# taz.de -- Kneipen und Alkoholverbot auf St. Pauli: Vor der Sperrstunde | |
> Die Stimmung auf St. Pauli ist am Boden. Die Bars dürfen wieder öffnen, | |
> aber die Auflagen erlauben ihnen kein gutes Geschäft. Eine Tour über den | |
> Kiez. | |
Bild: Nach sieben Monaten Lockdown gibt es einiges zu besprechen am Tresen der … | |
Hamburg taz | Mittwochabend, 21.30 Uhr: Wie viele Kneipen schafft man noch | |
bis zur Sperrstunde? Schnell die mitgebrachte Bierflasche ausgetrunken und | |
an den Bordstein gestellt – aber Moment, Bier auf der Straße trinken? Das | |
darf man auf St. Pauli gar nicht mehr. Seit Montag gilt ein | |
Alkoholkonsumverbot auf der Reeperbahn und in den umliegenden Parks, | |
Straßen und auf den Plätzen. Wochentags ist der Verzehr alkoholischer | |
Getränke ab 14 Uhr, am Wochenende ganztägig verboten. Dann bleiben also nur | |
die Kneipen, und die müssten sich eigentlich freuen. | |
„Ich find’s bekloppt“, sagt Carmen Rose, die seit 30 Jahren in der | |
„Holstenschwemme“ hinter dem Tresen steht. Dass die Gefahr, sich zu | |
infizieren, draußen geringer ist, sei schließlich bekannt. „Die Leute auf | |
der Straße werden malträtiert“, findet sie. Am vergangenen Wochenende | |
wieder Gäste zu empfangen, sei komisch gewesen, [1][nach sieben Monaten | |
hätten sich alle erst mal wieder an die Kneipe gewöhnen müssen]. „Viele | |
sind noch vorsichtig und trauen sich gar nicht“, sagt Rose. | |
Gäste müssen einen negativen Coronatest nachweisen und sich über die | |
Luca-App registrieren. Dabei haben viele Ältere gar kein Smartphone, was | |
auch den digitalen Testnachweis erschwert. Zur Not geht auch ein direkt bei | |
Rose erworbener Corona-Selbsttest. | |
Gerade mal fünf Personen haben sich an diesem Abend in ihrer Stammkneipe | |
eingefunden. Etwas Rauch steht in der Luft, die Jukebox schweigt. Im | |
Nachbarraum hört man leise die Billardkugeln klackern, zwei Gäste spielen | |
eine Partie. Die drei Männer am Tresen unterhalten sich mit Carmen Rose. | |
„Nö, vermisst hab’ ich das hier eigentlich gar nicht“, sagt einer von ih… | |
und lacht laut. Blöde Frage. Natürlich haben alle das hier vermisst. Auf | |
einem gemütlichen Hocker am Tresen sitzen, an den Wänden alte Schiffstaue, | |
Fischernetze und Messgeräte aus Messing und das Bier immer kalt, immer | |
frisch. Dazu ein bisschen Rauch in die Luft blasen, ein bisschen Blödsinn | |
quatschen – herrlich. | |
## „Man weiß: Wenn ich Durst kriege, könnte ich hingehen“ | |
„Man muss ja bei dem Wetter nicht in die Kneipe rennen“, sagt Rose und | |
wischt mit einem Lappen über ein Stück Tresen. „Aber man weiß: [2][Wenn ich | |
Durst kriege, könnte ich hingehen.]“ Darauf ein frisches Holsten. Einer von | |
den Billardspielern hat jetzt zwei Euro in die Jukebox geschmissen, | |
daraufhin singt Enrique Iglesias „Taking back my love“ und es wird Zeit, | |
weiterzuziehen. | |
In der nächsten Kneipe läuft es nicht so unkompliziert. „Eintritt nur mit | |
aktuellem Negativtest“, gilt natürlich auch im „Piccadilly“, der ältest… | |
Schwulenbar Hamburgs. Aber der selbstgemachte Teststreifen aus der | |
Holstenschwemme wird nicht akzeptiert. Das ist nachvollziehbar, schließlich | |
sitzt man in dem plüschigen Raum, dessen Wände mit einer Sammlung von | |
Hunderten Whiskykrügen dekoriert sind, Schulter an Schulter. „Tut mir leid, | |
Schatz“, sagt der Kellner Olaf C. „Da kann ich leider keine Ausnahme | |
machen.“ Richtig so, aber wenn ich schon daran scheitere, mir nachmittags | |
einen Testtermin zu buchen, um abends nicht mehr ganz so spontan in die | |
Kneipe zu gehen, wie geht es dann erst älteren oder verpeilteren Menschen? | |
Gut dran sind die Kneipen, die einen Außenbereich haben. Für sie gilt auch | |
die Sperrstunde nicht – außer in Hotspots. Die Reeperbahn ist eigentlich | |
ein Hotspot, das Konsumverbot im öffentlichen Raum gilt dort selbstredend. | |
Aber der Spielbudenplatz, das Zentrum des Ausgehviertels, ist schon lange | |
kein öffentlicher Raum mehr. Seit 2006 betreibt eine private Gesellschaft | |
aus anliegenden Kiezunternehmer*innen die Fläche in | |
öffentlich-privater Partnerschaft. | |
Der „Großstadtdorfplatz“ wird in der Regel nicht von St. | |
Paulianer*innen angesteuert, eher von Tourist*innen oder | |
Besucher*innen aus der Peripherie. Aber dort gibt es Platz, Liegestühle | |
und Fassbier, und man braucht keinen Test. Von der zweieinhalb Millionen | |
Euro teuren, gigantischen Fassade des „Klubhaus“ strahlt hektisch eine | |
Astra-Werbung aus Hunderttausenden LED-Lampen herüber. Wie penetrant darf | |
Außenwerbung sein? | |
„Die Regelung mit der Sperrstunde für die Innengastronomie hat einen Keil | |
in die Kneipenszene getrieben“, ärgert sich Dominik Großefeld. Der Wirt der | |
urigen Kneipe „Silbersack“ ist Vorsitzender des Barkombinats, in dem sich | |
Hunderte Bars und Kneipen zusammengeschlossen haben, um in der Pandemie | |
ihre Interessen gegenüber dem Senat stark zu machen. | |
Der „Silbersack“, eröffnet 1949 und seitdem nahezu unverändert, was die | |
Innenausstattung angeht, ist noch geschlossen. Wenn er öffnen würde, wäre | |
das ein fettes Minusgeschäft, erklärt Großefeld. Tagsüber kommen zu wenig | |
Leute und die Zeit am Abend ist zu kurz, der Raum mit den Abstandsregeln zu | |
klein, um wirtschaftlich arbeiten zu können. Tische kann er nicht auf die | |
Straße stellen, seine Kneipe liegt an einer viel zu engen Einbahnstraße. So | |
geht es vielen Läden auf | |
St. Pauli. Zudem ist das Personal zum Teil noch nicht geimpft und sich für | |
eine mickrige Fünf-Stunden-Schicht hinter den Tresen zu stellen, ist | |
maximal unattraktiv. „Die Regelung, so wie sie jetzt ist, ist ein Angriff | |
auf die kleinen Läden“, sagt Großefeld. | |
Auch das Alkoholverbot auf den Straßen hält er für nicht zielführend. „Es | |
schürt eher das Aggressionspotenzial bei den Menschen, die eigentlich | |
gewillt sind, sich an die Maßnahmen zu halten, aber jetzt nicht mehr mit | |
einem Bier in der Hand durch die Straßen schlendern können“, sagt er. Da, | |
wo es Problemlagen gebe, wie etwa bei dem Rave im Florapark, weswegen jetzt | |
die flächendeckenden Konsumverbote gelten, kann die Polizei ja ohnehin | |
immer einschreiten, aufgrund der Kontaktverbote. | |
Klar, wenn Alkohol auf der Straße generell verboten ist, hat die Polizei es | |
von vornherein einfacher. „Aber muss ich mir das Trinken verbieten lassen, | |
um der Polizei die Arbeit zu erleichtern?“, fragt Großefeld. „Ich glaube | |
nicht.“ Obgleich der Inzidenzwert in Hamburg bei mickrigen 18 liegt, gelten | |
so scharfe Maßnahmen, dass es der halben Kneipenbranche unmöglich ist, | |
kostendeckend zu arbeiten. „Da fragt man sich: Wo hört Pandemiebekämpfung | |
auf und wo fängt Berufsverbot an?“, fragt der Wirt. | |
Die Stimmung auf dem Kiez, sie ist ziemlich am Boden. Nicht mal die Läden | |
mit viel Außenfläche strahlen Feierlaune aus. Auf der großen Freiheit ist | |
es ja immer etwas deprimierend, aber während sich in normalen Zeiten | |
testosterongesteuerte Menschenmassen durch die Straße schieben, hatte sie | |
im Lockdown ihre ganz eigene, leere Tristesse. Jetzt haben gerade mal zwei | |
Läden geöffnet: das ehemals legendäre „Livesextheater“, inzwischen | |
verkommen zum bayerischen Bierdorf mit hohen Tischen und chronisch | |
unglücklich aussehenden Gästen in Karohemden und Caprihosen; und das urige | |
„Gretel & Alfons“ direkt gegenüber, das auch nicht gerade Lebensfreude | |
ausstrahlt. Ein paar Grüppchen von drei, vier Leuten sitzen an den Tischen | |
und schlürfen Longdrinks aus XXL-Gläsern. | |
Der letzte Bummel über die Reeperbahn kurz vor der Sperrstunde kann die | |
Stimmung auch nicht heben. Vor dem Klub mit dem schnörkellosen Namen „Wodka | |
Bombe 4 Euro“ herrscht großer Andrang, alle Tische im Außenbereich sind | |
besetzt. Was soll man sagen, die Leute wollen saufen. | |
Immerhin: In der „Holstenschwemme“, die pünktlich um 23 Uhr geschlossen | |
hat, war es schön. Auch wenn die Wirtin Rosi Samac nicht gerade gute Laune | |
bekommt, wenn sie sich die Umsätze der vergangenen Tage anguckt. „Hör mir | |
auf du“, sagt sie später am Telefon. Und jede Woche eine neue Regelung, wer | |
soll da noch hinterherkommen. „Vielleicht bin ich auch zu alt dafür“, sagt | |
Samac, die 73 ist. „Aber die Gäste verstehen es ja auch nicht. Sperrstunde | |
hier, aber dort nicht, Alkoholverbot hier, Testpflicht da, das ist doch | |
Blödsinn.“ | |
Natürlich habe sie sich [3][gefreut, wieder öffnen zu können], die Gäste zu | |
begrüßen, man hat sich ja lange nicht gesehen. Aber das ganze Hin und Her | |
an Bestimmungen treibe die Leute in den Wahnsinn, Gäste wie Wirte. Am | |
schlimmsten treffe es die kleinen Läden, die nichts zur Seite legen konnten | |
für diese verrückten Zeiten. | |
Jetzt müsse man erst Mal sehen, wie es weitergehe, sagt Samac, und zwar | |
jeden Tag aufs Neue. Recht hat sie, und eine Gewissheit gibt es ja | |
immerhin, und das ist doch irgendwie beruhigend: Man muss nicht in die | |
Kneipe rennen. Aber wenn ich Durst habe, kann ich wieder hingehen. | |
13 Jun 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Kneipen-auf-St-Pauli-wieder-geoeffnet/!5682330 | |
[2] /Interview-mit-Hamburger-Kiez-Wirtin/!5707764 | |
[3] /Wirtin-ueber-ihr-Kneipenleben/!5749475 | |
## AUTOREN | |
Katharina Schipkowski | |
## TAGS | |
Gastronomie | |
St. Pauli | |
Alkoholverbot | |
Queer | |
Wohnungsbau | |
Gastronomie | |
St. Pauli | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
China | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Nachtleben in Berlin: Liebeskummer im „Ficken3000“ | |
Unser Autor war vor dem Lockdown regelmäßiger Besucher in Berlins bekannter | |
Schwulenbar. Eine Rückkehr nun lenkt ihn ab von zu viel Grübelei. | |
Wohnungsbau statt Kneipe in Hamburg: Pub wird trockengelegt | |
Nach 39 Jahren ist für den Irish Pub „Shamrock“ im Karolinenviertel | |
Schluss. Die Betreiberin fühlt sich vom Investor getäuscht. | |
Gastronomie und Corona: Weder Koch noch Kellner | |
Gastronomen klagen, ihnen sei in der Pandemie das Personal abhanden | |
gekommen. Selbst schuld, sagt die Gewerkschaft. | |
Interview mit Hamburger Kiez-Wirtin: „Ich vermiss' die alten Zeiten nicht“ | |
Rosi McGinnity arbeitet seit 60 Jahren auf St. Pauli. Dabei hat sie die | |
goldenen und die dunklen Jahrzehnte miterlebt – und kennt alle Gangster von | |
Rang. | |
Hamburg und das Virus: Alle Schotten dicht | |
St. Pauli besteht eigentlich aus dem, was jetzt alles nicht mehr sein darf. | |
Die Schriftstellerin Simone Buchholz über ihren Kiez in Zeiten von Corona. | |
Hamburgs vergessenes „Chinesenviertel“: Roter Schnaps und Chongs Geschichte | |
Marietta Solty ist die älteste Wirtin auf St. Pauli. Ihre Hong Kong Bar | |
erinnert an die einstige „Chinatown“ – und an ein NS-Verbrechen. |