# taz.de -- Das Montagsinterview: "Nazis haben sein Leben zerstört" | |
> Marietta Solty ist die älteste Gastwirtin auf St. Pauli. Die Inhaberin | |
> des Hotels Hongkong über den Kampf ihres Vaters um Entschädigung für das | |
> Nazi-Unrecht. | |
Bild: Er nannte sie Schneeflocke: Marietta Solty mit dem Bild ihres Vaters, des… | |
taz: Frau Solty, wie sah das Chinesenviertel auf St. Pauli in den | |
Vierzigerjahren aus? | |
Marietta Solty: Ich erinnere mich an die Altbauten und den muffigen Geruch | |
in den Kellerwohnungen. Mein Vater Chong Tin Lam betrieb sein Restaurant | |
auf dem Hamburger Berg 14. Er wohnte um die Ecke in der Schmuckstraße. Dort | |
lebten auch viele andere Chinesen. In den Dreißigerjahren gab es auf St. | |
Pauli viele chinesische Tanzlokale, Kneipen, Läden, Restaurants und | |
Wäschereien. 1944 stürmte die Gestapo die Wohnungen und Läden und | |
verhaftete über hundert Chinesen. Danach war es vorbei mit dem | |
Chinesenviertel. | |
Wie war Ihr Vater nach Hamburg gekommen? | |
Er hatte auf einem Schiff angeheuert, um der Armut in seinem Heimatdorf in | |
Südchina zu entkommen. Sein Onkel in Hamburg hatte ihn eingeladen. Damals | |
war mein Vater 19 Jahre alt, aber schon verheiratet. Seine Frau blieb in | |
China. 1926 kam er nach Hamburg und half erst bei seinem Onkel aus. Bald | |
eröffnete er auf dem Hamburger Berg das Restaurant Hongkong. | |
War er damit erfolgreich? | |
Ja, sehr. Das Restaurant wurde bald zum Treffpunkt für chinesische Seeleute | |
und die Chinesen aus der Nachbarschaft. Aber auch die Hamburger kamen | |
gerne. Freddie Quinn war zum Beispiel manchmal da. Mein Vater bot richtig | |
chinesisches Essen mit Enten- und Hühnerfüßen und Ähnlichem an. Für die | |
Europäer gab es die abgemilderte Variante der chinesischen Küche. Und er | |
eröffnete das Hotel. Dort stiegen früher die Seeleute mit ihren Freundinnen | |
ab. | |
Ihr Vater sieht auf den Fotos sehr elegant aus. Was war er für ein Mensch? | |
Er trug meist einen Anzug mit Einstecktuch und kleidete auch mich fein ein. | |
Er nannte mich Tschi Fong, Schneeflocke. Im Viertel war er ein angesehener | |
Geschäftsmann. Glücksspiel und Opium duldete er nicht. Er war aber auch ein | |
lustiger und geselliger Mensch, der viele deutsche Freunde hatte. Mit | |
einigen anderen Restaurantbesitzern zog er regelmäßig durch St. Pauli. | |
Und Ihre Mutter? | |
Als ich noch ganz klein war, ist sie mit einem anderen Mann nach Amerika | |
gegangen. Als ich zehn war, stand sie plötzlich da und wollte mich mit nach | |
Amerika nehmen. Bis dahin hatte ich die Lebensgefährtin meines Vaters für | |
meine Mutter gehalten hatte. Das war ein Schock für mich. Aber ich bin | |
nicht mitgegangen. | |
Warum gab Ihr Vater Sie mit eineinhalb Jahren zu Pflegeeltern nach | |
Heidelberg? | |
Er sagte, auf dem Hamburger Berg mit all den Kneipen und Bars sollte kein | |
Kind aufwachsen. Er hat auch gespürt, dass die Repressionen durch die Nazis | |
größer und der Krieg schlimmer wurden und wollte mich in Sicherheit | |
bringen. Als ich ein Baby war, gab es ja schon Luftangriffe auf Hamburg. | |
Mein Vater lief mit mir zum nächsten Luftschutzbunker, wurde aber nicht | |
hineingelassen, weil er Chinese war. Als ich eineinhalb Jahre alt war | |
steckte er mich in den Zug nach Heidelberg und übergab mich dem Schaffner. | |
Ich hatte ein Schild um den Hals, auf dem mein Name und der Zielort | |
standen. In Heidelberg wurde ich von meiner Pflegetante abgeholt. Ich bin | |
aber regelmäßig zu meinem Vater zu Besuch gekommen und ging zeitweise in | |
der Seilerstraße zur Grundschule. | |
Warum wurde Ihr Vater 1944 von den Nazis verhaftet? | |
Die Chinesen galten als verdächtig, weil China Deutschland 1941 den Krieg | |
erklärt hatte. Die Nazis warfen meinem Vater vor, er habe gegen sie | |
konspiriert, was aber gar nicht stimmte. Er hat sich aber sehr für seine | |
Landsleute eingesetzt und ihnen auch geholfen, nach China zurückzukehren, | |
wenn sie das wollten. Irgendein Landsmann hat ihn dann verpfiffen. | |
Wie lief die sogenannte Chinesenaktion der Gestapo ab? | |
Polizei und Gestapo stürmten die Wohnungen, Läden und Restaurants der | |
Chinesen auf St. Pauli und verhafteten 129 Leute. Das geschah auf Anweisung | |
des Gestapo- und SS-Manns Erich Hanisch, der vorher in Polen schon viele | |
Grausamkeiten begangen hatte. Mein Vater wurde in Haft genommen und | |
gefoltert. Auch seine deutsche Lebensgefährtin Lina Donatius wurde | |
verhaftet und von Hanisch verhört. Später berichtete sie, dass er zu ihr | |
gesagt habe, das Kind, den Bastard, müsse man gegen die Wand werfen, dass | |
die Gedärme herauskommen. Damit hat er mich gemeint. | |
Was geschah mit Ihrem Vater nach der Verhaftung? | |
Er kam erst ins Untersuchungsgefängnis, dann über die Haftanstalt | |
Fuhlsbüttel ins Arbeitserziehungslager Kiel-Hassee. Kurz bevor die Briten | |
kamen, im April 1945, wurde er entlassen. Später erzählte er, dass er | |
geschlagen wurde, in der Kälte fast nackt stramm stehen musste und mit | |
Wasser übergossen wurde. Das muss fürchterlich gewesen sein. Etliche seiner | |
Landsleute sind in den Lagern gestorben. | |
Wie war Ihr Vater, als er nach dem Krieg aus dem Lager kam? | |
Er war ein gebrochener Mann, misstrauisch, wortkarg und zurückgezogen. | |
Gerade weil er die Deutschen eigentlich so mochte, müssen die | |
Erniedrigungen für ihn fürchterlich gewesen sein. Er hatte keine | |
Freundschaften mehr, auch nicht zu anderen Chinesen. Er wusste ja nicht, | |
wer ihn verraten hatte. Im Gegensatz zu den meisten Landsleuten, die das | |
Lager überlebt hatten, wollte er aber nicht nach China zurück. Er schickte | |
immer nur Geld an seine dort gebliebene Ehefrau. | |
Hat Ihr Vater nach dem Krieg für die Zerstörung seines Restaurants und die | |
Haftzeit eine Entschädigung bekommen? | |
Nein, das Wiedergutmachungsamt schrieb, die „Chinesenaktion“ sei ein | |
„gewöhnlicher polizeilicher Vorgang“ gewesen, deshalb bestehe kein Anspruch | |
auf Entschädigung. Das hat meinen Vater und später auch mich sehr empört. | |
Wann sind Sie nach Hamburg zurückgekommen? | |
Als ich zwanzig Jahre alt war, also 1962, rief mein Vater an, er sei krank | |
und ich solle das Geschäft übernehmen. Deshalb bin ich nach Hamburg gezogen | |
und habe ihm geholfen. Dann lernte ich meinen späteren Mann kennen, der war | |
Binnenschiffer. Mein Vater hatte aber für mich schon einen Chinesen | |
ausgesucht und wollte nicht, dass ich den Deutschen heirate. Ich habe es | |
trotzdem getan, bin mit ihm aufs Schiff gegangen und habe später zwei | |
Kinder bekommen. | |
Wie wurden Sie dann zur Wirtin der Hongkong-Bar? | |
1981 rief mein Vater an, dass es mit ihm zu Ende gehe. Ich hatte mich | |
gerade scheiden lassen und kam mit meinen beiden Kindern nach Hamburg. Er | |
zeigte mir, wie man das Geschäft führt. Als er 1983 starb, übernahm ich | |
Hotel und Bar. Das war am Anfang sehr schwierig für mich. Als Frau, ohne | |
Mann an der Seite und mit zwei Kindern. Als er starb, rief ich auch bei | |
seiner Ehefrau in China an und lud sie zur Beerdigung ein. Es kam zu | |
komplizierten Erbstreitereien, das ging alles nach chinesischem Erbrecht, | |
weil er kein deutscher Staatsbürger war. | |
Was haben Sie an der Gaststätte verändert? | |
Ich habe das Restaurant zur Bar umgebaut und die Zwischenwände | |
herausgemacht. Erst danach habe ich erfahren, dass mein Vater die eingebaut | |
hatte, damit sich die bösen Geister darin verfangen. Die Figur des | |
Hausgottes unserer Familie habe ich natürlich stehen gelassen und auch das | |
Wandbild des St.-Pauli-Malers Erwin Ross ist noch da. Es stellt das | |
Heimatdorf meines Vaters dar. Die Bar ist sowohl bei meinen Stammgästen als | |
auch beim jüngeren Publikum beliebt. Auch die St.-Pauli-Fans feiern bei | |
mir. Der Hamburger Berg ist ja inzwischen ein sehr begehrter Ort geworden. | |
Seit Jahren kämpfen Sie dafür, dass in Hamburg der chinesischen Opfer der | |
Verfolgung durch die Nazis gedacht wird. Hatten Sie damit Erfolg? | |
Es gibt die Erinnerungstafel vor dem Hotel Hongkong, aber es gibt leider | |
immer noch keinen Stolperstein in der Schmuckstraße für die Chinesen, die | |
in den Lagern umgekommen sind. Das ist schade, denn viele Deutsche wissen | |
nicht, dass auch Chinesen verfolgt wurden. 2010 wurde der Film „Fremde | |
Heimat“ über das Hotel Hongkong und die Geschichte meines Vaters gedreht, | |
der auch auf der Expo in Shanghai gezeigt wurde. | |
Was bedeutet die „Eurasische Figur“ des Künstlers Ulf Ludzuweit, die Sie | |
zum Gedenken an Ihren Vater in Ihrer Bar aufgestellt haben? | |
Sie stellt einen Wanderer zwischen den Welten dar und symbolisiert den | |
Spagat zwischen Europa und Asien. Mein Vater war ein Mann, der seinen | |
Ursprung nie verleugnete, aber gerne Hamburger war. Er wollte nichts weiter | |
sein, als ein ehrlicher Chinese in Deutschland, aber die Nazis haben sein | |
Leben zerstört. | |
23 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
Tina Stadlmayer | |
## TAGS | |
NS-Opfer | |
China | |
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