# taz.de -- Nur Kapitalismus kann die Erde retten: Klimaschutz braucht Kohle | |
> Die Erde lässt sich nur retten, wenn der Kampf gegen den Klimawandel das | |
> Geschäft des Jahrhunderts wird. Ein Selbstläufer ist das aber nicht. | |
Bild: Klimaschutz muss sich endlich verkaufen wie Schirme bei Starkregen | |
Wie jedes Jahr seit 1995 ist gerade die Zeit der Sünde und der Erlösung – | |
[1][Klimakonferenz]. Wissenschaftler [2][rechnen die Sünde nüchtern vor], | |
in CO2-Emissionen und Temperaturkurven: Was die Staaten der Welt bisher an | |
Klimaschutz versprochen haben, wird den Planeten wahrscheinlich um 3,2 Grad | |
aufheizen. | |
Dann werden die meisten Tier- und Pflanzenarten ausgerottet sein, | |
Fischernetze leer bleiben, fruchtbare Böden veröden, Gesellschaften | |
zusammenbrechen. Doch Teil der Erzählung ist auch die Erlösung, dargebracht | |
von Ökonom*innen und Klimaschützer*innen: CO2-Steuern, erneuerbare | |
Energien, Biolandwirtschaft, [3][Verzicht auf Fleisch] und Konsum. | |
Es gibt einen stillen Konsens darüber, wie das gehen soll: Der Kapitalismus | |
muss die Klimakatastrophe aufhalten. Aus dem Schutz des Planeten muss das | |
größte Geschäft des 21. Jahrhundert werden. Das Gadget, das jeder haben | |
will. Dieser Weg ist paradox: Kapitalismus, das ist die Idee ewigen | |
Wachstums, befeuert von der Ausbeutung der Natur. Das System hat die | |
Klimakrise herbeigeführt – und soll sie jetzt beenden. | |
Theoretisch gibt es viele schöne Alternativkonzepte: Die | |
Postwachstumsgesellschaft etwa, in der alle mehr Zeit und weniger Zeug | |
haben. Dringend notwendige Utopien, doch sie werden den Kapitalismus so | |
wenig stürzen wie andere historische Versuche. Er ist ein dezentrales | |
Ordnungssystem, das keinen König hat, den man mal eben köpfen kann – und | |
schon machen die Arbeiter- und Solarräte Klimaschutz. | |
Unzerstörbar ist das Ordnungssystem nicht. Malen Sie sich ein beliebiges | |
Ereignis aus, das die globalisierte Wirtschaft dermaßen kollabieren lässt, | |
dass auch die Menschen in den Industrieländern verarmen: Einen | |
Asteroideneinschlag in der Wall Street, einen Hackerangriff, der sämtlich | |
Computersysteme dieser Welt löscht. Ein totaler ökonomischer Kollaps wäre | |
eine rasante Art des Klimaschutzes. Doch Gesellschaften, die ins Chaos | |
gestürzt werden, neigen zum Konflikt, nicht zur Kooperation. Ein | |
ökologisches Wirtschaftssystem entsteht so nicht. Es gibt keinen | |
Resetknopf, der so schnell wirkt, wie er wirken müsste: Die Menschheit muss | |
bis 2050 eine Wirtschaft etabliert haben, die die Erde nicht nur nicht | |
weiter anheizt, sondern abkühlt. | |
Das können nur die einzigen beiden Sprachen, die global über alle | |
politischen Lager und Religionen hinweg verständlich sind: Liebe und | |
Solidarität. | |
Kleiner Scherz. Die Rede ist von Wissenschaft und Geld. Die erste Sprache | |
liefert die Handlungsanweisung gegen die Klimakrise. Die zweite die Mittel | |
dagegen. Nur die Bosse und Banker haben die Kohle, um das Klima zu retten. | |
Viele von ihnen wissen, dass sie ihr heutiges wirtschaftliches Handeln zu | |
Feinden der Umwelt, pathetisch gesagt: ihrer Kinder macht. Sie sind wie | |
Söldner, die überlaufen wollen, dabei aber pleitegehen könnten. Mit ihnen | |
zu kooperieren ist sinnvoll – und die Entscheidung dafür ist ohnehin längst | |
gefallen. Denn das Pariser Klimaschutzabkommen ist zwar mutig, sieht aber | |
nicht vor, den Kapitalismus zu beenden. | |
Selbst diejenigen, die unser Wirtschaftssystem schlecht finden, versuchen | |
gar nicht erst, es abzuschaffen: Klimaschützer*innen sind heute | |
Finanzexpert*innen. Sie sind es, die Investor*innen davon überzeugen, | |
keine Ölbohrtürme mehr zu kaufen. Sie rechnen als Ingenieur*innen den | |
Energiekonzernen vor, dass eine Solaranlage billiger ist als ein | |
Kohlekraftwerk. Sie sind Jurist*innen und verklagen Konzerne auf | |
Schadenersatz, wenn diese Klima und Umwelt schädigen. Sie sind | |
Lobbyist*innen oder Politiker*innen, die versuchen, das Steuersystem | |
ökologisch umzubauen. Kurzum, die Ökos sitzen überall. In Konzernen, in | |
Banken, in der Politik, im Gewissen der Massen. Und sie ernten Erfolge: Die | |
Kosten von Solarenergie sind seit 1975 um 99,5 Prozent gesunken. | |
## Daten sind das neue Öl | |
Das Ende des Zeitalters fossiler Energien wird den Kapitalismus also nicht | |
beenden, wie viele linke Ökonomen mutmaßten. Zum Glück nicht, denn nur der | |
Kapitalismus selbst hat die zerstörerische und zugleich schöpferische | |
Kraft, die alten Industrien schnell hinwegzufegen. Die nötigen Allianzen | |
zeichnen sich bereits deutlich ab: An der Börse sind die wertvollsten | |
Unternehmen der Welt Apple, Microsoft und Alphabet. Und nicht Exxon, Shell | |
und BP. Das Geschäft des 21. Jahrhunderts ist das Geschäft mit Daten, nicht | |
das mit Öl. Das ist die große Chance. | |
Im heute noch dominanten Geschäft mit fossilen Rohstoffen geht es um Raum. | |
Wir zahlen dafür, dass Konzerne Öl fördern, aufbereiten und transportieren. | |
Und wir zahlen dafür, dass Konzerne von Natur aus gespeicherte Energie an | |
den Ort bewegen, an dem sie gebraucht wird. Im Geschäft mit erneuerbaren | |
Energien geht es dagegen um Zeit. Sonnen- und Windenergie liegen nicht in | |
entlegenen Böden begraben. Es gibt sie überall, nur nicht immer, wenn sie | |
gerade benötigt wird. Man kann den Ökostrom zwar speichern, aber das ist | |
teuer, und ein Teil der Energie geht dabei verloren. Strom sofort | |
verbrauchen, wenn gerade die Sonne scheint oder der Wind bläst, das ist die | |
beste Lösung. | |
Die schafft, wer möglichst viele Informationen darüber hat, wer wann wie | |
viel Strom braucht oder gerade speichern kann – also präzise Daten über die | |
Energiewünsche von Menschen und Maschinen. Wer diese Daten akkumuliert und | |
damit Algorithmen füttert, die das Energienetz effizient steuern, der | |
schöpft in der neuen Energiewelt die Gewinne ab. Geliefert werden sie vom | |
Internet der Dinge, der totalen Vernetzung aller Lebensbereiche, das | |
IT-Konzerne und Industrie weltweit forcieren. Es wird dem Klimaschutz | |
mächtige Freunde bescheren. | |
Was aber geschieht mit dem Wachstum? Also dem ständigen Optimieren von | |
Arbeit und Maschinen, mit dem sich Firmen im klassischen Kapitalismus | |
Wettbewerbsvorteile verschaffen, zum Preis eines immer höheren | |
Ressourcenverbrauchs? | |
Nun, die Frage wird bald obsolet sein. Mittlerweile fordern Investoren wie | |
Versicherer oder Pensionsfonds, die Billionen von Dollar an Vermögen | |
verwalten, eine neue Wirtschaft mit sauberen Technologien. In der wird | |
Wachstum nicht mehr dadurch erzielt, mit möglichst wenig Arbeit zu | |
produzieren, sondern mit möglichst wenig Rohstoffen und Energie. Viele | |
Investoren fordern diese grüne Wende. Und wenn die Politik die | |
Rahmenbedingungen schafft, dann kommt sie auch. Dann können sich die | |
Ökonomen hinterher überlegen, wie sie Wachstum künftig definieren wollen. | |
Doch ein Selbstläufer ist der Wandel nicht. Der Kipppunkt, an dem nur | |
gewinnt, wer grün ist, ist noch nicht erreicht. Eine wichtige Bedingung ist | |
der Umbau des Steuersystems: Wer CO2 ausstößt, soll dafür richtig viel | |
zahlen. Bereits seit 2005 müssen Unternehmen in der EU durch den | |
Emissionshandel einen Obolus leisten, wenn sie Klimagase ausstoßen. Dem | |
System Durchschlagskraft zu verleihen wäre der wichtigste Grundpfeiler | |
eines grünen Kapitalismus. Flankiert von Reformen auf den Finanzmärkten. | |
Die EU denkt etwa darüber nach, dass Investoren weniger Kapital als | |
Sicherheit vorhalten müssen, wenn sie in neue, grüne Technologien | |
investieren. Das macht sie attraktiver. | |
Man kann aber auch vieles falsch machen. So wie Frankenreichs Präsident | |
Macron, der plante, eine CO2-Steuer auf Kraftstoffe einzuführen und Unruhen | |
erntete. Ohne vernünftige Sozialpolitik wird Klimaschutz auf erbitterten | |
Widerstand derer treffen, die zu den Verlierern des neuen Steuersystems | |
gehören. | |
Solche Verlierer könnte es sehr schnell geben. Wenn das Steuersystem | |
Umweltbelastung verteuert, dann ergibt sich eine Dynamik, die sich selbst | |
verstärkt: Wer sauberere Autos baut, effizientere Heizungen, sparsamere | |
Fabriken, der hat dann einen Wettbewerbsvorteil. Firmen, die entsprechend | |
investieren, nutzen ihre Lobbymacht nicht mehr gegen, sondern für | |
Klimaschutz – und bringen die Politik so dazu, noch mehr Gesetze zum | |
Vorteil der Ökokapitalisten zu schaffen. | |
## Mystifizierung des Fortschritts ist zerstörerisch | |
Der Prozess ist in Gang – er zerstört alte Industrien wie die Kohle, | |
schafft neue und lässt Konzerne wie VW in dieser Woche auf einmal | |
verkünden, man werde im Jahr 2040 den letzten Verbrennungsmotor bauen. Doch | |
trotz der vielen guten Signale ist Ökokapitalismus eben auch ein Glaube an | |
die Allmacht der Technologie. An erneuerbare Energien, Algorithmen, | |
Elektroautos, mehr Recycling und Effizienz – fertig ist das grüne | |
Wirtschaftswunder. Dahinter verbirgt sich eine Re-Mystifizierung des | |
Fortschritts, den die Umweltbewegung seit den 70er Jahren als zerstörerisch | |
entlarvt hat. Jetzt gibt es einen neuen Glaubensgrundsatz: Wir Idioten | |
hatten nur die falsche Technologie, einen falschen Begriff von Wachstum, | |
falsche Anreize im Markt. Wird das korrigiert, wird es eine neue Art von | |
Fortschritt geben, der uns den Zauber der Natur rettet und uns erlöst. | |
Er kann sich, leider, auch als Irrglaube erweisen: Denn im Jahr 2050 werden | |
mindestens 9 Milliarden Menschen auf der Erde leben – selbst eine komplett | |
solarbetriebene Kreislaufwirtschaft ist nicht effizient genug, wenn all | |
diese Menschen so viel Fleisch essen, reisen und konsumieren wollen wie wir | |
heute. | |
Womit wir bei uns selbst sind. Das Klimagadget, das alle haben müssen, was | |
soll das sein? Die Antwortet ist: ein kleines, praktisches Nichts. Leider | |
ist das schwer verkäuflich. In jeder Werbepause werden die Massen auf mehr | |
Konsum, mehr Verbrauch gedrillt. Wenn wir nicht alle dafür sorgen, dass | |
sich diese Kultur ändert, dann geht der Schuss nach hinten los. | |
Dann sind all die hübschen Elektroautos und Solardächer nur Blendwerk und | |
ist der Ökokapitalismus ein netter Weg, um mit gutem Gewissen dem Untergang | |
entgegenzusegeln. | |
9 Dec 2018 | |
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Ingo Arzt | |
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