| # taz.de -- Nachtleben in Berlin: Liebeskummer im „Ficken3000“ | |
| > Unser Autor war vor dem Lockdown regelmäßiger Besucher in Berlins | |
| > bekannter Schwulenbar. Eine Rückkehr nun lenkt ihn ab von zu viel | |
| > Grübelei. | |
| Bild: Das „Ficken3000“ mitten im Lockdown, Februar 2021 | |
| Auf dem Tisch liegen Kondome verstreut wie Konfetti, sonst ist alles wie | |
| immer. Es ist Freitag, der 16. Juli und Berlins Schwulenbars haben endlich | |
| wieder geöffnet. Die legendärste unter ihnen, [1][das Ficken3000, zwischen | |
| Kreuzberg und Neukölln], feiert das mit einer Party. Ich bin einer der | |
| ersten Gäste. | |
| „Aron!“, Frank, der Besitzer kommt auf mich zu. „Wir haben schon die ganze | |
| Zeit gerätselt – so ’n hübscher Mann, der ist nichts für die Frauenwelt.… | |
| Das ist der erste Satz, nach über neun Monaten Funkstille. So oder so | |
| ähnlich hat er mich schon immer begrüßt. Ich aber erzähle ihm heute von | |
| Karina. | |
| Seit Tagen schrecke ich jeden Morgen um sechs Uhr hoch, mit diesem | |
| Speed-Gefühl in der Brust, das immer ein wenig auf der Grenze zwischen | |
| Freude und Herzinfarkt balanciert. Dieser Liebeskummer hält mich wach, und | |
| so habe ich viel zu viel Zeit zum Grübeln. Dass das [2][Ficken3000 heute | |
| endlich wieder seine Türen öffnet], ist die perfekte Gelegenheit, dem | |
| entgegenzuwirken. | |
| Aber Frank hört mir nicht zu. Er muss ein paar Personen, die „leider keinen | |
| Akku haben“, um ihr Corona-Testergebnis zu zeigen, abweisen. Ich sehe mich | |
| um. Die ersten Gäste drängen durch die Tür. Die Bildschirme an den Wänden | |
| zeigen zu 80er-Jahre-Hits Schwulenpornos in Schwarz-Weiß. Sie gehören zum | |
| Grundinventar des Ladens, wie das riesige Ficken3000-Logo hinter der Bar. | |
| Heute ist es mit Girlanden überhängt. | |
| Wer hier reinkommt, soll sich sicher und anonym fühlen. Deswegen gilt im | |
| Ficken3000: Namen sind Schall und Rauch. Ausgenommen ist nur das Personal. | |
| Und Stefan und Marius, Stammgäste, die hin und wieder aushelfen. Während | |
| des Lockdowns seien sie immer wieder auf der Straße angesprochen worden, | |
| sagen die beiden. Ungeduldige Gäste hätten gefragt, wann der Laden endlich | |
| wieder aufmacht. | |
| Die Freude, dass sie diese Frage nicht mehr mit unwissenden Sätzen | |
| beantworten müssen, steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Stefan und Marius | |
| blicken sich vergnügt um. Der Raum füllt sich immer schneller. | |
| Dean, der heute hinter der Bar steht, serviert die Drinks überschwänglich. | |
| Die Flensburger-Flaschen öffnet er mit einem lauten „Plopp“, bevor er sie | |
| mit einem lauten „Bitte schön!“ über den Tresen reicht. Früher war Dean … | |
| Physiotherapeut. | |
| ## Nicht jeder Liebeskummer ist gleich | |
| Das Ficken3000 sei vor gut 20 Jahren eine Art Heimat für ihn geworden, erst | |
| hier erfuhr er die nötige Unterstützung, um sich zu outen. Darum habe er | |
| vor 19 Jahren angefangen, hier zu arbeiten. Heute ist er Barkeeper und | |
| routinierter Zuhörer. Als ich ihm mein Liebesleid klage, fällt seine | |
| Reaktion aber eher knapp aus. „Du bist ’ne Hete?“, fragt er gespielt | |
| entrüstet. Ach ja, ich bin nicht schwul. Glaube ich. Aber ich gehe auch | |
| nicht ins Ficken3000, um mich mit dieser Frage zu beschäftigen. Stefan und | |
| Marius prosten mir zu. | |
| Laut Stefan gebe es bei Liebesproblemen kaum Unterschiede zwischen Schwulen | |
| und nicht Schwulen. Nur irgendwann, als ich schon gut dreißig Minuten von | |
| Karina erzähle und nicht den Eindruck mache, damit aufzuhören, sagt er: | |
| „Okay, klingt jetzt doch langsam nach ’nem Hetenproblem.“ | |
| Gedankenstopp, endlich. Dean klatscht in die Hände. „Jetzt wird’s richtig | |
| bumsvoll“, raunt er. Es stimmt. Abgesehen von „Schön, dich wiederzusehen“ | |
| fällt am Tresen kein Satz so häufig wie „Endlich geht’s wieder los“. | |
| Gemeint ist der Darkroom. Historisch gesehen war der Darkroom für die | |
| Schwulenbewegung ähnlich wichtig wie Sexkinos, Cruising Areas und Saunen. | |
| Wer will, kann hier schnellen und unverbindlichen Sex haben. Nicht erst mit | |
| der Pandemie hat sich schwules Dating ins Digitale verschoben. Apps wie | |
| Grindr, die es seit 2009 gibt, bieten unkomplizierte Sexdates, ohne vorher | |
| auf die Suche gehen zu müssen. | |
| Aber sind die in der Lage, den Darkroom abzulösen? „Auf keinen Fall“, sagen | |
| Stefan und Marius, nichts könne den Darkroom ersetzen. Dass ich während | |
| meiner Besuche noch nie dort runterging war noch nie für irgendjemanden ein | |
| Problem. Auch nicht, dass ich nicht schwul bin. Etwas, das nicht | |
| selbstverständlich ist für eine Schwulenbar. | |
| Im Ficken3000 herrscht seit seiner Gründung 1998 ein Selbstverständnis, das | |
| Dean so zusammenfasst: „Heten können kommen, Frauen können kommen. | |
| Scheißegal, Hauptsache sie kommen.“ Damit sei das Ficken3000 an den Start | |
| gegangen und war damit seinerzeit „die Number One.“ | |
| Irgendwann ist da tatsächlich „die erste Frau des Abends“. Und ich | |
| wünschte, ich hätte diesen Satz niemals gesagt. „Ich bin keine Frau! Ich | |
| definiere mich als Mann“, sagt die von mir falsch gelesene Person. | |
| „Entschuldigung. Das tut mir wahnsinnig leid.“ Schweigen. „Und wie heißt… | |
| und worauf freust du dich heute?“, frage ich verunsichert. „Alter … ich b… | |
| hier für das Anonyme, okay?“ Seine Begleitung gibt mir den Tipp, das | |
| nächste Mal erst nach dem bevorzugten Pronomen zu fragen, bevor ich | |
| jemanden einordne. Ich verstehe und will weiter ins Gespräch kommen. Aber | |
| die Begleitung macht mir klar, dass das eine ziemlich dumme Idee ist. Ich | |
| müsse das jetzt aushalten. | |
| Ich muss wieder an Karina denken – und ganz schnell etwas trinken. Düstere | |
| Gedanken sind im Ficken3000 nicht gern gesehen. Schweben sie in der | |
| Atmosphäre, werden sie von den schrill-bunten Lichtreflexionen gepackt, in | |
| den Mittelpunkt des Raumes gezerrt und zum Tanzen aufgefordert. | |
| Je weiter sie den Winkel ihrer angelegten Arme zuspitzen, desto mehr wirkt | |
| es, als würden sie so zu Gloria Gaynors „I will survive“ nicht nur tanzen, | |
| sondern eine regelrechte transzendente Verbindung herstellen können. Sie | |
| schließen ihre Augen, manch einer wirft seinen Kopf in den Nacken, hin und | |
| wieder ertönt ein baritonales „Wohoo“ über dem Discosound; und allmählich | |
| kämpft sich ein Lächeln in mein Gesicht. | |
| Kurz darauf tippt mir ein Typ auf die Schulter. „Kannst du dir nicht | |
| vorstellen, dass das ’n bisschen komisch ist, wenn hier ’ne Hete sitzt und | |
| uns Fragen stellt?“, fragt er mit ernstem Blick. Erneutes Entschuldigen. Es | |
| hat keinen Zweck. Der Typ dreht mir den Rücken zu. Vielleicht sollte ich | |
| einfach gehen. Aber Frank schüttelt streng den Kopf. | |
| ## Bin ich als Hete ein Störfaktor? | |
| „Wir kennen den. Und so wie der Typ eben denkt hier niemand“, sagt Marius. | |
| Stefan klopft mir auf die Schulter: „Aron, du bist hier gern gesehen, nur | |
| der Typ ist nicht ganz dicht.“ Frank formuliert es noch pragmatischer: „Der | |
| will dich einfach ficken.“ | |
| Ist es aber nicht wirklich daneben, mit meinen „Hetenproblemen“ in eine | |
| Schwulenbar zu gehen, um der Realität zu entfliehen und dort tapsig die | |
| [3][Community] zu belästigen? Wie oft wurde der Mann, den ich gerade | |
| misgendert habe, schon von irgendwelchen Prolls als Frau angesprochen? Bin | |
| ich hier nicht ein Störfaktor an diesem Sehnsuchtsort, der viel zu lange | |
| geschlossen war? | |
| Stefan und Marius geben mir durch Augenrollen und eine Runde Getränke zu | |
| verstehen, dass ich jetzt endlich aufhören soll zu grübeln. Wir gehen in | |
| die Lounge im Darkroom, um uns weiter zu unterhalten. Hier klingt die Musik | |
| weniger blechern. | |
| Was im Darkroom passiert, bleibt im Darkroom: „Das ist der springende | |
| Punkt“, sagt die männliche Begleitung von vorhin. Ich könne mir gar nicht | |
| vorstellen, wie großartig es sei, dass Orte wie dieser existieren. Orte der | |
| Freiheit und der Sicherheit, ohne Namen und ohne große Erklärungen. Das | |
| ließe sich nur durch Erfahrung nachvollziehen, nicht durch Fragen. Ich | |
| nicke. Als ich ihn frage, ob wir uns küssen, fragt er mich, wie er mich | |
| nennen dürfe. Wir einigen uns auf „Ronny“ in der amerikanischen Aussprache. | |
| Der Kuss ist gut. | |
| Am nächsten Tag weckt mich wie gewohnt ein Adrenalinschub. Ich denke an | |
| Karina, aber auch an das Parfum des Typen von gestern, das noch immer an | |
| meiner Kleidung haftet. Ich beschließe, auch diesen Abend im Ficken3000 zu | |
| verbringen. Als ich mich durch die Menge dränge, ist die Tanzfläche schon | |
| gut gefüllt. Verständlich: Es läuft Britney Spears. Es herrscht weniger | |
| Aufregung als gestern, sonst hat sich die Stimmung kaum verändert. Aber wo | |
| ist die männliche Begleitung von gestern? | |
| „Der Idiot, der meinte, du würdest hier stören?“, fragt Frank. „Als du | |
| gestern gegangen bist, haben wir dem klargemacht, dass er in meinem Laden | |
| die Schnauze zu halten hat.“ – „Nein, den meine ich nicht, sondern … ä… | |
| den anderen.“ Ich kann mich kaum noch an sein Äußeres erinnern, außerdem | |
| wird mir klar, dass ich nicht nach seinem Namen, nicht einmal nach einem | |
| Pseudonym gefragt habe. | |
| 27 Jul 2021 | |
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| [1] /Der-Wandel-des-Darkrooms/!5140703 | |
| [2] https://www.youtube.com/watch?v=dPuRrq5MbGs | |
| [3] /Nichts-zu-feiern-im-Pride-Month/!5779497 | |
| ## AUTOREN | |
| Aron Boks | |
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