| # taz.de -- Hamburgs vergessenes „Chinesenviertel“: Roter Schnaps und Chong… | |
| > Marietta Solty ist die älteste Wirtin auf St. Pauli. Ihre Hong Kong Bar | |
| > erinnert an die einstige „Chinatown“ – und an ein NS-Verbrechen. | |
| Bild: Vorbereitung für das Wochenende: Marietta Solty mischt Hochprozentiges i… | |
| Hamburg taz | Sie wäre lieber im Bett geblieben. Aber Marietta Solty muss | |
| ihre „Mexikaner“ vorbereiten. Für das Wochenende, wenn wieder Hunderte | |
| Menschen nach Sankt Pauli strömen und früher oder später in der Hong Kong | |
| Bar versacken. Rund 15 Liter des Gemischs aus Korn, Wodka, Tequila und | |
| Tomatensaft gehen dann weg. | |
| Marietta Solty mixt gleich noch ein paar Liter mehr, auf Vorrat. Die | |
| 76-Jährige holt ausgewaschene Flaschen aus der Küche, immer mehrere in | |
| einem grauen Eimer. Mit den Füßen schiebt sie einen Holzhocker an den | |
| Tresen und hievt den Eimer darauf. Sie hustet, trocken, weil die Kneipe | |
| rauchig und sie erkältet ist. Außerdem hat sie Rückenschmerzen. „Ich hasse | |
| es, so schwach zu sein“, murmelt sie. Hier nennen sie alle nur beim | |
| Vornamen, einfach Marietta. | |
| An diesem Donnerstagnachmittag ist in der Bar wenig los. Kalter Rauch hängt | |
| zwischen der abgenutzten Holztheke und den ockerfarbenen Wandfliesen. Die | |
| Wenigsten, die hier abends zum Trinken und Feiern herkommen, wissen, dass | |
| sie in der Bar auch Spuren deutsch-chinesischer Geschichte entdecken | |
| können. Einer Geschichte, die mitten hineinführt in die dunkelsten Jahre | |
| des 20. Jahrhunderts. | |
| Neben Refugees-Welcome-Stickern und Fußballschals hängen, ganz hinten über | |
| dem Zigarettenautomaten, zwei Porträtbilder von Chong Tin Lam. „Ich denke | |
| oft an meinen Vater“, sagt Marietta, während sie leere Glasflaschen vor | |
| sich aufreiht. Sie holt den Schnaps aus der Küche und beginnt, die | |
| Schraubverschlüsse aufzudrehen. Dann gluckert Korn in einen Messbecher. | |
| ## Ein Hausgott gegen böse Geister | |
| Marietta trägt eine neongrüne Strickjacke, die Brille hat sie sich in die | |
| Haare geschoben. Ihre Frisur mit Pony ist noch die gleiche, die sie schon | |
| als Kind hatte. Bloß dünner und grau sind ihre Haare jetzt. | |
| Im Jahr 1983, nach dem Tod ihres Vaters, übernahm sie das ehemalige | |
| Restaurant Hong Kong. Vieles hat sich seitdem verändert. Die Hong Kong Bar | |
| ist heute unter der Woche Stammkneipe für verlebte Kiezgestalten, am | |
| Wochenende engagiert Marietta wegen des Andrangs einen Türsteher. Nur die | |
| Pendeltür, von der schwarze und purpurne Farbe abblättert, ist noch genau | |
| so, wie Chong Tin Lam sie einst gestrichen hat. | |
| Hastig, aber treffsicher füllt Marietta den Wodka um. Zwischendurch huscht | |
| ihr Blick an die Wand über dem Zigarettenautomaten. Neben dem Bild ihres | |
| Vaters sitzt ein chinesischer Hausgott hinter fleckigem Plexiglas. Er | |
| starrt direkt auf die Eingangstür, um böse Geister fernzuhalten. | |
| ## Die erste deutsche „Chinatown“ | |
| Vor 92 Jahren kam Chong Tin Lam als Seefahrer von Südchina nach Hamburg. | |
| Einige chinesische Männer ließen sich in den 1920er Jahren in Hamburg | |
| nieder, betrieben Wäschereien, Geschäfte und Restaurants. So entstand rund | |
| um die Schmuckstraße die erste Chinatown Deutschlands. Dort eröffnete Chong | |
| sein Restaurant Hong Kong. | |
| Chinesen und HamburgerInnen teilten ihren Alltag, sie freundeten sich an, | |
| verliebten sich. Gleichzeitig rankten sich exotisierende Gerüchte um das | |
| Chinesenviertel, das vielen als Opiumhöhle und Sündenpfuhl galt. | |
| Marietta wurde hier geboren. Ihre Mutter, erzählt sie beim Schnaps-Mixen, | |
| habe sie mit allen Mitteln abtreiben wollen. „Die ist die Treppe rauf und | |
| runter gerannt und hat Chinin genommen, als sie mit mir schwanger war.“ | |
| Nach der Geburt brannte Mariettas Mutter mit einem amerikanischen Kapitän | |
| durch. Marietta blieb bei ihrem Vater auf Sankt Pauli – bis die Nazis im | |
| Mai 1944 auch die Chinesen in Hamburg angriffen. | |
| Weil er Schlimmes ahnte, drückte Chong die anderthalbjährige Marietta einem | |
| Zugschaffner in den Arm, der sie nach Heidelberg brachte. Dort wuchs sie | |
| auf, bei der Schwester von Chongs Geliebter. „Ich dachte, die wär’ meine | |
| Mutter“, sagt Marietta und schaut ins Leere. „Ich wusste nicht, was damals | |
| los war.“ | |
| ## Gefoltert und misshandelt | |
| Bei der sogenannten Chinesenaktion stürmten 1944 Polizei und Gestapo | |
| Dutzende Wohnungen und Geschäfte rund um die Schmuckstraße. Mariettas Vater | |
| und 128 weitere Chinesen wurden verhaftet – wegen Spionagevorwürfen und des | |
| unhaltbaren Verdachts, „antinationalsozialistische Versammlungen abgehalten | |
| zu haben“. Wie viele seiner Landsmänner wurde Chong von den Nazis | |
| enteignet, ins Arbeitslager gesteckt und dort misshandelt. | |
| Etwa ein Jahr verbrachte er in Gefangenschaft. Im Winter mussten die | |
| Häftlinge fast nackt vor ihren Baracken antreten. Sie wurden mit kaltem | |
| Wasser übergossen und mussten so lange stehen bleiben, bis die ersten von | |
| ihnen zusammenbrachen. Mindestens 17 Chinesen verloren ihr Leben. Jahre | |
| später berichtete eine Ohrenzeugin vor Gericht, wie Chong Tin Lam im | |
| Gefängnis Fuhlsbüttel von einem Gestapo-Mann geschlagen und gefoltert | |
| worden war. | |
| Marietta zupft jetzt rote Hütchen von den Tequilaflaschen. Eines wehrt | |
| sich. „Mach du mal, ich hab heute keine Kraft“, weist sie einen Gast mit | |
| Käppi an, der sein Holsten abstellt und gehorcht. Am Regal gegenüber pinnt | |
| ein vergilbter Zettel. „Instagram: hongkongbar_hamburg“ steht darauf. Die | |
| Enkelin hat das eingerichtet. „Man muss ja heute sichtbar sein“, meint | |
| Marietta, während der Tequila durch den Trichter stürzt. | |
| Nur ein kleines Schild, draußen neben der Eingangstür der Bar, verweist auf | |
| die Verfolgung der Hamburger Chinesen durch die Nazis. In den 1950er Jahren | |
| bekam Chong Tin Lam die Hong Kong Bar zurück. | |
| ## Keine Wiedergutmachung | |
| Mit 21 zog Marietta wieder nach Hamburg und half ihrem Vater mit der | |
| Kneipe. Gemeinsam kämpften sie um Wiedergutmachung, doch Chong gab bald | |
| auf. „Es war zu hart für ihn, zu demütigend“, sagt Marietta. Sie spricht | |
| schnell, als würden sich die Dinge dadurch schneller erledigen. Beim | |
| Wiedergutmachungsamt und vor Gericht wurden ihre Forderungen abgelehnt mit | |
| der Begründung, dass das Vorgehen der Gestapo eine „normale Polizeiaktion“ | |
| ohne rassistische Motive gewesen sei. | |
| Nach der Zeit im Lager hatte Chong Tin Lam kaum noch Worte übrig. Er wurde | |
| schweigsam. Nur selten erzählte er von dem Tag, als die ersten | |
| Fliegerbomben auf Hamburg fielen. Wie er die kleine Marietta auf dem Arm | |
| trug, die ganz erfreut war von den vielen bunten Lichtern am Himmel. Und | |
| wie Vater und Tochter der Zutritt zu den Luftschutzbunkern verwehrt wurde, | |
| weil sie keinen deutschen Pass hatten. | |
| Heute bewahrt Marietta Überbleibsel der Geschichte ihres Vaters in einer | |
| prall gefüllten Plastikmappe auf. Zeitungsartikel und abgegriffene | |
| Ausweisdokumente packt sie aus, wenn jemand sie danach fragt. Und Fotos: | |
| Ihr Vater im Nadelstreifenanzug vor einem festlich geschmückten | |
| Weihnachtsbaum, Marietta als Kind mit Schleife im Haar. Die kantonesische | |
| Großmutter, die sie nie getroffen hat. | |
| ## Essen für die Obdachlosen | |
| Marietta war nie in China. Seit 1983 ist sie eigentlich immer nur hier, auf | |
| Sankt Pauli, in der Hong Kong Bar. Obwohl sie 15 Angestellte hat, kommt sie | |
| jeden Tag her: erst zum „Mexikaner“-Mischen, später für die Abrechnung. S… | |
| wohnt über der Bar, nur an Weihnachten nimmt sie sich frei. Dann fährt sie | |
| nach Norwegen, ganz allein, und genießt das kalte Wetter. Wenn man sie | |
| fragt, ob sie sich als Hamburgerin, Deutsche oder Halbchinesin sieht, | |
| antwortet sie blitzschnell: „Ich bin Europäerin, ganz klar.“ | |
| Marietta schüttet den dickflüssigen Tomatensaft durch den Trichter. Die | |
| eben noch klare Mischung aus Korn, Wodka und Tequila verfärbt sich | |
| orangerot. Sie vermisse die alten Zeiten, sagt sie. „Es war gemütlicher. Im | |
| Kiez, im Haus, in der Bar.“ | |
| Früher hat sie Spaghetti für ihre Gäste gekocht, oder Chili con Carne, zum | |
| Aufwärmen für die Obdachlosen. Heute geht das nicht mehr, weil die Hong | |
| Kong Bar ein Raucherlokal ist und deshalb keine warmen Speisen anbieten | |
| darf. | |
| Marietta zuckt mit den Schultern und reiht die letzten sechs Flaschen vor | |
| sich auf. Wenn sie mal nicht mehr kann, soll ihre älteste Tochter das | |
| Geschäft übernehmen. „Die Bar soll auch Leute auffangen, die abseits vom | |
| normalen Leben stehen.“ | |
| ## Der Austausch hält sie klar im Kopf | |
| Marietta dreht die letzte Flasche abgefüllten Mexikaner auf den Kopf, um | |
| den Alkohol mit dem Tomatensaft zu vermischen. Sie ist erschöpft. „Ich | |
| brauch' was Süßes.“ Die Kollegin macht ihr eine kalte Cola auf. | |
| Alkohol trinkt die 76-Jährige kaum noch, geraucht hat sie nie – gepafft, | |
| nur manchmal, aus Langeweile, mit den Gästen. | |
| Sie arbeitet gern in der Bar, sagt sie, wegen der Menschen, mit denen sie | |
| sich austauschen kann. „Das hält mich wach und klar im Kopf. Und die Leute | |
| erzählen so viele Geschichten, schöne und traurige.“ Marietta packt | |
| zusammen, sie will ins Bett. Um 21 Uhr muss sie wieder hier sein – wie | |
| immer, für die Abrechnung. | |
| 24 Nov 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Lin Hierse | |
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