente wird noch dauern – Heils
Gesetzentwurf wird im Sommer fertig.
Die Sozialoffensive der SPD krankt an einem grundsätzlichen
Glaubwürdigkeitsproblem. Die wichtigen Figuren haben bis vor Kurzem das
Gegenteil dessen erzählt, was sie heute behaupten. Hätte man Andrea Nahles
oder Hubertus Heil vor zwei Jahren gefragt, was sie von 12 Euro Mindestlohn
halten, wäre man als linker Spinner in die Ecke gestellt worden. Die SPD
steige in keinen Überbietungswettbewerb mit der Linkspartei ein, halte Maß,
gefährde keine Unternehmen. Der Groko-Sound eben.
[6][Glauben ihnen die Menschen noch?] Jene, die seit Jahren am Ruder sind,
haben vielleicht gelernt. Aber sie verkörpern eben nicht den Aufbruch, der
nun verkauft werden soll. Und nun kommt Olaf Scholz ins Spiel.
Der selbstbewusste Finanzminister lässt keinen Zweifel daran, dass er sich
als der nächste Kanzlerkandidat sieht. Scholz, ausgerechnet. Ihn in einen
Linksschwenk-Wahlkampf zu schicken ist, wie einen Metzger mit blutiger
Schürze hinter den Gemüsestand zu stellen. Viele SPD-Linke halten das für
keine gute Idee. Schließlich war es Scholz, der zwischen 2002 und 2004 als
Generalsekretär eisern für Schröders Agendapolitik warb.
## Strategie in den Abgrund – vielleicht
Allerdings sind die Alternativen überschaubar. Nahles hält sich in Sachen
Kanzlerkandidatur bedeckt. Manuela Schwesig, Regierungschefin in
Mecklenburg-Vorpommern, fehlt die starke Hausmacht. Stephan Weil,
Ministerpräsident in Niedersachsen, wirkt noch langweiliger als Scholz, was
auch schon wieder ein Kunststück ist. Und Sigmar Gabriel? Bei der
Vorstellung, dass sich der ruppige Exchef in einer Urwahl durchsetzen
könnte, zucken SPDler nervös zusammen.
[7][Für Scholz spricht also vor allem,] dass so viel gegen andere spricht.
Die SPD will nach links, sie setzt auf Sozialpolitik und einen Staat, der
nicht mehr als strafender Kontrolleur auftritt. Und das mit Scholz?
Es wäre eine Strategie, die in den Abgrund führen könnte. Aber der SPD ist
bekanntlich alles zuzutrauen.
16 Feb 2019
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## AUTOREN
Stefan Reinecke
Ulrich Schulte
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