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# taz.de -- Kommentar Merkels Vorsitz-Verzicht: Die Kanzlerin, die nichts wollte
> Merkel lässt ein erodierendes Europa und ein sozial gespaltenes
> Deutschland zurück. Jetzt müssen die vernachlässigten Konflikte auf den
> Tisch.
Bild: Don't look back in anger: Unter Merkel wurde soziale Ungerechtigkeit zu l…
Man kann Angela Merkels Kanzlerschaft nicht als gescheitert betrachten.
Denn zum Scheitern gehören Ziele. Und die hatte Angela Merkel eigentlich
nie. Stets ging es nur darum, den Laden irgendwie am Laufen zu halten.
Nicht einmal [1][im Moment ihres Rücktritts] ließ die CDU-Politikerin so
etwas wie Ansporn erkennen, als ein Journalist sie fragte, was sie denn
noch bis zum Ende ihrer Kanzlerschaft erreichen wolle. Mehr als ein
gelangweiltes Lippenbekenntnis zum ohnehin ambitionslosen Koalitionsvertrag
gab Merkel nicht. Damit ist klar, dass auch in der Endphase ihrer
Regierungszeit nichts Revolutionäres mehr zu erwarten ist.
Das ist [2][typisch für Angela Merkel]. Stets fuhr die angezählte
Bundeskanzlerin auf Sicht. Und die klaren Entscheidungen, die sie traf,
waren häufig falsch. Beispiel Eurokrise: Während Merkel nach Ausbruch der
Finanzkrise ab 2008 die deutschen Autobauer mit der Abwrackprämie über
Wasser hielt, zwang sie dem Rest Europas während der nachfolgenden
Eurokrise einen Sparkurs auf. [3][Vor allem Griechenland] wurde [4][in den
Ruin getrieben], das Land ist wegen der von Berlin vorangetriebenen
Austeritätspolitik auf Generationen zurückgeworfen. Merkel interessierte
das nicht. Einen Schuldenschnitt lehnte sie stets ab und ließ den
EU-Partner mit Verweis auf die gemeinsamen „Regeln“ in die Rezession
abgleiten.
Während sich der Rest der Eurozone auch wegen des deutschen Lohndumpings
und des hiesigen Exportfetischismus verschuldete, profitierte Berlin von
Niedrigzinsen. Die schwarze Null finanzierte sich quasi von selbst. Anstatt
die Demokratisierung und die soziale Ausgestaltung des Euroraums
voranzutreiben, verstärkte Merkel die Ungleichgewichte, die ihren Teil zum
Aufstieg des Rechtspopulismus auf dem Kontinent beigetragen haben.
Die ach so wichtigen Regeln spielten aber beim Dieselskandal nur eine
untergeordnete Rolle. Die Unternehmen wurden geschont. Nicht nur, dass die
Klimakanzlerin in Brüssel seit Jahren niedrigere CO2-Grenzwerte für
Kraftfahrzeuge verhindert. Nun will sie [5][auch noch Kommunen erschweren],
Fahrverbote zu erlassen. Den Atomausstieg machte Merkel erst teilweise
rückgängig, um dann nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima den erneuten
Ausstieg zu verkünden.
## Eher Pragmatismus als humanistisches Anliegen
Die immer vulgärer werdende Ungleichheit in Deutschland war Merkel eher
egal. Die soziale Kahlschlagpolitik ihres Vorgängers Gerhard Schröder im
Rahmen der Agenda 2010 lobte die Kanzlerin als „großartige
Erfolgsgeschichte“. In ihrer Neujahrsansprache bejubelte Merkel noch die
„soziale Marktwirtschaft“, obwohl die sich für Menschen im
Niedriglohnsektor, Minijobber und Leiharbeiter eher asozial anfühlt.
Als großer Erfolg Merkels wird bis hin ins linke Lager die
Flüchtlingspolitik gelobt. Die Aufnahme Hunderttausender Flüchtlinge im
Herbst 2015 gilt als großer humanitärer Akt. Die Aktion dürfte allerdings
eher Teil ihres typischen Pragmatismus gewesen sein als Ausdruck eines
humanistischen Anliegens. Es war, wie Merkel sagen würde, „alternativlos“.
Noch wenige Monate zuvor hatte die Kanzlerin einem geflüchteten Kind aus
dem Libanon erklärt, man könne nicht alle aufnehmen. Dass viele Migranten
unbedingt nach Deutschland wollen, dürfte übrigens auch daran liegen, dass
die Bundesrepublik durch die Interessenpolitik Merkels eine der wenigen
verbliebenen Wohlstandsinseln in der EU ist.
Bleibt die Frage, warum die Kanzlerin in weiten Teilen des Bürgertums –
links wie rechts – so beliebt ist. Vom flüchtlingsfreundlichen
Linksmerkelianer bis zum Millionär, der sich freut, dass er unter der
aktuellen Regierung kaum mehr Steuern wird zahlen müssen: Alle lieben die
Kanzlerin.
Merkels Popularität ist Ausdruck einer müden Konsensgesellschaft. Die
unteren 30 Prozent des Landes hat man ohnehin abgeschrieben. Auf politische
Verteilungskämpfe hat [6][jenseits von emanzipatorischen
Anerkennungsfragen] auch keiner mehr Lust. Merkel ist die Kanzlerin jener,
die glauben, die Welt sei im Großen und Ganzen in Ordnung und man müsse nur
an ein paar Schräubchen drehen und schon sei das Paradies auf Erden
erreicht.
## Reiche müssen sich endlich am Gemeinwohl beteiligen
Die Realität sieht anders aus. Merkel lässt ein erodierendes Europa und ein
sozial gespaltenes Deutschland zurück. Eigentlich muss man für ihren
Rücktritt dankbar sein. Mit dem Abgang der Konsenskanzlerin könnten nun
endlich all die gesellschaftlichen Konflikte diskutiert werden, die unter
der Großen Gesellschaftlichen Koalition unter den Tisch gekehrt wurden.
Man könnte darüber reden, wie eine Eurozone so gestaltet werden kann, dass
nicht hauptsächlich Deutschland von ihr profitiert. Wie wir einen
Sozialstaat wiederherstellen können, der diesen Namen verdient. Und wie man
Reiche in Deutschland und Unternehmen in Europa dazu zwingen kann, sich
angemessen an der Finanzierung des Gemeinwohls zu beteiligen. Die Zeit des
faulen Konsenses ist vorbei.
30 Oct 2018
## LINKS
[1] /Merkels-geplanter-Ausstieg-aus-der-Politik/!5543717
[2] /Kommentar-Angela-Merkels-Ausstieg/!5543633
[3] /Kommentar-Steinmeier-in-Griechenland/!5542527
[4] /Kommentar-EU-und-Griechenland/!5525660
[5] /Kommentar-Stickoxid-Grenzwerte/!5541107
[6] /meTwo-Debatte/!5524188
## AUTOREN
Jörg Wimalasena
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